Redner(in): k.A.
Datum: 02.03.2011

Untertitel: Rede: "Deutschland und die Ukraine in einer Welt im Wandel"
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2011/110302_BM_Kiew.html


Rede Bundesaußenminister Guido Westerwelles vor Studierenden der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität, Kiew

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein erster Besuch in Kiew fällt in eine Zeit, in der wir in unmittelbarer Nachbarschaft Europas eine Zeitenwende erleben.

Die Bilder aus Tunis und vom Tahrir-Platz in Kairo, die wir jetzt im Fernsehen und im Internet sehen, lassen niemanden kalt. Hier in Kiew oder zuhause in Berlin oder Bonn eint uns die Anteilnahme und Sympathie für die, die jetzt auf die Straße gehen. Es geht nicht um politische Theorien, sondern um tief Sitzendes. Hier stehen universelle Werte auf dem Spiel.

Die Menschen dort fordern, was auch wir hier in ihrer Situation fordern würden, denn in jedem von uns steckt das Bedürfnis nach Freiheit.

Dass ein Mensch sein eigenes Leben frei gestalten möchte, gilt jenseits aller kulturellen Unterschiede, jenseits aller Eigenheiten und Prägungen, jenseits religiöser Überzeugungen. Niemand lässt sich gerne bevormunden. Freiheit steckt in jedem von uns. Der Freiheitswille ist ein Urbedürfnis des Menschen. Unterdrückung und Unfreiheit sind mit der menschlichen Natur nicht vereinbar.

Was wir südlich unseres Kontinents erleben, ist nichts, was fernab geschieht und uns gleichgültig sein könnte. Unsere Nachbarn sind nicht vor allem aufgrund möglicher Flüchtlingsströme mit uns verbunden, sondern, weil wir selbst ganz ähnliche Freiheitsbewegungen aus unseren eigenen Gesellschaften kennen.

Vor etwas mehr als 20 Jahren schaute alle Welt nach Deutschland, nach Mitteleuropa und auf den Umbruch in der ehemaligen Sowjetunion. Vor fast sieben Jahren schaute die Welt auf die orangene Revolution in Ihrem Land. Jetzt schaut die Welt mit großer Hoffnung, aber auch mit großer Sorge auf den Aufbruch in der arabischen Welt.

Wir stehen hinter allen, die sich Unterdrückung und Unfreiheit nicht mehr gefallen lassen wollen, denn ihre Werte und Wünsche sind auch unsere.

Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sind in Europa nicht Ideen, sondern mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Europarat verbindlich vereinbarte Normen. Dennoch wäre es wäre falsch so zu tun, als hätten wir in Europa ein Patent auf diese Werte. Freiheit ist überall zu Hause.

Der Geist der Freiheit ist aus der Flasche und ich bin überzeugt, er lässt sich nicht zurückdrängen. Wir dürfen jetzt aber nicht vor Jubel über den Aufbruch die Risiken übersehen, vor denen die junge Demokratiebewegung steht. Noch ist die Freiheit nicht errungen. Noch ist nicht ausgemacht, wie es weitergeht. Noch ist die Freiheit zu zerbrechlich, als dass wir uns jetzt untätig zurücklehnen könnten.

Wir sollten den Aufbruch der arabischen Welt als Startschuss für eine neue Partnerschaft mit Europa für das 21. Jahrhundert verstehen.

Ich habe sowohl Tunesien als auch Ägypten eine Transformations-Partnerschaft angeboten.

Ich werde auch Libyen eine solche Partnerschaft anbieten, sofern und sobald sich das Land für einen friedlichen Übergang zur Demokratie entscheidet.

Wir müssen jetzt entschlossen helfen. Deutschland und die EU unterstützen die demokratische Transformation im Süden und überall in der Europäischen Nachbarschaft. Denn auch wenn wir in diesen Tagen von Berlin und Kiew gebannt nach Süden schauen, übersehen wir nicht, was im Osten Europas geschieht.

Wenn in unserer unmittelbaren Nachbarschaft die Führung in Weißrussland die Demokratie aushöhlt und die Opposition massiv behindert, geht uns das etwas an.

Wenn sich die Führung in Minsk weiter demokratischen Reformen verschließt, darf sie sich nicht wundern, wenn sich eines Tages die Freiheit gegen den Regierungswillen den Weg bahnt.

Wer zwischen Stabilität und Demokratie einen Gegensatz konstruiert, lag schon immer falsch.

Die Stabilität eines Landes beruht auf der Stabilität der Gesellschaft. Und nur eine freie Gesellschaft ist eine stabile Gesellschaft.

Sie haben dieses Streben nach Freiheit selbst erlebt. Wir alle haben im Dezember 2004 mitgefiebert mit denen, die sich manipulierte Wahlen in Ihrem Land nicht länger gefallen lassen wollten.

Nicht alle Hoffnungen auf Veränderung haben sich damals erfüllt. Ich vermute, auch einigen hier im Saal ging die Erneuerung nicht weit und nicht schnell genug. Mit politischer Erneuerung und gesellschaftlichem Wandel tun sich viele schwer. Wer sich von diesen Veränderungen überfordert fühlt, klammert sich an Gewohntes, weil das Halt gibt. Auch das ist Teil der menschlichen Natur. Aber wer auf Überholtem beharrt, verpasst den Schritt in die Zukunft.

Ich möchte gerade Ihre junge Generation ermutigen, immer wieder Reformen einzufordern. Es geht um Ihr Leben und um Ihre Chancen. Ihre Generation steht für die Transformation und die Erneuerung der Gesellschaft.

Sie entscheiden nicht allein individuell, wie Sie als Einzelner leben wollen. Sie tragen Verantwortung, in welcher Gesellschaft Sie Familien gründen, Ihre Kinder groß ziehen, Ihrem Beruf nachgehen und Ihre Träume verwirklichen.

Die Ukraine kann auf die Unterstützung der Europäischen Union zählen. Denn was in Ihrem Land geschieht, geht uns alle an.

Das Ziel der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union ist ein gemeinsamer gesamteuropäischer Raum der Freiheit, der Demokratie und des Rechts, der Sicherheit und des Wohlstands. Diesem Ziel dient das Instrument der Östlichen Partnerschaft.

Die Europäische Union stellt für die Östliche Dimension der Europäischen Nachbarschaft in den nächsten drei Jahren über 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Fast eine halbe Milliarde steht für die Ukraine bereit. Es kommt auf Sie an, dieses Angebot klug zu nutzen.

Wir fördern gute Regierungsführung, weil sie die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützt und wirtschaftliche Erneuerung ermöglicht. Weil sie Zukunfts- und damit Lebenschancen eröffnet. Jetzt kommt es darauf an, dass die Menschen ganz unmittelbar Verbesserungen im täglichen Leben spüren. Deswegen sollten wir vorrangig Projekte in den Gemeinden und in den Regionen verwirklichen.

Wenn beispielsweise die Stadtverwaltung schneller und professioneller arbeitet, merken das die Menschen vor Ort sofort. Solche Projekte müssen ausgebaut werden, weil sie die Menschen viel direkter erreichen als Budgethilfe, die für den einzelnen unsichtbar bleibt.

Als nächsten praktischen Schritt wollen wir das Assoziierungsabkommen und ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine zu einem guten Ende führen. Ich würde mich freuen, wenn das noch in diesem Jahr geschehen würde, weil es beiden Seiten dient.

Die Geschichte der europäischen Einigung baut auf wirtschaftliche Verflechtung und mehr Handel als Voraussetzung einer politischen Annäherung. Das ist das Prinzip unserer Partnerschaft.

Im Einklang mit EU-Normen und Standards hergestellte Produkte aus der Ukraine werden ohne Zollschranken leichter ihren Weg zum europäischen Binnenmarkt finden. Mehr Handel wird Arbeitsplätze in der Ukraine sichern. Deswegen wird gerade die junge Generation von dem Assoziierungsabkommen besonders profitieren.

Die Außengrenze der Europäischen Union darf die notwendige Verflechtung nicht behindern. Als deutscher Außenminister bin ich ein Anwalt von Offenheit. Für mich gehören in Europa die Freiheit der Wirtschaft und die Freiheit des Einzelnen zusammen. Dazu gehören Vereinfachungen bei der Vergabe von Visa.

Grenzen müssen durchlässig sein für Jugendliche, Wissenschaftler, Studierende, für Unternehmer, Künstler und Kaufleute. Ihnen gilt unsere Gastfreundschaft, sie sind willkommen.

Gastfreundschaft heißt aber nicht, dass einem gleichgültig ist, wer ins eigene Hause kommt. Wir müssen auch die Sicherheitsinteressen unserer Bürgerinnen und Bürger zuhause Ernst nehmen. Deswegen müssen Grenzen auch schützen vor denen, die Gastfreundschaft ausnutzen wollen.

Sicherheit und Freiheit sind keine unüberbrückbaren Gegensätze. Wir brauchen beides. Der Aktionsplan, auf den sich Ihr Land mit der EU im letzten Jahr geeinigt hat, weist den Weg zu einer neuen Visumspolitik. Natürlich muss auch die Ukraine ihren Teil beitragen.

Wir messen alle am selben Maßstab, aber es wäre vermessen alle über einen Kamm zu scheren. Einige Partner streben eine Mitgliedschaftsperspektive an, andere nicht. Aber es geht nicht um schwarz und weiß, drinnen oder draußen. Schon jetzt profitieren die Menschen in den Ländern der Östlichen Partnerschaft von der schrittweise Annäherung an die EU, weil diese Partnerschaft mehr Freiheit und mehr Wohlstand bedeutet.

In den letzten 20 Jahren seit der Unabhängigkeit Ihres Landes hat sich zwischen Deutschland und der Ukraine eine enge Partnerschaft entwickelt.

Für Deutschland ist die Ukraine innerhalb der östlichen Partnerschaft unser wichtigster Partner.

Deutsche Unternehmen sind seit Jahren in der Ukraine aktiv. Automobilzulieferer, Baustoffhersteller, Logistikunternehmen, Banken. Davon profitieren beide Seiten.

Unsere Zusammenarbeit ist noch nicht frei von Hindernissen. Wir leisten unseren Beitrag, damit Unternehmen aus Deutschland den Blick über die Grenze wagen und investieren. Aber auch die Ukraine muss ihren Teil beitragen. Es gibt Unternehmer in Deutschland, die würden gerne in der Ukraine investieren, fürchten aber Rechtsunsicherheit und Korruption.

Die Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen im letzten Oktober nagen am Vertrauen, das für eine Zusammenarbeit notwendig ist.

Die Europäische Union setzt darauf, dass ein neues Wahlgesetz zu einer transparenten und wirklich demokratischen Parlamentswahl im nächsten Jahr führen wird.

Seit der Unabhängigkeit hat sich in Ihrem Land viel getan. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass Reformen nicht vor allem im Interesse der EU erfolgen müssen, sondern vor allem in Ihrem Interesse, im Eigeninteresse Ihres Landes liegen.

In der Globalisierung muss sich auch Ihr Land ständig neu orientieren, genauso wie mein Land. Die Globalisierung wird Deutschland, der Ukraine und ganz Europa eine ungebrochene Reformbereitschaft abfordern.

Den dramatischen Verschiebungen der Globalisierung kann sich niemand entziehen. Die Gewichte der Weltwirtschaft verschieben sich. Europas Einfluss in der Welt wird nicht wachsen. Aufstrebende junge Gesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika fordern zu Recht mehr Anteil an der Weltpolitik. Der Wettbewerb der Bildungssysteme ist eine Herausforderung. Die Veränderungen der letzten Jahre sind erst der Anfang.

Gesellschaften, die den Mut verlieren, sich den Herausforderungen ihrer Zeit anzupassen, werden eines Tages scheitern. Je länger man unverändert lässt, was zu ändern unausweichlich ist, desto größer werden die Schwierigkeiten. Das gilt für Deutschland wie für die Ukraine, so unterschiedlich die Ausgangsbedingungen auch sein mögen.

Viele Herausforderungen unserer Zeit erfordern europäische Antworten. Ich setze mich dafür ein, dass wir wirklich gesamteuropäische Antworten geben. Aus der Brüsseler Binnensicht setzen viele die Europäische Union mit Europa gleich. Aber diese Sicht ist falsch. Natürlich gehört die Ukraine zu Europa. Ich würde diese Selbstverständlichkeit nicht betonen, wenn sich die Sichtweise in Brüssel nicht zu oft auf die Kategorien "innen" und "außen" verengen würde. Die Europäische Einigung ist nicht dort zu Ende, wo man heute die Grenzen des Schengen-Raums findet. Es ist die sinnstiftende Grundidee der Europäischen Einigung, Grenzen abzubauen und Trennlinien zu überwinden.

Ihre Generation wird gestalten, wie Sie auf unserem gemeinsamen Kontinent Europa heute und in Zukunft leben wollen. Unsere Zukunft wird auf dem Fundament der europäischen Einigung gebaut, das seit Anbeginn immer ein Friedensprojekt war.

In diesem Jahr gedenken wir des 70. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion. Was damals geschah, ist für uns heute noch unfassbar.

Wir sollten aber auch nicht die Geschichte der Versöhnung vergessen, die im 20. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Sie gehört nicht allein in die Geschichtsbücher. Versöhnung ist auch Aufgabe unserer Gegenwart.

Wir sehen die Welt im Wandel. Gewissheiten von einst sind die Ladenhüter der neuen Zeit. Wo gestern Stillstand herrschte, ist heute alles in Bewegung.

Wo immer Menschen sind, ist auch der Wunsch, sich frei zu entfalten. Persönliche Freiheit und wirtschaftliche Entfaltung gehören zusammen. Zu einem Leben in Würde gehören für jeden Zukunfts- und Lebenschancen.

Ihr Generation ist die erste globale Generation. Sie hören die gleiche Musik wie Studierende in Deutschland, Polen oder Frankreich. Sie sehen die gleichen Filme. Über das Internet, über soziale Netzwerke können Sie heute mehr über einander wissen und schneller mehr über einander erfahren als je zuvor. Nutzen Sie die beherzt die Chancen, die sich aus Ihrer Vernetzung ergeben.

Vergessen Sie angesichts aller globalen Möglichkeiten aber nicht, woher Sie kommen und wer Sie sind. Richtig verstandene Globalisierung ist kein Minus, sondern ein Plus, nicht weniger Identität und Vielfalt, sondern mehr Verständigung und Verständnis.

Wir brauchen in ganz Europa junge Menschen, die neugierig aufeinander sind, die nicht in Grenzen denken und nicht in den Kategorien von "drinnen" und "draußen".

Diese Neugier kann Ihnen kein Computer abnehmen. Europa in der Globalisierung findet nicht im virtuellen Raum allein statt.

Wenn Sie neugierig sind und Forscherdrang in sich verspüren, denken Sie an ein Studium in Deutschland. Informieren Sie sich über Stipendien, mit denen die deutsche Bundesregierung den Austausch von Studierenden und die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Wissenschaftlern fördert. Wenn Sie unser Land kennen lernen, werden Sie vielleicht auch sich selbst besser kennen lernen.

Was Sie lernen, was Sie denken, wird die Beziehungen der Ukraine zu Deutschland, zu den Ländern der Europäischen Union, zur ganzen Welt in den nächsten Jahrzehnten entscheiden prägen.

Ihre Antworten werden eines Tages die Antworten Ihres Landes auf die Globalisierung sein.