Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 27.04.2010

Untertitel: "Deutschland in Europa eine Standortbestimmung" -Rede von Bundesaußenminister Guido Westerwelle an der Universität Bonn
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Fuhrmann,liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2010/100427-BM-D-in-Europa.html


ich möchte mich zunächst einmal sehr herzlich dafür bedanken, dass ich hier an meiner eigenen Alma Mater, meiner Universität sprechen kann. Dass ich die Gelegenheit habe, nach zwei Jahrzehnten hier in diesem Hörsaal einen Vortrag zu halten zur Europapolitik, freut mich sehr, das ist ist keine Selbstverständlichkeit.

An Europa kann man besonders gut ablesen, dass zwei Jahrzehnte eine sehr lange Zeit sind. Und zwar nicht nur in einem persönlichen Menschenleben, sondern auch, wenn man an die politischen Entwicklungen unseres Landes und unseres Kontinents denkt.

Meine Damen und Herren vor zwanzig Jahren hatte die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft, so hieß sie damals noch, gerade mal neun Mitglieder. Unser Kontinent, unser eigenes Land waren geteilt. Millionen von Europäern wurde das Recht zur freien Selbstbestimmung und zur freien Rede vorenthalten. Und selbst im freien Teil Europas musste man an Grenzen warten und Pässe vorzeigen, wenn man ein anderes Land besuchen wollte. Ich erzähle das, weil für Sie als junge Menschen sehr selbstverständlich scheint, wie wir heute leben. Aber ich es ist eben nicht selbstverständlich. Wir haben einen ganz anderen Kontinent erlebt, als wir studiert haben. Wir haben einen Kontinent erlebt, bei dem wir uns damals nicht haben vorstellen können, dass wir in so freier Weise in Europa leben und studieren und reisen können.

Nehmen wir das Geldwechseln. Auf einer Reise von Bonn nach Lissabon stand man, wenn man dort Urlaub machen wollte, gleich dreimal dafür an. Man hatte zu Hause die Mark in der Tasche, tauschte in Frankreich Francs, in Spanien Peseten und dann später Escudo, und das natürlich immer gegen Gebühr. Und nach zwei Wochen kam man mit einem Beutel voll Münzen zurück. Das war die Realität und wer hätte es damals für möglich gehalten, dass man nur eine Generation später in Bonn mit der gleichen Währung bezahlen kann wie in Dublin oder sogar in Bratislava? Das lag damals hinter dem Eisernen Vorhang. Oder dass man ohne eine einzige Passkontrolle auf dem Landweg von Portugal bis nach Estland kommt, das damals noch ein Teil der Sowjetunion war.

Schon zu meiner Schüler- und Studentenzeit war Europa ein einzigartiges, erfolgreiches Versöhnungs- und Friedensprojekt. Aber die Staatsmänner dieser Zeit waren weitsichtig genug, nie inne zu halten und die Integration weiter zu vertiefen.

Was Konrad Adenauer und Theodor Heuss begonnen haben, das setzten Willy Brandt und Walter Scheel, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher fort. Sie vertieften die europäische Integration und legten so den Grundstein für die deutsche und die europäische Vereinigung. Heute leben 500 Millionen Europäer aus 27 Ländern in einem gemeinsamen Rechtsraum in Frieden, in Freiheit und das in einem nie gekannten Wohlstand.

In diesem heutigen Europa, in dem Sie jung sind, in diesem heutigen Europa lebt es sich besser als zu irgendeiner Zeit in der Geschichte zuvor.

Und genau um dieses Europa mache ich mir auch sehr große Sorgen.

Die Europäische Union steht an einem kritischen Punkt in ihrer Geschichte.

Ich sehe Europa ernsthaft herausgefordert, von innen und von außen.

Nichts wäre gefährlicher als die Illusion, wir könnten zukünftig das europapolitische Kapital einfach nur verwalten.

Europa bleibt auch in unseren Tagen eine politische und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe.

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei zu vielen der eigenen Bürger löst die Europäische Union heute zuerst einmal Unbehagen aus.

Denken wir an die Wahlen zum Europäischen Parlament. Bei der Europawahl im vergangenen Jahr lag die Wahlbeteiligung europaweit bei 43 % , dass ist niedriger als je zuvor. Seit der ersten Direktwahl 1979 ist also die Wahlbeteiligung jedes Mal gesunken.

Wir haben es eigentlich mit einem Paradoxon zu tun, das uns allen, wenn wir an Europa interessiert sind, zu denken geben muss.

1979 gingen noch 63 % der Wahlberechtigten zu den Urnen, um ein Europäisches Parlament zu wählen, das nur beraten konnte, aber eigentlich nichts entscheiden. Dreißig Jahre später hat das Europäische Parlament bei der europäischen Rechtssetzung wirklich etwas zu entscheiden. Ohne seine Zustimmung gibt es zum Beispiel gar keine Europäische Kommission. Und was passiert? Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler bleibt zu Hause.

Oder denken wir an Volksabstimmungen zu europäischen Verträgen und Sie wissen, dass ich auf ganz konkrete Volksabstimmungen anspiele. Daraus wurden in den letzten Jahren vielfach Misstrauensvoten gegen Europa im Ganzen.

Das alleine wäre schon Grund zur Sorge.

Und oben drauf lesen Sie jeden Tag in der Zeitung von Problemen, beispielsweise den Problemen in Griechenland.

Griechenland und die innere Abkehr vieler Europäer von der europäischen Idee ist nur ein Teil der Probleme, die vor uns liegen.

Heute kommen die Herausforderungen für Europa von innen und von außen. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Europa im globalen Wettbewerb bestehen wird.

Den Wunsch nach Wohlstand für alle hat Europa alleine nicht gepachtet. Um uns herum treten neue, sehr dynamische Akteure auf. Um uns herum entstehen Wirtschaftsblöcke und Freihandelszonen, die dem Vorbild der Europäischen Union nacheifern. Das habe ich bei vielen Reisen gerade nach Lateinamerika, nach Asien und auch an den Golf eindrucksvoll erfahren können. Und ich möchte Ihnen etwas darüber berichten.

Es sind junge Gesellschaften, es sind Gesellschaften, die haben Lust auf Fortschritt, auf Wettbewerb, auch weil sie natürlich mehr Wohlstand für sich wollen. Und ich nenne Ihnen nur ganz wenige Zahlen. In Brasilien sind gut ein Viertel der Menschen jünger als 15 Jahre, in Südafrika sind fast 30 Prozent jünger als 15 Jahre und nur zum Vergleich, bei uns beträgt der Anteil der unter 15-Jährigen knapp 14 Prozent. Zeitgleich werden die Gesellschaften Europas immer älter.

Europa nimmt nicht am rasanten Wachstum der Weltbevölkerung Teil. Die wächst jedes Jahr übrigens um knapp 80 Millionen Menschen, das entspricht fast der Bevölkerung Deutschlands. In Europa dagegen stagniert die Bevölkerung oder sie schrumpft sogar. Als Folge dieser demographischen Entwicklung schwindet Europas relatives Gewicht in der Welt.

Prognosen sehen bis zum Jahr 2050, versuchen Sie sich das selber vor Augen führen, 2050, das werden Sie mit Sicherheit ganz aktiv und hoffentlich gesund erleben, Prognosen sehen bis zum Jahr 2050 die Weltbevölkerung bei über 9 Milliarden. Der Anteil der Europäer dürfte dann auf etwa 7 % der Weltbevölkerung gesunken sein. Noch stärker sinkt der Anteil, wenn man auf die Europäer im sogenannten arbeitsfähigen Alter schaut.

Meine Damen und Herren,

wenn wir in Deutschland über die demografische Entwicklung sprechen, dann meinen wir zunächst die Debatten, die wir vor dem Hintergrund der sozialen Sicherungssysteme fürhen, Rente und vieles mehr. Wenn wir über die demografische Entwicklung reden, müssten wir eigentlich auch reden über die demografische Entwicklung in der Welt. Das sind die neuen, großen Herausforderungen. Was glauben wir, wie lange es dauern wird, bis diese jungen, dynamischen Gesellschaften, wie sie streben, die politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, geistigen Zentren und nicht nur die ökonomischen Zentren dieser Welt zu werden. An diesen Beispielen können Sie erkennen, ein einfaches "Weiter so", dass kann sich Europa, dass können wir uns nicht leisten.

Im Gegenteil. Die innere Gleichgültigkeit und der äußere Wettbewerb fordern uns heraus.

Werden wir erreichen, dass Europa für Sie hier im Saal und auch für die Bürgerinnen und Bürger Europas zur ureigenen Angelegenheit wird oder wieder wird? Wird es uns gelingen, dass die in Europa über Jahrhunderte entstandene Ideen von individueller Freiheit und universellen Menschenrechten stark bleiben, und dass sie sich auch weltweit ausbreiten? Denn die Globalisierung, sie ist nicht nur die Globalisierung von Wirtschaft, sie ist in Wahrheit auch eine Globalisierung von Werten, von Rechtsstaatlichkeit, von Wertesystemen, von ethischen Maßstäben. Werden wir trotz sinkendem Anteil an der Weltbevölkerung unsere Position halten oder sogar ausbauen? Können wir die wachsenden Märkte außerhalb Europas als Chance nutzen?

Ich sehe in den nächsten Jahren drei große Aufgaben, die wir gemeinsam bewältigen müssen, damit wir alle diese Fragen mit "ja" beantworten können.

Erstens: wir müssen die innere Einheit Europas vollenden.

Zweitens: wir müssen langfristig die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion und damit unseren Wohlstand sichern.

Und drittens, wir müssen dafür sorgen, dass Europa auch nach außen geschlossen auftritt.

I. Europa ist noch nicht wirklich eins. Europa ist noch nicht vollendet, wie gelegentlich sich vielleicht als Eindruck verbreitet. Viele haben noch immer das Gefühl, beispielsweise, dass Frankreich und das meine ich natürlich nicht geografisch, dass Frankreich uns näher liegt als Polen, dass Frankreich selbstverständlicher zu Europa gehört als Polen. Von Hans-Dietrich Genscher, von Klaus Kinkel, von anderen habe ich sehr früh die Erkenntnis lernen können, dass Europa, dass die Europäische Union Europäische Union heißt und nicht Westeuropäische Union. Haben wir das wirklich verinnerlicht, meine Damen und Herren?

Von einer echten gesamteuropäischen Einheit sind wir noch weit entfernt. Ein Franzose sieht sich in erster Linie als Franzose, ein Bulgare ist zuerst ein Bulgare, ein Pole ist zuerst ein Pole.

Und so wie es ganz selbstverständlich ist, dass man Deutscher ist und zugleich Rheinländer, so muss es ganz selbstverständlich werden, dass man eben auch Europäer ist und sich auch so fühlt und so empfindet.

Ich sage "auch" Europäer. Denn es wäre völlig lebensfremd, die gewachsenen Unterschiede in Europa klein reden oder abschaffen zu wollen. Unsere historischen Erfahrungen sind unterschiedlich, unsere Lebenserfahrung ist unterschiedlich. In Lettland oder Polen spricht man beispielsweise über Russland anders als in Frankfurt an der Oder oder in Frankfurt am Main oder in Bonn am Rhein, wo man wieder ganz anders darüber denkt. Die gewachsenen Traditionen der europäischen Staaten muss man achten und man darf sie nicht missachten.

Mit einer vermeintlichen Spaltung Europas in ein altes und ein neues Europa hat das übrigens nichts zu tun. Es gab Meinungsunterschiede, und die wird es auch in Zukunft immer wieder geben.

Der Wettbewerb von Ideen ist die Grundlage der Demokratie innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, und dieser Wettbewerb ist auch zwischen den Mitgliedsstaaten richtig und wichtig.

Die Unterschiede zwischen den Staaten Europas sind eine Tatsache, aber eben keine Schwäche. Sie machen Europa zu einem Kontinent der Vielfalt.

Ich komme gerade von einem Treffen mit meinen Kollegen, den Außenministern Frankreichs und Polens, das gestern Abend und heute in Bonn stattgefunden hat. Diese Zusammenarbeit, es ist das sogenannte Weimarer Dreieck. geht zurück auf ein Treffen der Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski. Es war in Weimar und hat seit 1991 als Weimarer Dreieck Bestand. Deutschland arbeitet mit beiden Ländern, Frankreich und Polen, die beide unter den deutschen Verbrechen im 20. Jahrhundert unendlich gelitten haben, heute gemeinsam an europäischen Lösungen. Wenn Europa uns nicht mehr gebracht hätte als diesen Frieden, es hätte sich eigentlich schon für jeden gelohnt.

Das Weimarer Dreieck steht für die feste Verankerung Deutschlands im Westen ebenso wie für die Aussöhnung und das Zusammenwachsen Europas in Richtung Osten.

Für den Erfolg der Europäischen Union ist heute die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen so unverzichtbar, wie auch ein besseres Verständnis zwischen Deutschen und Polen unverzichtbar ist. Deshalb habe ich nach meinem Amtsantritt sehr großen Wert darauf gelegt, dass auch in der deutschen Debatte beispielsweise über das Zentrum gegen Vertreibung der Gedanke der Versöhnung immer im Vordergrund stand. Das hat eine viel grundsätzlichere Bedeutung, wenn man sich in die innere Lage dieser Länder versetzt, als es gelegentlich bei uns tatsächlich berichtet oder empfunden oder diskutiert wurde.

Ich war vor etwas über einer Woche in Krakau bei der Beisetzung des verunglückten Präsidenten. Der Abschied von Lech Kaczynski und seiner Frau hat uns alle und natürlich auch mich tief bewegt. Ich weiß, dass die Gedanken und das Mitgefühl vieler Deutscher angesichts der schrecklichen Tragödie in diesen schweren Zeit bei unseren Nachbarn in Polen sind. Die Menschen in Deutschland empfinden aufrichtige Anteilnahme und tiefe Trauer. Das ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, das heute in Europa möglich ist.

Die Freundschaft mit Frankreich ist in unseren Köpfen und unseren Herzen verankert. Ich möchte erreichen, dass das auch für die Freundschaft mit Polen gilt. Ich habe bei meinen Antrittsbesuch, bei meinem ersten Antrittsbesuch deshalb in Warschau, erst in Warschau und danach den Besuch in Frankreich gemacht, nicht weil das eine Umkehrung unserer Verhältnisse sein sollte, sondern als besondere Würdigung der Notwendigkeit tiefer, inniger freundschaftlicher Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarstaaten. Polen und die übrigen Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa schauen mit großer Erwartung und großer Hoffnung auf Deutschland und das ist etwas, worauf sie sich auch verlassen können sollen.

Und dabei denken wir weiter. Europa hört nicht an den Außengrenzen der Europäischen Union nicht auf. Auf dem westlichen Balkan wird entschlossen daran gearbeitet, Teil der Europäischen Union zu werden. Die Gesten der Versöhnung, die wir dort in den letzten Wochen und Monaten beobachten, waren über Jahre hinweg völlig unvorstellbar. Dass sie heute möglich sind, ist auch der europäischen Perspektive dieser Länder zu verdanken.

Auch für die Türkei gelten die getroffenen Vereinbarungen mit der Europäischen Union. Die Türkei hat einen Anspruch auf faire Verhandlungen und auf Vertragstreue.

Dialog und Partnerschaft prägen das Verhältnis zu unseren Nachbarn östlich der EU-Außengrenzen. Das gilt für die Ukraine. Das gilt vor allem auch für die strategische Partnerschaft mit Russland. Ganz Europa kann nur davon profitieren, Russland möglichst eng in unsere europäische Partnerschaft einzubinden. Gute Nachbarschaft geht nicht mit Ausgrenzung, gute Nachbarschaft braucht Vertrauen und Zusammenarbeit.

Das Verhältnis der Staaten Europas zueinander war über Jahrhunderte von Auseinandersetzungen und Krieg geprägt und dennoch haben wir zu einem friedlichen Interessenausgleich gefunden. Es ist dieses Kooperationsmodell, was in Europa geprägt wurde, als Gegensatz zu Konfrontationsmodellen. Wir müssen darauf setzen, dass dieses Kooperationsmodell sich auch gegenüber anderen Modellen in der Welt stets durchsetzt.

Die Staaten der EU sitzen in Brüssel am Verhandlungstisch, jeder hat Sitz und Stimme, kleine und große Staaten. Für die innere Einheit Europas ist die Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der europäischen Mitgliedsstaaten unabdingbar. Das ist ein Grundpfeiler Europäischer Integration. Es ist wichtig, gerade weil wir in einem Land leben, das die größte Volkswirtschaft in Europa ist, dass wir das begreifen und uns auch so verhalten. Es gibt keine wichtigen oder auch weniger wichtigen Staaten. Europa ist das gemeinsame Projekt aller Mitgliedsstaaten. Der größeren, der mittelgroßen oder der kleineren.

Auch in der EU, wo wir in Brüssel tagtäglich eng zusammen arbeiten, müssen wir unsere bilateralen Beziehungen pflegen. Eine starke, vertrauensvolle Beziehung, eben bilateral, ist natürlich auch die Voraussetzung für eine offene Debatte.

Deutschland hat, und man muss es sich vor Augen führen, Deutschland hat neun unmittelbare Nachbarn. Damit kommt Deutschland auch eine besondere Verantwortung zu, die Interessen aller Mitgliedsstaaten eben im Blick zu behalten. Das gilt für das Ringen um Kompromisse in der EU, und das gilt für internationale Gremien wie die G20, bei denen nicht alle mit am Tisch sitzen. Wir müssen uns als um Abstimmungsprozesse der Europäer im Vorfeld dieser Treffen kümmern. Wie sehr sich in diesen zwanzig Jahren die Lage der Welt verändert hat, können Sie alleine an diesem Wort G20 erkennen. Als ich studiert habe, ging es um G7. Heute reden wir über G20 und Länder, die wir wie selbstverständlich damals, als wir in Ihrem Alter waren, als sogenannte Entwicklungsländer erlebt und empfunden haben, sie sitzen heute mit uns bei G20 auf gleicher Augenhöhe am Verhandlungstisch.

Die gute Zusammenarbeit der Regierungen ist aber nur ein Bestandteil einer Partnerschaft. Mindestens ebenso wichtig ist die gegenseitige Verständigung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Mit anderen Worten: Europa funktioniert nicht, wenn es sich um ein Europa der Regierungen oder der Politiker handelt oder der Parlamente. Es wird nur funktionieren, wenn es ein Europa der Bürger ist, auch ein Europa übrigens der Jugend. Eine politische Partnerschaft kann also nur gelingen durch ein dauerhaftes Zusammenwachsen der Gesellschaften.

Ich selbst bin mit meiner Generation geprägt zum Beispiel von der Arbeit des deutsch-französischen Jugendwerkes, das seinerzeit seinen Sitz in Bad Honnef hatte. Und für den Einen oder Anderen von Ihnen klingt es geradezu unglaublich, aber als wir in den 70er Jahren mit dem Zelt in der Bretagne unterwegs gewesen sind, konnte es Ihnen ohne Weiteres passieren, dass Sie mit Hinblick auf die furchtbare Geschichte und dem, was Deutschland unseren Nachbarn und der Welt angetan hat, als deutscher Jugendlicher auf erhebliche, spürbare Voreingenommenheit stießen.

Meine Damen und Herren,

umso wertvoller ist es, welcher Prozess seitdem in Gang gesetzt werden konnte. Es ist nicht nur eine politische Aufgabe, sondern auch eine kulturelle und eine bildungspolitische Aufgabe. Wir wollen deshalb ein regionales Netzwerk der über 250 deutschen Partnerschulen in Osteuropa beispielsweise aufbauen. Wir wollen den Austausch von Nachwuchsführungskräften zum Beispiel aus der Wirtschaft verstärken. Das ist das Vernetzen, dass Zusammenwachsen der Gesellschaften, das ich meine.

In den 80er Jahren ging kaum jemand für ein oder zwei Semester an eine Universität nach England oder nach Frankreich. Heute ist ein Studium in einem anderen europäischen Land ganz normal. Erasmus und Sokrates gehören zu den erfolgreichsten Bildungsprogrammen aller Zeiten. Im Gründungsjahr 1987/88 nahmen 650 Studenten aus Deutschland teil, zehn Jahre später waren es schon fast 14.000, noch mal zehn Jahre später waren es 23.500. Seit Bestehen des Programms gab es europaweit fast 2 Millionen Teilnehmer. Wenn man also über Europa spricht, muss man auch über das reden, was uns gelungen ist.

Die Zeiten sind vorbei, dass man nur an die Sorbonne denkt oder an Oxford oder an Cambridge. Es ist Zeit, auch an die Karls-Universität in Prag zu denken. Es ist Zeit, an die deutschsprachige Andràssy Universität in Budapest zu denken oder das Europakolleg in Natolin bei Warschau.

Diese Investitionen in Ihre eigene Ausbildung sind natürlich auch Investitionen in die Zukunft Europas, unseres friedlichen Kontinents.

II. Wir sind mit einer umfassenden inneren Einheit Europas noch lange nicht am Ziel. Das gilt nicht nur für das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften, das gilt auch für die Geburtsstätte der europäischen Integration, für die Zusammenarbeit innerhalb der Wirtschaftsunion. Und das gilt vor allem auch für die Währungsunion.

Damit komme ich zur zweiten großen Herausforderung in Europa.

Es geht um die Zukunft unserer gemeinsamen Währung, um die Zukunft des Euro. Mit dem Euro steht und fällt die gesamte Wirtschafts- und Währungsunion. Die Sorge um die Stabilität des Euro ist eine der drängendsten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und diese Sorge nehme ich sehr ernst und wir sollten sie auch sehr ernst nehmen.

Griechenland ist heute in einer schwierigen Lage, und die Probleme Griechenlands können den gesamten Euroraum treffen. Viele dieser Probleme sind hausgemacht. Man hat die wahre Lage des Landes über Jahre hinweg verschleiert und das spüren wir heute. Auf der anderen Seite hat man vielleicht auch nicht genug und nicht genau hin geschaut. Vielleicht wurden Kontrollpflichten nicht richtig erfüllt. Aber es geht nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, dass wir die Krise überwinden.

Wir sind bereit, unserer Verantwortung für unsere Währung gerecht zu werden und darauf kann sich jeder Bürger in Deutschland auch verlassen. Ich denke, nur mit einer stabilen Währung können wir Wohlstand sichern und soziale Gerechtigkeit gewährleisten.

Aber wir stellen keine Blankoschecks aus. Es ist doch keine Antwort auf die Krise, wenn die Steuerzahler in Europa für das Fehlverhalten anderer gewissermaßen automatisch gerade stehen müssen. Deswegen muss Griechenland die eigenen Hausaufgaben machen. Hilfe kann nur die ultima ratio sein, wenn wir unsere eigene Währung schützen müssen.

Griechenland steht vor harten und tiefen Einschnitten. Vor der mutigen und entschlossenen Sanierungspolitik von Ministerpräsident Papandreou habe ich, und das will ich ausdrücklich sagen, großen Respekt. Bei seiner schweren Aufgabe und den entschiedenen Reformen kann er dabei, so denke ich, auch auf unsere gemeinsame Unterstützung zählen.

Aber eins ist klar. Wir wollen die Europäische Union, aber wir wollen keine Transferunion zu Lasten Deutschlands.

Das Beispiel Griechenland zeigt über die gegenwärtige Krise hinaus die Stärken und die Schwächen der Wirtschafts- und Währungsunion.

Die Stärke der Wirtschafts- und Währungsunion wird gerade in der Krise deutlich. Der Euro und der gemeinsame Markt haben verhindert, dass Protektionismus und Währungsspekulationen gegen einzelne Staaten die Krise weiter vertieft haben. Die Mitgliedsstaaten der EU müssen diese Krise nicht alleine meistern.

Es ist unübersehbar, dass wir in der Eurozone tief gehende Anpassungen vornehmen müssen. Ein Fall, wie wir ihn jetzt erleben in Griechenland, darf sich nicht wiederholen. Europa kann nur dann als Solidargemeinschaft erfolgreich Bestand haben, wenn alle Europa auch als Verantwortungsgemeinschaft verstehen.

Wir wollen dafür sorgen, dass wir nach den Debatten der letzten Wochen und den Entscheidungen, die möglicherweise anstehen, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen aus dem Geschehenen handfeste Konsequenzen ziehen. Wir brauchen deutlich mehr Kontrolle und strengere Regeln. Deswegen brauchen wir stärkere Eingriffsrechte der europäischen Statistikbehörde EUROSTAT. Wir brauchen ein Überwachungssystem für Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite und wir wollen den Stabilitätspakt stärken.

Jeder Staat der Eurozone ist langfristig auf solide Staatsfinanzen angewiesen. Ich finde es richtig, dass ein Staat auch nachweist, was er dafür tut. Wir haben schließlich alle gemeinsam vereinbart, dass der Schuldenstand höchstens 60 % des Bruttoinlandsprodukts insgesamt erreichen kann. Diese Schuldengrenze muss in Zukunft besser geschützt werden. In Deutschland haben wir übrigens deswegen überparteilich die Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen. Vielleicht finden unsere Partner in Europa andere Lösungen. Wichtig ist nur, das sie funktionieren.

Defizite und Wirtschaftspolitik sind in der Eurozone nicht mehr rein nationale Angelegenheiten. Wenn Defizite zu sehr aus dem Ruder laufen und wenn Wirtschaftspolitik dauerhaft unverantwortlich betrieben wird, dann gefährden sie die gesamte Eurozone. Wenn die Politik eines Eurostaates den Euro so schwächt, dass die übrigen Eurostaaten nur noch reagieren können, dann werden sie zu Getriebenen der Umstände. Dann bleibt kein Raum für eine eigenständige Wirtschaftspolitik und das kann in Europa eigentlich keiner wollen.

Deswegen müssen wir vertraglich regeln, was geschieht, wenn ein Staat die Regeln, die er selbst für sich akzeptiert hat, fortgesetzt bricht. Für eine gemeinsame Währung trägt man gemeinsame Verantwortung. Die vertragstreuen Staaten müssen sich davor schützen, dass sie durch einen anderen Staat geschädigt werden, der seiner Verantwortung nicht gerecht wird.

Wenn ein Land sich nicht aus eigener Kraft von seinem Defizit befreit, ist es da zu viel verlangt, wenn die Regierung den Haushaltsentwurf zuerst der Eurogruppe vorgelegen muss und erst dann dem nationalen Parlament? Ist es zu viel verlangt, wenn die Stellungnahme der Eurogruppe keine Ratschläge sind, sondern bindenden Charakter erhalten? Wie geht es weiter, wenn der Staat sich trotzdem nicht daran hält? Sollte dann ein Sparkommissar entsandt werden? Oder der Mitgliedsstaat vielleicht sogar sein Stimmrecht verlieren? Diese Fragen müssen wir sehr offen diskutieren. Denkverbote können wir uns nicht leisten. Sie alle hier erwarten zu recht Antworten und ich will es mit Nachdruck noch einmal sagen, der gute Europäer sorgt vor allen Dingen dafür, dass Europa stabil ist. Das ist die wichtigste europäische Aufgabe. Und zwar nicht nur für den Augenblick, für den Monat oder für das Jahr, sondern nachhaltig und dauerhaft in unserem gemeinsamen Interesse. Ausdrücklich auch im Interesse der jungen Generationen.

Die Krise zeigt erneut, dass die Stabilität des Euro von mehr abhängt als von Defiziten. Die Kriterien des Stabilitätspakts allein haben in der gegenwärtigen Krise nicht gereicht.

Das Beispiel Griechenland zeigt, wie in Krisenzeiten ein Leistungsbilanzdefizit einen Staat vor existenzielle Probleme stellt. Und zwar ganz schnell. Eigentlich in einem kaum zu erwartenden atemberaubenden Tempo. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Leistungsbilanzen stärker im Blick behalten.

Wir müssen mehr als bisher die Unterschiede der Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten. Zu große Ungleichgewichte der Leistungsbilanz sind Warnzeichen für die Stabilität der Wirtschafts und Währungsunion.

Aber wollen wir wirklich, dass weniger Wettbewerbsfähigkeit deshalb zum politischen Ziel ausgerufen wird? Kann man Europa stärken, indem man die starken Wirtschaften absichtsvoll schwächt?

Die Volkswirtschaften in Europa sind heute so eng verknüpft, dass der Binnenmarkt nicht nur gleiche Bedingungen etwa bei Schutzstandards oder im Wettbewerbsrecht braucht. Auf lange Sicht wird Europa die nationalen Wirtschaftspolitiken besser abstimmen müssen. Damit meine ich Koordination, also freiwillige, aber auch bindende Absprachen. Wir brauchen keine Wirtschaftsregierung. Aber ein einfaches "weiter so", dass kann es auch nicht geben, wenn wir mit der Währungsunion ein Erfolg im Interesse aller Bürger haben wollen.

Das alles sieht auf den ersten Blick nach mehr Staat und nach mehr Bürokratie aus. Und ich bin keiner, das wissen Sie, der für mehr Staat und mehr Bürokratie steht. Ist es notwendig, dass die Haushalte der Mitgliedstaaten durch die Kommission überwacht werden? Oder durch gemeinsame Ausschüsse von Teilnehmerstaaten? Wenn jeder Staat seiner Verantwortung gegenüber den Partnern gerecht wird, dann ist das nicht notwendig. Aber wer sich an die gemeinsam gesetzten Regeln nicht hält, der schadet eben langfristig allen, vor allem aber schadet er sich selbst. Wie kann ein Staat auch von seinen Bürgern Eigenverantwortung einfordern, wenn er selbst nicht ausreichend bereit ist, Verantwortung zu tragen?

Nur als Verantwortungsgemeinschaft ist die Europäische Union auch eine Zukunftsgemeinschaft.

Wirtschaftlich wird Europa in Zukunft bestehen, wenn wir im globalen Wettbewerb vorne bleiben. Europa muss auch weiter auf Innovation und Technologie setzen. Die Werkbänke der Globalisierung stehen eben nicht mehr vorrangig in Europa, auch wenn das der Ein oder Andere nicht wirklich nachvollziehen möchte. Was wir haben und was wir ausbauen müssen, sind die Ideen für den neuen technologischen Fortschritt. In Europa müssen auch in Zukunft Ideen entstehen und auch in wirtschaftliche Dynamik hier umgesetzt werden. Erinnern Sie sich bitte an das, was ich über die demografische Entwicklung der Gesellschaften in der Welt ganz am Anfang gesagt habe.

Ich sage das mit sehr viel Zuversicht. Ich sage das auch mit viel Stolz auf die bisherigen Errungenschaften Europas. Ich sage das aber auch, weil ich mir Sorgen mache, wie wir diese Errungenschaften erhalten werden. Das europäische Solidarmodell, in dem der Starke dem Schwachen hilft, wenn dieser in Not gerät, ist ein Modell, für das sich zu kämpfen sich lohnt. Und ich möchte sagen, meine Damen und Herren, den Sozialstaat und die Solidarität in Deutschland und in Europa, verteidigt der am besten, der dafür sorgt, dass ihm die wirtschaftlichen Grundlagen nicht entzogen werden.

Die EU hatte in der Lissabon-Agenda das Ziel formuliert, den wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum weltweit zu schaffen. Aber dieses Ziel wurde leider nicht erreicht. Das heißt nicht, dass wir jetzt locker lassen dürfen. Das heißt, dass wir uns noch mehr als bisher anstrengen müssen, wenn ich sage wir, dann meine ich uns alle zusammen. Nur so können wir in Europa Wachstumspotentiale erschließen und zusätzlichen Wohlstand auch für alle schaffen.

Dazu brauchen wir mehr Bildung, mehr Wissenschaft. Dazu muss Innovation leichter werden und nicht schwerer. Und wir müssen natürlich, und das wissen wir alle, in die hellen Köpfe von morgen investieren und nicht in dunkle Schächte von gestern. Wir brauchen Schlüsseltechnologien wie die Elektromobilität, klimaneutrale Energieversorgung, Nano- und Medizintechnik und vieles mehr. Wir brauchen Naturwissenschaftler und Ingenieure, die mit ihren Ideen die Welt von morgen gestalten.

Im Juni werden wir voraussichtlich eine gemeinsame Strategie für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union, die Strategie "EU 2020", beschließen. Wir müssen ehrgeiziger werden, wir müssen gemeinsam dafür arbeiten, dass wir die Ziele, die wir vereinbaren, dann auch tatsächlich schaffen.

Man hat, und sie wissen, ich beziehe mich hier auf eine europäische Diskussion der letzten Monate, man hat Kritik geübt, in Deutschland sei die Nachfrage zu niedrig, das steigere die Unwucht im Binnenmarkt. Ich nehme diese Kritik ernst. Wenn Deutschland und die Nachfrage im Inland erhöht, hilft das, auch strukturelle Ungleichgewichte in der Währungsunion abzubauen. Das wird angesichts der hohen Staatsverschuldung nicht leicht. Die Nachfrage steigert nicht die Politik. Sondern die Nachfrage steigt, wenn die Bürgerinnen und Bürger mehr haben, sich trauen, auch tatsächlich wieder in die Nachfrage zu gehen.

Und genau hier müsste ich eigentlich über Innenpolitik reden, was ich aber mit Rücksicht auf Sie, aber nicht tun werde.

III. Die dritte Herausforderung, meine sehr geehrten Damen und Herren, die dritte Herausforderung an Europa ist die Frage nach der zukünftigen außenpolitischen Rolle, nach der Rolle Europas als globaler Akteur.

Nur gemeinsam werden wir die Herausforderungen der Gegenwart meistern, von denen viele auch Herausforderungen der Zukunft bleiben werden. Klimawandel, die Frage der Sicherung von Ressourcen und der Energiesicherheit, Terrorismus und Naturkatastrophen werden uns auch in Zukunft begleiten. Gemeinsam können wir für Freihandel eintreten, für Abrüstung und auch für nukleare Nichtverbreitung, für die Verteidigung von Menschenrechten und für die Förderung von guter Regierungsführung. Gemeinsam können wir die politischen und wirtschaftlichen Chancen der Globalisierung nutzen. Die Globalisierung braucht mehr Europa und nicht weniger.

Je besser wir im Inneren verzahnt sind, desto handlungsfähiger sind wir auch, desto glaubwürdiger und entschlossener können wir auch nach außen auftreten.

Dazu benötigen wir eine starke, einige und selbstbewusste Union. Wir wollen eine EU, die eine aktive Rolle in der Welt spielt und ihrer Verantwortung gerecht wird. Das Integrations- und Kooperationsmodell Europa muss seinen unvergleichlichen Erfahrungsschatz in die Globalisierung einbringen.

Der Vertrag von Lissabon hat den institutionellen Rahmen für ein entschlosseneres Auftreten der EU nach außen geschaffen.

Das Außenhandeln der Europäischen Union wird gebündelt. Das steht hinter den Debatten, die wir gestern in Luxemburg geführt haben über den sogenannten Europäischen Auswärtigen Dienst. Der Europäische Auswärtige Dienst wird die Dinge maßgeblich verändern und zwar nicht irgendwann in 30 Jahren, sondern schon sehr bald. Der Europäische Auswärtige Dienst tritt jetzt neben die nationalstaatliche Diplomatie. Das ist nicht das Ende der nationalen Diplomatie, sondern eine notwendige und wichtige Ergänzung. Die Mitgliedsstaaten spielen bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der Union auch weiterhin eine wichtige Rolle. Aber wir müssen unsere Stimmen bündeln, damit wir besser gehört werden. In Kopenhagen haben wir beim Klimagipfel nicht erreicht, was wir erreichen wollten. Das lag natürlich vor allem an dem Widerstand nichteuropäischer Akteure, die in Kopenhagen erkennbar keine Ergebnisse wollten. Es lag aber auch daran, dass es uns nicht ausreichend gelungen ist, unserer gemeinsamen Stimme Gehör zu verschaffen, obwohl wir uns in den wichtigen Fragen in Europa einig waren.

Der Vertrag von Lissabon hat auch die Möglichkeiten einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestärkt. Fortschritte sind möglich, auch wenn nicht alle europäischen Mitgliedsstaaten bereit sind, daran mitzuwirken und mitzumachen. Der Vertrag von Lissabon eröffnet Möglichkeiten einer vertieften Zusammenarbeit von Teilen der EU-Mitgliedsstaaten. Die EU-Mitgliedsstaaten können zum Beispiel die europäische Vision einer Gemeinsamen Verteidigung entwickeln. Für mich ist klar, dass wir in einer Union mit 27 Mitgliedsstaaten, die auch erweiterungsfähig bleiben will, solche Modelle brauchen.

Und das Sie so zahlreich und so interessiert diesen europapolitischen Ausführungen gefolgt sind, macht mich sehr optimistisch, dass auch Sie als junge Generation genau wissen, was wir an Europa haben. Ich glaube, man darf gelegentlich auch mal ausrufen: "Es lebe Europa". Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

Und Sie alle können an Europas Erfolgsgeschichte mitschreiben.

Europa ist eben nicht allein Aufgabe von Frau Ashton oder Herrn Barroso oder anderen, die in Deutschland oder in Europa, gleich welcher politischen Couleur, Verantwortung tragen. Europa ist nicht zuerst und alleine die Aufgabe von Regierungen, von Parlamenten, von Politikern. Europa, dass ist Ihre Aufgabe. Sie sind es, ganz persönlich, die Europa gestalten können.

Ich habe heute deutlich über die Probleme in Europa gesprochen und auch so deutlich über die Probleme gesprochen, weil ich überzeugt bin, dass wir diese Probleme kennen müssen, damit wir sie gemeinsam lösen können. Und wir können sie gemeinsam lösen. Wenn es um Europa geht, dann bin ich aus innerster Überzeugung Optimist. Und das liegt nicht nur daran, dass ich aus dem Rheinland komme und wer im Rheinland lebt, weiß worüber ich spreche. Um die Probleme Europas zu lösen, müssen Sie aber alle hinschauen und mitarbeiten und mit entscheiden. Dann können wir die Chancen Europas nutzen. Denn Europa ist gerade für Sie vor allem eine Chance.

Mit dem Vertrag von Lissabon haben wir ein Jahrzehnt der institutionellen Lähmung der Europäischen Union überwunden. Der Vertrag von Lissabon ist ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Stimmen sind nicht nur in Brüssel und Straßburg lauter geworden. Denn die Parlamente sind überall in Europa gestärkt, das gilt ausdrücklich für das Europäische Parlament wie auch für die nationalen Parlamente.

Ich scheue mich nicht, klar zu sagen, was noch gar nicht funktioniert und das wissen sie auch und das spüren sie oft im täglich Leben oder was noch nicht gut genug funktioniert. Wir dürfen uns von Europa kein Zerrbild machen. Wir brauchen ein Bild von Europa, das die Realität auch so abbildet, wie sie ist. Ausgehend davon müssen wir beherzt und mutig angehen, was zur Vollendung Europas noch zu leisten ist.

Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind gewaltig. Sie sind anders, aber gewiss nicht geringer als in den Generationen vor uns. Europas Weg in eine gute Zukunft ist nicht vorgezeichnet, aber wir wollen ja einen europäischen Weg in eine gute Zukunft. Und wir sind es, wir sind es gemeinsam, die diesen Weg prägen.

Diese Veränderungen der geopolitischen Ausgangslage verstehe ich nicht als eine Bedrohung, sondern zuallererst als Chance. Natürlich kann Europa die Probleme der Welt nicht alleine lösen. Die EU braucht Allianzen mit den großen strategischen Partnern, zuerst und vor allem mit den USA, aber auch mit Russland und Brasilien, mit Indien, mit China und übrigens, was viel zu oft übersehen wird, mit der Afrikanischen Union. Nur mit diesen Partnern werden wir im Kampf gegen den Klimawandel, bei der Doha-Handelsrunde oder bei der Regulierung der Finanzmärkte Fortschritte erzielen. Nur gemeinsam werden wir andere Staaten davon abbringen, sich nuklear zu bewaffnen.

die Standortbestimmung Europas im globalen System erfüllt die Bürgerinnen und Bürger mit Sorge. Und ich denke, es ist vor allem der Eindruck des Kontrollverlustes angesichts einer sehr komplexen Weltlage, deren Gefahren uns näher sind als je zuvor, die die Diskussion und die Sorgen bei uns prägen. Die Welt ist offener geworden, aber auch komplizierter. Die Gewichte der internationalen Politik verschieben sich. Das gilt für die Wirtschaft. Es gilt aber auch für die Werte und für das Wissen. Aufstrebende Mächte wie China und Indien und Brasilien sind nicht nur wirtschaftliche Kraftzentren, sondern auch politische und kulturelle.

Meine Damen und Herren,

Das langfristige Ziel ist der Aufbau einer europäischen Armee unter voller parlamentarischer Kontrolle. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sie kann ein Motor für das weitere Zusammenwachsen Europas werden.

Wir haben heute im Weimarer Dreieck mit dem polnischen und französischen Kollegen eine Initiative zur Verbesserung der Krisenreaktion und der Führungsfähigkeit gestartet.

Ich glaube, dass mehr Gemeinsamkeit in der Verteidigungspolitik Europa stärker macht. Wenn wir im inneren die Freiheit bewahren und ausbauen wollen, müssen wir in der Lage sein, auch Angriffe von außen zu begegnen. Terrorismus ist die Bedrohung, die wir heute kennen. In Zukunft werden wir vor Herausforderungen stehen, von denen wir heute noch gar nichts ahnen. Auch darauf müssen wir uns vorbereiten. Und wenn Sie in der nächsten Woche sehen, dass die nukleare Nichtverbreitungsüberprüfungskonferenz in New York beginnt, so hat die nukleare Nichtverbreitung zwei wesentliche Säulen. Zwei Seiten der selben Medaille. Einmal die nukleare Nichtverbreitung, denn es droht die Gefahr, dass wir am Ende dieses Jahrzehnts vielleicht die doppelte Zahl von Atomwaffenstarten haben. Mit dem einhergehenden Risiko, dass auch irrationale Kräfte, dass Terroristen solche Waffen in die Hände bekommen. Sie hat aber auch noch eine zweite Säule und das ist die Abrüstung. Ausdrücklich auch die atomare Abrüstung. Und wenn Sie nur das Eine sehen, vergessen Sie das Andere. Nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung sind zwei Seiten derselben Medaille und müssen im Sinne unseres Friedens auch immer in einem Zusammenhang gesehen werden.

Ich rede nicht von Ausgrenzung oder von Achsenbildung. Es ist immer besser, wenn alle Mitgliedsstaaten gemeinsame Fortschritte machen. Europäische Lösungen müssen auch in Zukunft gemeinsam beraten und entschieden werden. Das Ziel bleibt die vertiefte Integration der gesamten Union.