Redner(in): Reinhard Silberberg
Datum: 04.10.2006

Untertitel: "Ausblick auf die deutsche EU-Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der Bundesregierung" - Rede von Staatssekretär Silberberg, 04.10.2006
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2006/061004-SilberbergEuropa.html


Beitrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe "EU-Countdown: In 100 Tagen zur EU-Ratspräsidentschaft"; organisiertvom Auswärtigen Amt gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologieund der Europäischen Bewegung Deutschland im Zusammenhang mit der Vorbereitung derPräsidentschaft

Die Präsidentschaft fällt in eine für die EU schwierige Phase: Der Verfassungsprozess ist nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken geraten. In einer Reihe von Mitgliedstaaten wird die Europapolitik durch zunehmende Europaskepsis, eine unklare innenpolitische Lage oder die Übernahme von Regierungsverantwortung durch extreme Parteien negativ beeinflusst. Eine Erweiterungsmüdigkeit ist unübersehbar. Gleichzeitig wird sich die EU sowohl mit der weiter andauernden Bedrohung durch den Terrorismus sowie schwierigste internationale Probleme wie etwa die explosiven Lage im nahen und mittleren Osten auseinander setzen müssen.

In dieser von vielen als krisenhaft empfundenen Situation werden an unsere Präsidentschaft ob es uns gefällt oder nicht große, zum Teil auch unrealistische Erwartungen gerichtet. Es wird schwierig, die hohen Erwartungen zu erfüllen, vor allem beim Verfassungsprozess oder beim Krisenmanagement in Nahost.

Dass ich trotzdem einen gewissen Optimismus habe, liegt zu einem guten Teil an der aktuellen finnischen Präsidentschaft, mit der die Zusammenarbeit in vielen Bereichen hervorragend funktioniert.

In unsere Präsidentschaft fällt der 50. Jahrestag der Römischen Verträge. Die Staats- und Regierungschefs werden aus diesem Anlass am 25. März - nach Berlin kommen, um eine politische Erklärung zu verabschieden, die die Werte der EU bekräftigen soll und um es etwas verkürzt zu sagen - die Perspektive für die EU der Zukunft aufzuzeigen. Der 50. Jahrestag wird Gelegenheit zum Feiern sein: die EU ist eine in der Geschichte einzigartige Erfolgsgeschichte, auf die wir alle stolz sein können. Dieser Tag sollte aber auch Anlass sein, das Bild Europas in der Zukunft vorauszudenken.

Wir müssen Europa auch deswegen "neu denken", um den Bürgern Europa wieder näher zu bringen. Wir müssen nach den Gründen für die wachsende Europaskepsis fragen. Wir können Europa heute nicht mehr aus dem Blickwinkel der Nachkriegssituation betrachten, auch nicht aus der Sicht der Zeit unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nein, wir müssen Europa von den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts her denken und begründen. Frieden und Stabilität gehören weiter zur raison d ' etre des europäischen Einigungsprozesses. Aber: der berechtigte Hinweis auf Frieden, Demokratie, Freiheit und Wohlstand in Europa und in der Welt kann für sich genommen weitere Integrationsschritte oder konkrete Maßnahmen auf europäischer Ebene nicht rechtfertigen. Die Menschen erwarten zurecht, dass die konkreten Vorteile von Maßnahmen auf europäischer Ebene gegenüber einer nationalen Regelung Ebene plausibel dargelegt werden.

Was die Zukunft angeht, ist es unsere Pflicht, den Menschen zu erklären, dass die Mitgliedsstaaten allein die zentralen Zukunftsfragen nicht bewältigen können. Die zentralen Herausforderungen sind nur im Rahmen der EU zu bewältigen. Sie erfordern handlungsfähige Institutionen, eine klare Kompetenzordnung und eine demokratische Legitimation. Es geht um:

Unser Ziel ist es, am 25. März einen Impuls zu geben, der den Bürger Europas die Sicherheit vermittelt, die Herausforderungen der Zukunft auch als Chance zur Gestaltung annehmen zu können.

Gegenwärtig befindet sich der Entwurf für das Arbeitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Abstimmungsprozess zwischen den Ressorts. Das Programm wird dem Kabinett noch in diesem Monat vorgelegt werden. Dem Auswärtigen Amt kommt zusammen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie- die Rolle zu als "Zentrale des Präsidentschaftsmanagements". Verschiedene Stränge der Vorbereitung laufen im Auswärtigen Amt zusammen.

Vor zwei Wochen - beim ersten Termin dieser Veranstaltungsreihe hob Kollege Würmeling hervor, dass Deutschland in Brüssel mit einer Stimme sprechen müsse. Dem schließe ich mich als Vertreter des Auswärtigen Amts, dem zusammen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologiedie zentrale Koordinierungsfunktion für unser Handeln in Brüssel obliegt, natürlich voll an. Und ich stimme auch seiner Einschätzung zu, dass die beiden Häuser eine gute Zusammenarbeit verbindet.

Der Arbeitskalender in Brüssel ist enorm groß und anspruchsvoll. Viele Themen werden einer Präsidentschaft natürlich von den Vorgängern und der Kommission bei der Übergabe des Staffelstabs automatisch mit auf den Weg gegeben.

Zwar sind viele Themen durch den Brüsseler Arbeitskalender vorgegeben, dennoch haben wir den Anspruch, unsere Zeit als Ratsvorsitz auch dazu zu nutzen, eigene Akzente zu setzen. Ich möchte hier vier Punkte herausheben:

Zum Verfassungsprozess: Wir nehmen die vom Europäischen Rat uns aufgegebene Verantwortung an und werden alles daran setzen, einen für alle akzeptablen Vorschlag zum weiteren Vorgehen in der Verfassungsfrage zu machen.

Unser Ausgangspunkt ist klar: Wir stehen zum Verfassungsvertrag und wollen ihn in seiner politischen Substanz erhalten. Gleichzeitig müssen wir die Einschätzung unserer französischen und niederländische Partner zur Kenntnis nehmen, wonach der vorliegende Vertrag nicht noch einmal in dieser Form vorgelegt werden kann.

Unsere Rolle im kommenden Halbjahr ist die eines Vermittlers: ungeachtet unserer eigenen Haltung zum Verfassungsprozess werden Sie deshalb von deutschen Entscheidungsträgern zu Beginn des Konsultationsprozesses wenig präzises hören können. Wir sind aufgefordert, zuzuhören, zu konsultieren, zu vermitteln und zum richtigen Zeitpunkt einen geeigneten Vorschlag zu machen. Derzeit denken wir konkret über die richtige Methode dafür nach.

Der Ausgangspunkt unserer Bemühungen ist klar. Zwei Mitgliedstaaten haben den Verfassungsvertrag abgelehnt. Mit der bevorstehenden Ratifikation durch Finnland sowie dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens werden ihn 18 Mitgliedstaaten ratifiziert haben, also zwei Drittel der Mitgliedstaaten. Sieben Mitgliedstaaten haben den Ratifikationsprozess nach dem Nein aus Paris und Den Haag suspendiert. Wenn wir eine Lösung erreichen wollen, müssen sich alle bewegen, aber im Lichte dieser Konstellation vielleicht einige mehr als andere. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die nicht ratifiziert haben, den anderen die ratifiziert haben eine Lösung auferlegen.

In diesem Zusammenhang möchte ich kurz Artikel 42 EU-Vertrag, die derzeit diskutierte "Passerelle" im Bereich "Justiz und Innen". Es wäre der falsche Zeitpunkt sie jetzt anzuwenden, da Ihre Ratifizierung zeitlich mit der Verfassungsdebatte kollidieren würde. Vorrangig sollten wir uns auf die Verfassungsfrage konzentrieren.

Am Ende des deutschen Vorsitzes wird die Verfassungsfrage nicht gelöst sein. Aber wir sind optimistisch, dass wir zu Orientierung, Verfahren und Zeitrahmen Vorstellungen erarbeiten und vereinbaren können.

Eines ist klar: Der erfolgreiche Abschluss des Verfassungsprozesses ist notwendig, um Europa zukunftsfest zu machen.

Hierzu möchte ich mich kurz fassen, denn mein Kollege Würmeling hat in seinem Vortrag in dieser Reihe bereits detaillierte Ausführungen gemacht.

Eine weitere wichtige Schlüsselvoraussetzung für eine zukunftsfähige Europäische Union ist die Wiedergewinnung der wirtschaftlichen Dynamik. Die Globalisierung erzeugt wachsenden Konkurrenzdruck zwischen den Großregionen dieser Welt, schafft aber auch neue Chancen. Europa muss weiter daran arbeiten, sein Wirtschafts- und Innovationspotential voll auszuschöpfen. Nur wenn der wirtschaftliche Motor läuft und Wachstum Beschäftigung schafft, werden die Menschen wieder Vertrauen fassen in die Gestaltungskraft des europäischen Modells.

Von Januar bis zum Europäischen Rat Anfang März werden die Themen Energie und die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung im Mittelpunkt stehen. Ohne hier jetzt im Einzelnen darauf einzugehen: Im Mittelpunkt stehen das Vorantreiben von Maßnahmen zur weiteren Vollendung des Binnenmarktes, für Bessere Rechtssetzung und Bürokratieabbau sowie zur Stärkung von Forschung, Bildung und Ausbildung. Wir sind uns einig, dass Europa nur als innovative Wissensgesellschaft in der ersten Liga der großen Wirtschaftsräume mitspielen kann.

Energiepolitik wird ein besonderer Schwerpunkt unserer Präsidentschaft sein. Die Gaskrise in der Ukraine zu Beginn des Jahres hat gezeigt, wie verletzlich unsere Versorgungssituation ist oder werden kann. Darüber hinaus ist klar: Die fossilen Energieträger sind nicht nur endlich, sie stellen eine Bedrohung für das Weltklima dar. Wenn wir das gemeinsame Ziel erreichen wollen, einen Anstieg der Temperatur um mehr als 2 ° Celsius zu verhindern, dürfen wir die Nutzung fossiler Energie auf keinen Fall ausbauen. Wir müssen die Nutzung eingrenzen.

Der Frühjahrsgipfel soll einen europäischen Aktionsplan Energie beschließen. Ziel des Aktionsplans darauf haben wir uns verständigt ist die Gewährleistung einer sicheren, umweltverträglichen und wettbewerbsfähigen Energieversorgung Europas. Bis dorthin müssen noch eine Reihe von Fragen geklärt werden. Was muss auf europäischer Ebene, was auf nationaler Ebene geregelt werden? Brauchen wir einen europäischen Regulator? Wo macht die Zusammenarbeit Sinn, wo endet sie? Einige, nicht abschließende Überlegungen hierzu:

Trotz neuer Chancen und Möglichkeiten fühlen sich viele Menschen durch die Globalisierung in ihrer kulturellen und sozialen Identität bedroht. In unserem Programm werden wir auch die soziale und ökologische Dimension Europas klar herausstreichen. Zu unseren Werten gehört eben nicht nur das Bekenntnis zur Effizienz des Marktes, sondern auch das Bekenntnis zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Umweltschutz. Dort, wo wir diese Werte nur im europäischen Verbund erhalten und umsetzen können, brauchen wir die Europäische Union.

Die Debatte um die Dienstleistungs-Rili hat gezeigt: europäische Rechtsetzung muss soziale Folgen stets im Blick haben. Aus diesem Grund werden wir uns dafür einsetzen, dass künftig jedes Rechtsetzungsvorhaben konsequent auf seine sozialen Auswirkungen hin überprüft wird. Auch in Deutschland soll der Normenkontrollrat einen wichtigen Beitrag zur Folgenabschätzung leisten. Entsprechendes auf EU-Ebene, wie von Bundeskanzlerin angeregt. Neben ökonomischen und ökologischen Kriterien werden auch die sozialen Folgen eines Rechtsvorhabens genau unter die Lupe genommen.

Wie können wir darüber hinaus dazu beitragen, das europäische Sozialmodell mit konkreten Inhalten zu füllen? Das europäische Jahr der Chancengleichheit 2007 bietet hier einen wichtigen Ansatz. Ein systematischer Austausch von Erfahrungen kann den Mitgliedstaaten helfen, im Sinne von best practice voneinander zu profitieren.

Die Gleichstellung von Mann und Frau am Arbeitsplatz, aber auch die Integration älterer Menschen in den Arbeitsmarkt sind Themen, die in allen europäischen Staaten diskutiert werden und wo wir voneinander lernen können. Daneben gilt es auch, innovative Ansätze zu fördern, die helfen Familie und Beruf zu vereinbaren. Das ist unverzichtbar, wenn wir die Herausforderungen, die sich uns aus dem demografischen Wandel stellen, meistern wollen.

Was die zweite Hälfte unserer Präsidentschaft angeht, so werden voraussichtlich stärker die Bereiche Justiz und Inneres sowie die außen- / und sicherheitspolitischen Schwerpunkte in den Vordergrund rücken.

Im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität erwarten Europas Bürger mehr Zusammenarbeit in der EU. Ziel ist mehr Sicherheit bei offenen Grenzen und Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Aus der großen Bandbreite von Themen hebe ich drei hervor:

Angesichts der vielfältigen Probleme im internationalen Kontext ist ein gemeinsames entschlossenes Außenhandeln der EU besonders gewichtig. Kein Staat in Europa kann mehr alleine für seine Sicherheit sorgen. In den internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind die einzelnen Mitgliedstaaten schon längst auf die Durchsetzungskraft der EU angewiesen.

Gerade im Bereich der Außenbeziehungen ist die Planung angesichts unberechenbarer internationalen Krisen jedoch besonders anfällig für kurzfristig auftretende Entwicklungen. Denken wir an die letzte deutsche Präsidentschaft im Jahr 1999 mit dem Kosovo Krieg und der rasanten Entwicklung der ESVP, die so kaum im Voraus zu berechnen war. Wir können in diesem Zusammenhang ebenso auf die gegenwärtige finnische Präsidentschaft verweisen, die sich angesichts der Lage im Libanon unerwarteten Herausforderungen gegenüber sah. Zu unseren Planungen in diesem Bereich gehört also auch, auf Ungeplantes flexibel reagieren zu können. Konturen nach außen schärfen " hat die Bundeskanzlerin in ihrer Rede beim Bertelsmann-Forum zur europäischen Außendimension gefordert. In diesem Sinne bemühen wir uns, die europäische Politik gegenüber den vielen Nachbarn sinnvoll und auch kreativ fortzuentwickeln. Heute muss ich mich allerdings auf einige Hinweise beschränken.

Der Ausbau von Sicherheit und Stabilität in unserer unmittelbaren Umgebung, auf dem westlichen Balkan ist ein gewichtiges Elemente unseres Programms. Ein zentrales Thema hier ist das Kosovo. Für den Fall einer Statuslösung ist die bisher größte zivile ESVP-Mission vorgesehen. Diese Mission, deren Schwerpunkte in den Bereichen Justiz und Polizei liegen soll, wird zeigen, wie weit wir bereits auf dem Weg einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik gekommen sind, seit die ESVP 1999 - unter dem damaligen deutschen Vorsitz - aus der Taufe gehoben wurden.

Besondere Bedeutung haben darüber hinaus die östlichen Nachbarn der EU. Drei wichtige Komponenten sollen sich dabei zu einem attraktiven Gesamtansatz verbinden, was man als neue EU-Ostpolitik bezeichnen könnte.

Natürlich werden uns auch die Vorgänge im Nahen Osten im Jahr 2007 intensiv beschäftigen. Deutschland wird sich als Vorsitz für die Stabilisierung der Lage im Libanon einsetzen. Wir werden gemeinsam mit den Partnern in der EU und im Nahost-Quartett intensiv nach Möglichkeiten suchen, den Nahostkonflikt einer umfassenden Friedenslösung näher zu bringen.

Die Agenda der EU in den Außenbeziehungen wird im kommenden Jahr auch die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent widerspiegeln. Wir müssen abwarten, wie sich die Situation in einigen der afrikanischen Krisengebieten entwickeln wird. Aber gerade was die Lage im Sudan / Dafur oder in der DR Kongo nach den Wahlen angeht, sind wird sehr aufmerksam. Beide Themen stehen weit oben auf der Afrika-Agenda der EU.

Ein Wort zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Fortschritte während der deutschen EU-Präsidentschaft werden auch davon abhängen, inwiefern die Türkei das Anpassungsprotokolls zum Ankaraabkommen umsetzt. Eine Frage lautet zum Beispiel: Öffnet die Türkei ihre Häfen für zyprische Schiffe? Am 8. November wird die Kommission dazu einen Bericht vorlegen, der eine Zwischenbilanz vornimmt. Auch hier möchte ich die aktive Rolle des finnischen Vorsitzes bei der Suche nach Lösungen hervorheben.

Die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft sind hoch. Aber: Die EU hat in den letzten 50 Jahren Mechanismen und Instrumentarien geschaffen, die einmalig sind auf der Welt. Wir müssen diese Instrumente effizient gestalten, um im 21. Jahrhunderts zukunftsfähig zu sein. Und: Wir brauchen mehr Vertrauen, Tatkraft und Optimismus. Da unterscheidet sich Europa kaum von Deutschland. Mit unserem Programm wollen wir dazu beitragen, diese Trendwende zu erreichen.