Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 02.04.2011
Untertitel: Rede Außenminister Westerwelles anlässlich der Eröffnung des Begleitprogramms der Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking
Anrede: Sehr geehrter Herr Minister Cai,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2011/110402-BM_Peking.html
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
gestern haben wir die großartige Ausstellung zur Kunst der Aufklärung hier im Chinesischen Nationalmuseum eröffnet. Ich freue mich, dass wir heute die Möglichkeit haben, das Gespräch fortzusetzen über die Zeit der Aufklärung, ihre Werte und Ideen und was diese heute für uns bedeuten. Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Minister Cai und dem chinesischen Kulturministerium sowie dem Chinesischen Nationalmuseum und der Stiftung Mercator. Ohne Ihr gemeinsames Engagement wäre dieses Dialogprogramm nicht zustande gekommen.
Wir wollen den offenen, regen Austausch mit der chinesischen Gesellschaft. Ausdrücklich richten wir uns nicht nur an Experten, sondern an die breite interessierte chinesische Öffentlichkeit. Durch dieses Dialogprogramm wollen wir einen Diskussionsprozess anstoßen, der über die Ausstellung hinaus seine Wirkung entfaltet.
Vor dreißig Jahren begann mit Chinas Reform- und Öffnungspolitik der große Aufbruch in Ihrem Land. Die Befreiung von den starren Vorgaben der Planwirtschaft setzte in China eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik in Gang, die Ihr Land zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht hat.
China befreite in wenigen Jahrzehnten hunderte Millionen seiner Menschen aus Hunger und Armut. Der Lebensstandard und das Bildungsniveau haben sich für viele spürbar verbessert.
Hunderte Millionen Chinesinnen und Chinesen gehören inzwischen zu einer gebildeten, dynamischen Mittelschicht. Diese Mittelschicht wird bald die Einwohnerzahl Europas erreichen. Eine wachsende Mittelschicht ist nicht nur eine ökonomische Größe. Dort, wo Mittelschichten wachsen, wächst auch die Gerechtigkeit, weil der Graben zwischen Arm und Reich überwindbarer wird. Eine starke Mittelschicht ist die Klammer einer Gesellschaft.
Kaum jemand im Westen kann sich der Faszination des Aufbruchs Chinas entziehen. Vom Optimismus und der hohen Leistungsbereitschaft Ihres Landes können wir viel lernen. Das chinesische Volk hat allen Grund, stolz zu sein.
Premier Wen Jiabao hat in seinem jüngsten Jahresbericht darauf hingewiesen, welche Herausforderungen noch vor China auf dem Weg in seine eigene Moderne liegen. Der Schutz der natürlichen Ressourcen, der Ausgleich zwischen Stadt und Land, der Ausgleich zwischen Arm und Reich sind nur einige Bereiche, die er nannte. Premier Wen bestätigte den Willen Chinas, den Weg der wirtschaftlichen und politischen Reformen unbeirrt weiterzugehen.
Zentral für den Erfolg dieses Kurses ist, dass nicht eine Ideologie, sondern der Mensch selbst in den Mittelpunkt der Politik gerückt wird. Die Freiheit des Einzelnen ist die Grundlage für bessere Ergebnisse für alle. Den Bürgerinnen und Bürgern Chinas wird es zunehmend möglich, selbstbestimmt eigene Ziele zu verfolgen. Die neuen Möglichkeiten der Menschen, zu reisen, sich zu bilden, Handel zu treiben, entfesselten die Leistungsbereitschaft, Kreativität und Innovationskraft jedes Einzelnen zu Gunsten aller. Wie kein anderes Land hat China den Entwicklungsschub dieses Aufbruchs erlebt.
Manches an Chinas großem Aufbruch erinnert uns an unsere eigene Geschichte. Der Kurs, den China in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen hat, musste sich in Europa über Jahrhunderte Bahn brechen.
Rückblickend sprechen wir von der "Epoche der Aufklärung". Tatsächlich beschreibt die Aufklärung keine historisch klar abgrenzbare Periode, sondern einen langen Erkenntnisprozess, der immer wieder auch von Rückschlägen begleitet wurde. Der europäische Weg aus der Vormoderne hin zu geordneten, rechtsstaatlichen und wohlhabenden Staatswesen war keineswegs vorgezeichnet.
Die Aufklärung markiert einen Einschnitt in die Geschichte des Denkens. Die Vorstellung war, das Selbstdenken der Menschen zu fördern und die Kritikfähigkeit an vorgegebenen Denkgewohnheiten zu stärken. Im Mittelpunkt stand die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz.
Vernunft begründete die Freiheit des Einzelnen zur Selbstbestimmung. Das führte schließlich zu der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte und zu der Verpflichtung moderner Staaten auf das Gemeinwohl.
Die Wertschätzung der Vernunft bewirkte eine Hinwendung zu Bildung und Wissenschaft. Mehr Menschen kamen in den Genuß von Bildung und neue Wissenschaftszweige entwickelten sich. Namen wie Kant, Leibniz und Humboldt stehen für diese Entwicklung.
Das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft strahlte weit aus auf die Politik, die Gesellschaft und die Wissenschaft im Europa des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Damals wurde das Fundament gelegt, auf dem unser Gemeinwesen heute steht.
Die Werte der Aufklärung waren nie ein Patent der Europäer. Die Denker der Aufklärung waren beeinflusst von Ideen aus anderen Kontinenten. China spielte dabei eine große Rolle. Der Philosoph Christian Wolff beispielsweise war ein begeisterter Kenner der Schriften Konfuzius´ . Durch die konfuzianischen Ideen von Vernunft und verantwortungsvoller Herrschaft sahen sich europäische Aufklärer wie er darin bestätigt, dass ihren eigenen Vorstellungen Allgemeingültigkeit zukam.
Wir sind von der Universalität dieser Werte überzeugt. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die wichtigste Orientierung für die Gestaltung unserer Politik.
Aber wir wissen auch: Universalität der Werte bedeutet nicht Uniformität. Auch im Westen musste jedes Land seinen eigenen Weg in die Moderne finden. Heute sehen wir, dass viele Länder auf unserem Erdball ihren Weg in die Moderne suchen. Der Kompass sollte für alle Länder in Richtung Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit zeigen, auch wenn die Wege dorthin sehr unterschiedlich sind. Für die einen ist dieser Weg leichter, für die anderen beschwerlicher. Jedes Land ist anders. Jedes Land hat seine Geschichte.
Jedes Land schuldet jedem Land Respekt.
Deutschland steht eindeutig auf der Seite von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Nicht nur, weil wir rückblickend aus der Zeit der Aufklärung wissen, welch´ epochale Errungenschaften diese Werte für die Menschen gebracht haben.
Als knapp Dreißigjähriger wurde ich Zeitzeuge des großen Aufbruchs in Mittel- und Osteuropa. Wir Deutschen erlebten das Glück eines friedlichen Aufbruchs im eigenen Land, der uns die Einheit Deutschlands und schließlich die Vereinigung Europas gebracht hat.
Viele sprechen rückblickend vom "Fall der Mauer". Aber die Mauer ist nicht gefallen. Die Mauer wurde eingerissen durch den Freiheitswillen der Menschen. Die Menschen sehnten sich nach einer freien und demokratischen Gesellschaft, die ihre Würde respektiert.
Stabilität steht dazu nicht im Gegensatz. Ganz im Gegenteil: Freie, vielfältige Gesellschaften bieten auf lange Sicht mehr Stabilität als unfreie Gesellschaften, die in erzwungener Einheit verharren. Instabilität und Chaos sind keine Folgen von Freiheit, sondern das Ergebnis von Unterdrückung und Stagnation.
Viele außereuropäische Völker, auch China, haben unter kolonialer Herrschaft furchtbar gelitten. Kolonialismus gehört zu den Schattenseiten der europäischen Geschichte. Zuhause kämpften europäische Völker um Teilhabe und Unabhängigkeit, außerhalb Europas unterwarfen sie ganze Kontinente und beuteten sie aus.
Mit Blick auf die Kolonialzeit sehen manche das westliche Engagement für Menschenrechte mit Misstrauen. Manche haben Befürchtungen, dass die Menschenrechte für den Westen nur ein Instrument der Bevormundung sind. Von Menschenrechten aber reden wir nicht mit erhobenem Zeigefinger. Von guter Regierungsführung sprechen wir nicht, um anderen unser Lebensmodell aufzudrängen, sondern weil sie den Bürgerinnen und Bürgern dient. Die Universalität der Menschenrechte steht außer Frage.
Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die Menschenwürde als obersten Wert unseres Grundgesetzes festzuschreiben, ist auch eine Konsequenz aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Diese Norm bindet alle deutsche Politik. Sie begründet die Werteorientierung der deutschen Außenpolitik und unseren Einsatz für die Menschenrechte weltweit.
Menschenrechtsschutz richtet sich nicht gegen Staaten, sondern unterstützt ihre Stabilität und Entwicklung.
Die Verankerung der Menschenrechte in der chinesischen Verfassung war einer der wichtigsten Fortschritte Chinas seit der Befreiung und Öffnung vor 30 Jahren. Die universelle Bedeutung der Menschenrechte hat auch Staatspräsident Hu Jintao bei seinem Besuch in Washington im Januar erneut hervorgehoben.
China hat in den letzten Jahrzehnten beim Schutz der sozialen Menschenrechte seiner Bürger wichtige Fortschritte gemacht. Deutschland begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich. Seit Jahren führen wir mit China regelmäßig einen Dialog auch zu den politischen Freiheitsrechten. Wir mögen nicht immer einer Meinung sein. Dafür sind unsere Systeme und Perspektiven zu verschieden. Die Menschen in Deutschland sehen manches in China kritisch, zum Beispiel den Vollzug der Todesstrafe oder den Umgang mit Andersdenkenden. Gerade deshalb legen wir großen Wert darauf, den Dialog auch in Zukunft weiter intensiv zu pflegen.
Die chinesische Regierung hat mir auch bei meinem jetzigen Besuch wieder zu erkennen gegeben, welch hohe Bedeutung sie dem Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats bei der Entwicklung des Landes zumisst. Wir sehen Chinas große Anstrengungen, hier weiter voranzukommen. Zufriedenheit und Stabilität ohne Gerechtigkeit gibt es nicht.
Wir sind stolz darauf, im Rechtsstaatsdialog einen Beitrag zu den großen chinesischen Modernisierungsvorhaben im Rechtsbereich leisten zu können und werden China hierin auch weiterhin unterstützen.
Unsere komplexe Welt wirft immer wieder Fragen auf, auf die jede Gesellschaft neue Antworten finden muss. Menschenrechts- und Bürgerrechtsschutz ist eine Aufgabe, die nie vollendet ist, sie dauert stets an. In Deutschland beispielsweise wird derzeit viel darüber diskutiert, wie die Privatsphäre der Menschen im Internet besser geschützt werden kann. Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Aber die Offenheit des Netzes ist ein hoher Wert.
Das Internet und die Sicherheit des Internets stellen die Politik in Zeiten der Globalisierung vor neue Herausforderungen. Bei der immer dichteren Vernetzung der Welt und bei den immensen Datenströmen rund um unseren Globus kann kein Land allein diesen Herausforderungen begegnen.
Für uns stehen nicht die Risiken, sondern die Chancen des Internets klar im Vordergrund.
Ohne das Internet wäre die wirtschaftliche Dynamik der vergangenen beiden Jahrzehnte nicht denkbar. Das Internet ermöglicht Bildung, wo Schulen und Universitäten fehlen. Das Internet beschleunigt den Wissensaustausch und damit wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Das Internet hat eine neue globale Öffentlichkeit geschaffen. Die neuen Möglichkeiten, sich zu organisieren, stärken Zivilgesellschaften. Und gut entwickelte Zivilgesellschaften sind die Basis für erfolgreiche und stabile Staatswesen.
Kaum ein Land hat das Internet so rasch angenommen und seine Chancen so intensiv zu nutzen gewusst, wie China. Kein Land der Welt hat mehr Internet-Nutzer. Weltweit erreicht das Internet inzwischen zwei Milliarden Menschen und die Zahl steigt.
Das Internet ist die Schlüsseltechnologie der Globalisierung. Die Offenheit des Netzes ist ein hoher Wert.
Heute ist das Internet der entscheidende Beschleuniger der modernen Aufklärung. In Zeiten der europäischen Aufklärung war es die Entwicklung des Presse- und Verlagswesens, die das alltägliche Leben der Menschen von Grund auf veränderte. Damals entstand eine neue, oft auch kritische Öffentlichkeit.
Eine lebhafte, kritische Öffentlichkeit ist für Regierende nicht immer erbaulich. Das war zu Zeiten der Aufklärung so und das ist heute so. Das ist in China so und das ist auch in Deutschland so.
Was aber vielleicht für Regierende manchmal schwer erträglich ist, ist für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zentral. Bisher Akzeptiertes anzuzweifeln, feste Gewissheiten in Frage zu stellen, das ist die Haltung, die Fortschritt bringt. Zweifel ist nichts Destruktives. Die Kultur des Zweifelns und der konstruktiven Kritik ist Motor, aus Gutem Besseres zu machen. Wer Zweifel unterbindet, gewinnt nicht Stabilität, sondern riskiert Stagnation.
Die Schriften Konfuzius´ waren für die europäischen Aufklärer tief beeindruckend, gerade auch in der Bildung. Aufstieg und gesellschaftlicher Erfolg sollten von Verdienst und Fähigkeit, nicht von Klassenzugehörigkeit abhängen. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sein Potenzial durch Bildung zu entfalten.
Bildung ist nicht nur der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben. Bildung stärkt Toleranz und Offenheit und macht stark gegen Diskriminierung und Vorurteile. Von der Bildung jedes Einzelnen profitiert die ganze Gesellschaft. In einer sich globalisierenden Welt entscheiden nicht Bodenschätze über den langfristigen und stabilen Erfolg eines Landes, sondern ein erstklassiges, gerechtes und durchlässiges Bildungssystem.
Deutsche Hochschulen bieten Exzellenz in Lehre und Forschung. An deutschen Universitäten lernen derzeit über 25.000 chinesische Studentinnen und Studenten. Das ist die größte Gruppe ausländischer Studierender in Deutschland. Über 400 Hochschulkooperationen gibt es zwischen deutschen und chinesischen Hochschulen. Weltweiter Austausch und Kooperation in Bildung und Wissenschaft sind für Deutschland von herausragender Bedeutung.
China hat es in wenigen Jahrzehnten geschafft, erfolgreich den Analphabetismus im eigenen Land zu bekämpfen. Der Bildungshunger der Chinesen, ihre Bereitschaft, für Bildung Anstrengungen auf sich zu nehmen und ihre Lust am Wettbewerb sind für uns ein bewundertes Vorbild. In dieser Hinsicht können wir heute erneut von China lernen.
Bildung ist auch eine Frage der Haltung. In Zeiten der Aufklärung entbrannte ein regelrechter Zukunfts- und Fortschrittsoptimismus. Diese Haltung ist auch heute der Schlüssel für eine erfolgreiche Gestaltung der Globalisierung.
Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten manche an ein Ende der Geschichte. Sie glaubten, das Ende der bipolaren Welt sei der endgültige Sieg der Aufklärung. Und manche zogen daraus falsche Schlüsse. Aber Aufklärung lässt sich nicht mit Gewalt durchsetzen, genauso wenig wie sie sich durch Gewalt verhindern lässt.
Wir erleben heute, wie immer mehr Gesellschaften in der Welt die Werte der Aufklärung für sich entdecken und einfordern. Sie werden die europäischen Modelle nicht unverändert übernehmen. Die Zeit der Aufklärung wird in diesen Ländern anders verlaufen, als es die Ausstellung "Kunst der Aufklärung" für Europa und für Deutschland zeigt. Jedes Land wird seinen eigenen, neuen Weg in eine aufgeklärte Moderne finden.
Wir stehen nicht am Ende der Geschichte, wir stehen am Beginn der Zukunft. Zukunft gewinnt, wer neugierig ist. Die große Neugier aufeinander, die sich auch in diesem einzigartigen Ausstellungprojekt ausdrückt, ist die beste Zukunftsversicherung für die deutsch-chinesischen Beziehungen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.