Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 18.09.2012

Untertitel: Rede Außenminister Westerwelles zur Eröffnung der Konferenz "Der Wert Europas"
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2012/120918-BM_Wert_Europas.html


Es gilt des gesprochene Wort --

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich begrüße Sie herzlich zur Konferenz "Der Wert Europas". Der Titel ist Programm.

Das Europäische Projekt steht in der Bewährung. Die Schuldenkrise ist zu einer Vertrauenskrise Europas geworden.

Auf anderen Kontinenten wächst das Selbstbewusstsein. In Europa wachsen die Selbstzweifel. Das müssen wir ändern. Es wird Deutschland auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa auf Dauer schlecht geht.

Wir wollen heute gemeinsam den Blick dafür schärfen, dass Europa für mehr steht als für Zinsspreads und Rettungsschirme. Europa hat seinen Preis. Es hat aber vor allem seinen Wert.

Das geeinte Europa von heute ist eine Kultur- und Schicksalsgemeinschaft.

Ihre Grundwerte sind die Werte der Freiheitsrevolutionen von 1789 und 1989: die unveräußerliche Würde jedes Menschen, die Freiheit des Einzelnen, der Schutz von Minderheiten im Rechtsstaat und die Teilhabe aller an der Demokratie.

Zu Europas Fundamenten gehört die Aufklärung. Darin steckt die Überzeugung, dass Zweifel und konstruktive Kritik nicht nur zulässig, sondern notwendig sind, um den Weg zu vernünftigeren, besseren Lösungen zu ebnen. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir heute um den richtigen Weg für unser europäisches Projekt ringen.

Die richtige Lehre aus der Krise ist "mehr Europa". Es muss jetzt aber auch um ein "besseres Europa" gehen. Dafür müssen wir auch die Kritik und die Kritiker ernst nehmen.

Ich bin aber auch davon überzeugt, dass es allein mit einer vernünftigen Lösung nicht getan ist. Wenn wir Vertrauen in Europa gewinnen und wiedergewinnen wollen, dann brauchen wir Vernunft und Leidenschaft.

Von unserem Handeln in der Schuldenkrise wird abhängen, wie die Europäer künftig auf das europäische Projekt blicken, hadernd und verzagt oder zuversichtlich und mit Selbstvertrauen.

Wir prägen heute auch das Bild Europas in einer Welt im Wandel. Ohne Selbstbehauptungswillen wird Europa der Ruf ereilen eines alten und alternden Kontinents, der gegenüber den aufstrebenden Kraftzentren unserer Zeit ins Hintertreffen gerät. Europa hat die Kraft und die Kreativität, die Menschen über seine Grenzen hinaus zu inspirieren.

Schließlich entscheidet sich, wie wir künftig als europäische Nachbarn zueinander stehen werden. Jetzt erweist sich, ob uns eine Wiederkehr alter Ressentiments auseinander driften lässt, oder ob unsere Gemeinschaft unter dem Druck der Krise enger zusammenwächst.

Die europäische Einigung hat uns sechs Jahrzehnte der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands gebracht. Gleichzeitig ist es für uns als Zukunftsprojekt von unschätzbarem Wert. Wir erleben eine tiefgreifende Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Welt. Indien allein wird bald dreimal so viele Einwohner haben wie die Europäische Union. Der relative Einfluss der europäischen Staaten nimmt ab. Unseren Werten und Interessen werden wir künftig nur noch als geeintes Europa wirkungsvoll Gehör verschaffen können.

Aber wir erleben eine Renationalisierung in den Debatten bei uns. Und wir sehen eine Fundamentalisierung der Stimmungen woanders. Das hat mehr miteinander zu tun, als wir auf den ersten Blick glauben wollen. Beides sind gefährliche Reaktionen auf unsere Welt im Wandel. Renationalisierung und Fundamentalismus sind des gleichen Geistes Kind.

Protektionismus und Abschottung sind der wirtschaftspolitische Irrweg einer gesellschaftspolitischen Fehlentwicklung. Das alles gefährdet unsere Freiheit. Das alles gefährdet unseren Wohlstand.

Auf drei Fragen müssen wir in diesen Monaten überzeugende Antworten geben:

Erstens, wie müssen wir handeln, um die akute Krise zu überwinden?

Zweitens, welche Lehren ziehen wir, um Europas Zusammenhalt in Zukunft zu sichern?

Und drittens, welches Europa wollen, welches Europa brauchen wir jenseits der Krise, um den Gestaltungsaufgaben von morgen gerecht zu werden?

Zunächst müssen wir die gegenwärtige Krise meistern. Auf diesem Weg haben wir große Fortschritte gemacht. Fiskalpakt, dauerhafter Rettungsschirm und Wachstumspakt haben einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Europa eingeleitet.

Es ist eine gute Nachricht für Europa, dass das Bundesverfassungsgericht den Weg für die Ratifizierung des Fiskalpakts und des ESM-Schirms frei gemacht hat. Mit ein wenig Glück kann dieser September im Rückblick zum Wendemonat der Schuldenkrise in Europa werden.

Der Dreiklang von Solidität, Solidarität und Wachstum bietet keine schnelle und keine einfache Lösung, aber er setzt bei den Ursachen der Krise an. Wir gehen die übermäßigen staatlichen und privaten Schulden an, die sich über Jahre angehäuft haben. Wir bekämpfen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die unzureichende Wettbewerbsfähigkeit in Teilen der Eurozone. Wir korrigieren die Schwächen in der Architektur unserer Währungsunion, die in der Krise zutage getreten sind.

Das beginnt Wirkung zu zeigen. Irland ist auf gutem Weg zurück an die Kapitalmärkte. Portugal erwirtschaftet erstmals seit 70 Jahren einen Leistungsbilanzüberschuss. Griechenland hat sein Defizit drastisch reduziert und seine Exporte beginnen zu wachsen. Damit ist die Krise noch nicht überwunden. Aber diese Zahlen stehen für einen Silberstreif am Horizont. Wir müssen in Europa auch die Ohren für gute Nachrichten öffnen.

Gerade in einer Krise lohnt es, den Blick zu weiten und auf den Horizont zu lenken. Nicht als Ablenkung, sondern um den richtigen Kurs zu halten.

Aus dieser Überlegung heraus haben wir im März dieses Jahres eine informelle Gruppe elf europäischer Außenminister zusammengerufen. Seitdem haben wir in zahlreichen intensiven Gesprächen Vorschläge zur Weiterentwicklung des Einigungswerks ausgearbeitet.

Gestern Abend haben wir in Warschau unsere Ideen in einem gemeinsamen Papier zusammengefasst. Viele dieser Vorschläge haben wir bereits mit dem Europäischen Parlament diskutiert. In den nächsten Tagen werden sie auch dem Präsidenten des Europäischen Rats, Herman van Rompuy, und dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, vorstellen. Wir verstehen das als Anstoß und Beitrag zu einer notwendigen Debatte.

Im Vordergrund stand für uns die Frage: Welches Europa brauchen und wollen wir? Auf welchem Weg und in welchen Etappen wir dieses Ziel erreichen können, wird in einem zweiten, späteren Schritt auszuloten sein.

In der Sache muss es jetzt absolute Priorität haben, Europa krisenfest zu machen. Damit wir das schaffen, müssen wir die Konstruktionsschwäche des Euro beheben und unsere Währungsunion um eine sinnvolle, engere Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik, der Finanzpolitik und der Haushaltspolitik ergänzen. Das ist der Sprung in eine neue Qualität der europäischen Einigung.

Wir schlagen vor, auf europäischer Ebene Schritt für Schritt einen integrierten wirtschaftspolitischen Rahmen zu entwickeln, um gemeinsam neue Wachstumskräfte freizusetzen. Dazu gehört die Vollendung unseres Binnenmarktes. Allein ein echter gemeinsamer europäischer Markt für Dienstleistungen kann die Wirtschaftsleistung der EU um über 100 Milliarden Euro erhöhen. Dazu gehört, dass wir die Energiewende nur gemeinsam in Europa zu einem Erfolg führen können. Dazu gehört, dass wir die Chancen des Aufstiegs neuer Kraftzentren in der Welt nutzen, in dem wir zügig strategische Partnerschaften mit ihnen eingehen und Freihandelsabkommen mit ihnen schließen.

Die Krise hat ernste Probleme im europäischen Bankenwesen offengelegt. Dass der Anteil grenzüberschreitender Kredite auf den Geldmärkten im letzten Jahr um ein Drittel zurückgegangen ist, ist ein Warnsignal. Zu einer Fragmentierung des europäischen Finanzmarkts dürfen wir es nicht kommen lassen. Deshalb wollen wir Europa einen integrierten Finanzrahmen geben.

Die Aufsicht über systemrelevante Banken sollten wir künftig auf europäischer Ebene regeln, mit einer entscheidenden Rolle für die Europäische Zentralbank.

Schließlich braucht Europa einen stärker integrierten Fiskalrahmen. Wir schlagen vor, der europäischen Ebene größere Mitsprache bei der Aufstellung und Kontrolle nationaler Haushalte einzuräumen. Kein Mitgliedsstaat darf durch sein Handeln die Solidität der Währungsunion gefährden. Kommt es dennoch dazu, muss die Staatengemeinschaft tätig werden dürfen und können. Auch das wird neues Vertrauen in den Zusammenhalt der Währungsunion begründen.

Dagegen bin ich überzeugt, dass es falsche Anreize setzen würde, eine unbegrenzte gesamtschuldnerische Haftung einzuführen. Sie würde uns überfordern, und zugleich diejenigen unterfordern, die jetzt ihre Energie daran setzen müssen, durch Reformen die Trendwende zu schaffen.

Das ist alles andere als eine Absage an ein solidarisches Europa. Im Gegenteil, durch den Rettungsschirm ESM werden wir den Grundsatz der Solidarität in Europa dauerhaft verankern.

Für eine solche, fester gefügte Währungsunion ist ein vierter Baustein von entscheidender Bedeutung. Wenn wir der europäischen Ebene neue Zuständigkeiten geben, brauchen wir auch entsprechende demokratische Mitsprache. Ein Europa ohne angemessene demokratische Legitimation wäre auf Sand gebaut.

Wo die Zuständigkeiten der Europäischen Union berührt sind, müssen wir dabei dem Europäischen Parlament seine Rolle geben. Aber auch die Parlamente der Mitgliedsstaaten müssen ihre Verantwortung weiterhin wahrnehmen können.

In Fragen der Wirtschafts-und Fiskalpolitik schlagen wir vor, auch über neue Formen parlamentarischer Zusammenarbeit zwischen europäischer und nationaler Ebene nachzudenken.

Wir müssen die Debatte über das Europa der Zukunft immer auch als Debatte über die Demokratie in Europa führen.

Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Europa im Inneren krisenfest zu machen. Wir müssen schon heute weiter denken: Welches Europa brauchen wir, um die gewaltigen weltpolitischen Umbrüche unserer Zeit zu meistern?

Ein umfassender Ansatz europäischer Diplomatie muss die vielen Facetten europäischer Außenpolitik zu einem Ganzen bündeln, von der Sicherheitspolitik über die Energiepolitik bis hin zur Handelspolitik.

Wir schlagen vor, unsere europäische Sicherheitsstrategie zu einer Globalisierungsstrategie weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch, Europas Interessen gegenüber seinen strategischen Partnern in der Welt zu bündeln und gemeinsam zu vertreten.

Am Ende des Weges, den wir jetzt einschlagen, muss eines Tages eine Politische Union stehen. Sie würde unsere Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. Zugleich würde sie eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im vollen Wortsinn verwirklichen.

Diese Politische Union der Zukunft muss auf dem Fundament einer europäischen Gewaltenteilung stehen. Mit einem Parlament, das europäische Gesetze erlässt. Mit einer Kommission, die die Arbeit einer europäischen Regierung verrichtet, und deren Präsident aus direkter Wahl hervorgeht. Und mit einem Rat, der als zweite Kammer die Anliegen der Mitgliedsstaaten vertritt.

Es wird viele Jahre brauchen, dieses Europa der Zukunft zu bauen. Zu gegebener Zeit werden wir auf diesem Weg auch die Debatte über einer europäischen Verfassung neu zu führen haben.

Aber schon heute ist das Nachdenken über unsere europäische Zukunft jenseits der Krise weder Luxus noch Träumerei. Es wird im Gegenteil seinen Teil dazu beitragen, Orientierung und Vertrauen in Europa entstehen lassen.

Nur im geeinten Europa gibt es eine gute Zukunft für Deutschland. Es gilt, das Einigungswerk mit aller Entschlossenheit weiterzuführen. Das ist die gemeinsame Botschaft der Zukunftsgruppe. Dieser Weg wird uns allen noch Manches abverlangen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns heute gemeinsam unter Europäern vergewissern: Europa ist es wert.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.