Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 12.09.2012

Untertitel: Außenminister Westerwelle in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages
Anrede: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2012/120912-BM_BT_Haushalt.html


Kolleginnen und Kollegen!

Mit großer Bestürzung haben wir von dem verabscheuungswürdigen Angriff auf das amerikanische Generalkonsulat in Bengasi und dem Tod des amerikanischen Botschafters in Libyen, Christopher Stevens, und seiner Mitarbeiter erfahren. Unsere Gedanken sind in dieser schweren Stunde bei unseren amerikanischen Freunden. Wir trauern um Botschafter Stevens und seine Kollegen. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden. Wir verurteilen die gewaltsamen Übergriffe auf Auslandsvertretungen der Vereinigten Staaten in Bengasi und Kairo auf das Schärfste. Wir appellieren an die libysche Regierung, eine lückenlose Aufklärung der Verbrechen sicherzustellen. Die Straftäter müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Ich fordere die Regierungen in Libyen und Ägypten eindringlich auf, die Sicherheit der Botschaften und Konsulate und deren Mitarbeiter in ihren Ländern in vollem Umfange zu gewährleisten.

Ich will hier klar sagen: Wir wenden uns entschieden gegen jeden Versuch, die Gefühle anderer zu verletzen und das friedliche Zusammenleben der Religionen zu unterminieren. Aber wir sind uns einig in der Auffassung: Gewalt darf kein Mittel gegen solche Provokationen sein. Die Ermordung des amerikanischen Botschafters und drei weiterer Mitarbeiter - dies wurde vor wenigen Stunden bestätigt - ist durch nichts, aber auch durch gar nichts zu rechtfertigen.

Wir spüren, dass wir, wenn wir über den arabischen Frühling sprechen, in Wahrheit über arabische Jahreszeiten sprechen müssten. So wenig wie die Geschichte der Freiheitsbewegungen auf unserem Kontinent in jedem Land identisch verlaufen ist - wir Deutsche wissen das ganz besonders gut - , so wenig verläuft auch die Geschichte der Transformation, des Aufbruchs in der arabischen Welt nach demselben Strickmuster, in derselben Geschwindigkeit, in derselben Weise.

Es gibt Länder, die einen revolutionären Weg gewählt haben. Es sind Länder wie beispielsweise Tunesien, die sich trotz allem, was noch im Argen liegt, mehr und mehr zum Vorbild für viele andere Länder und ihre Freiheitsbewegungen empfehlen. Es gibt Länder wie Ägypten, die sich auf den Weg gemacht haben. Trotz all der großen Schwierigkeiten möchte ich hier sagen: Dass wir es zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens mit einem demokratisch gewählten Präsidenten zu tun haben, das ist etwas, das unsere Anerkennung und Würdigung finden sollte trotz allem, was wir noch an Fragilitäten und übrigens auch an Kritikwürdigem - ich denke an die Rolle der deutschen politischen Stiftungen in Ägypten - auszusetzen und zu bemerken haben.

Wir erleben in Libyen, dass auch die Freiheit noch nicht gewonnen ist. Das zeigen diese furchtbaren Anschläge. Wir erleben evolutionäre Entwicklungen in der arabischen Welt; ich denke beispielsweise an die Marokkaner, aber auch an die Golfregion. Wir erleben, dass es dort unterschiedliche Wege gibt. Aber eines haben all diese Entwicklungen gemeinsam: Es sind Entwicklungen, die nach Freiheit und neuen Lebenschancen drängen. Unfreiheit kann vieles ignorieren, aber nicht die demografische Entwicklung dieser Länder. Viele junge Menschen kommen nach. Sie suchen nach Chancen. Sie fragen nicht nur nach politischer, demokratischer Partizipation, sondern in Wahrheit ausdrücklich auch nach besseren ökonomischen und sozialen Chancen für sich und ihre Familien. Wir wollen nicht vergessen, wie es in Tunesien begann. Es war der Protest gegen Armut und Unterdrückung.

Deshalb ist es mir wichtig, auch wenn wir uns im Augenblick verständlicherweise ganz stark mit unseren eigenen europäischen Fragen zu beschäftigen haben, dass wir nicht aus den Augen verlieren, welche historischen Umbrüche in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gerade stattfinden. Weil wir uns selber 1989/1990 die Demokratie errungen haben, haben wir auch die Verpflichtung, den Völkern beizustehen, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralität, übrigens ausdrücklich auch religiöse Pluralität, setzen, die diesen Aufbruch wagen. Wir stehen an der Seite dieser Transformationsländer. Auch wenn wir selbst unsere Probleme haben, vergessen wir nicht diese Freiheitsbewegungen in unserer Nachbarschaft.

Die Lage in Syrien ist unverändert bestürzend. Wir alle sind uns darüber einig, dass nicht nur die Gewalt in Syrien, sondern auch die mangelnde Handlungsfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft viele Fragen aufwerfen.

Es besteht kein Zweifel daran: Die Zeit von Assad ist vorbei. Wann der Zeitpunkt kommen wird, werden wir noch sehen. Wir hoffen, bald. Wir hoffen, schnell. Je eher Russland und China dem Regime von Assad ihre schützenden Hände entziehen, umso schneller wird auch die Gewalt ein Ende finden.

Wir haben eine strategische Partnerschaft mit Moskau und Peking. Das wird uns aber nicht davon abhalten, die Blockadepolitik von China und Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen laut und deutlich zu kritisieren.

Wichtig ist, dass wir es durch unsere Arbeit schaffen, die Oppositionskräfte in Syrien zu einigen bzw. zusammenzuführen und dabei zu helfen, dass sie sich auf eine Plattform verständigen. Es reicht nicht aus, nur die Opposition gegen etwas zu sein, in diesem Fall gegen das grausame Regime von Assad. Es ist auch wichtig, für etwas einzutreten, Alternativen aufzuzeigen und dazu beizutragen, dass der Erosionsprozess im inneren Zirkel dieses Regimes voranschreiten kann. Wir setzen uns ein für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für Pluralität und ausdrücklich auch für religiöse Toleranz. Wir wollen ein neues Syrien, wir wollen ein freies Syrien, und wir wollen dabei helfen, dass das gelingt. Aber es muss ein Syrien sein, in dem alle Religionen und alle Ethnien ihren Platz haben und frei und ungehindert ihren Glauben ausüben und ihr Leben leben können. Es sind also auch Wertepartnerschaften, die wir eingehen.

Wir alle spüren, dass der Nahe Osten vor einer außerordentlich fordernden Zeit steht. Die Lage in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist gefährlich. So sehr sich die allermeisten Abgeordneten über den heutigen Tag für Europa freuen, so sehr dürfen wir nicht die Risiken in unserer unmittelbaren Nachbarschaft unterschätzen. Wir müssen hinsehen und uns im Klaren darüber sein: Der Friede steht auf der Kippe. Es ist nicht ausgemacht, dass die Entwicklung in vielen dieser Länder friedlich voranschreitet. Das bezieht sich nicht nur auf Syrien und die andauernde Gewalt, sondern ausdrücklich auch auf den Iran.

Als jemand, der in den letzten Jahren auf internationaler Ebene immer wieder dafür geworben hat, die Hand für Verhandlungen auszustrecken, sage ich: Verhandlungen sind kein Selbstzweck. Verhandlungen, die nur dazu dienen, auf Zeit zu spielen, werden wir nicht akzeptieren. Eine atomare, nukleare Bewaffnung des Iran ist für uns nicht akzeptabel, und zwar nicht nur deshalb, weil wir eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels haben, sondern auch, weil wir nicht zulassen können, dass in der Region ein atomarer Rüstungswettlauf beginnt, in dessen Zuge sich ein Staat nach dem anderen atomar bewaffnet, mit all den Risiken, die damit verbunden sind.

Wir verlangen vom Iran, dass er das internationale Recht einhält. Ansonsten werden wir weiter an der Sanktionsschraube drehen müssen; daran führt kein Weg vorbei. Ich sage dies mit großem Nachdruck und mit dem vollen Ernst der Worte: Wir wollen eine politische und diplomatische Lösung; dafür ist es noch nicht zu spät. Aber jeder muss wissen: Eine atomare Bewaffnung des Iran ist nicht akzeptabel. Sie ist nicht akzeptabel für Israel, nicht akzeptabel für die Region und nicht akzeptabel im Hinblick auf die stabile Sicherheitsarchitektur der Welt.

Schließlich und letztlich bedanke ich mich bei allen, die im Haushaltsausschuss, im Auswärtigen Ausschuss, im Europaausschuss und im Unterausschuss "Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik" mit uns zusammengearbeitet haben.

Ich will mit einer Bemerkung schließen, die weit über die auch technischen Aspekte dessen hinausgeht, worüber heute Morgen in der Debatte im Zusammenhang mit dem wichtigen und glücklichen Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesprochen worden ist: Ich glaube, wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, wie wir die Geschichte Europas, auch in den Augen der Bürger, neu schreiben. Es reicht nicht aus, den jungen Menschen zu sagen: Europa ist die Antwort des Friedens auf Jahrhunderte mit vielen Kriegen und Konfrontation. Es ist wichtig, dass wir erkennen: Europa ist nicht nur die Antwort auf Geschichte, nicht nur die Antwort auf das dunkelste Kapital der deutschen Geschichte, sondern in Wahrheit ist Europa auch eine Schicksalsgemeinschaft, eine Kulturgemeinschaft.

Ich bin jetzt seit drei Jahren Außenminister. Mit dem Autoritätsgewinn durch wirtschaftliche Erfolgsgeschichten in den neuen Kraftzentren der Welt, den ich in diesen drei Jahren erlebt habe, ist auch ein politischer Autoritätsgewinn verbunden. Kein Land in Europa wird die Herausforderungen durch die Globalisierung allein bestehen können. Wir werden nur gemeinsam, indem wir unsere Kräfte bündeln, bestehen können und im Wettbewerb, aber auch in einer Partnerschaft mit den neuen Kraftzentren der Welt unser europäisches Lebensmodell verteidigen können. Wir müssen den Selbstbehauptungswillen Europas als Kulturgemeinschaft leben. Das ist mehr als Binnenmarkt und Währungsunion.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.