Redner(in): Michael Roth
Datum: 29.01.2014
Untertitel: Eröffnungsrede von Staatsminister Roth beim Neujahrskonzert der Visegrád-Gruppe im Berliner Dom
Anrede: sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140129-StM_EU_Berliner_Dom.html
Exzellenzen,
herzlichen Dank für die Einladung von Botschafter Dr. József Czukor zum heutigen Neujahrskonzert hier im Berliner Dom. Es ist mittlerweile eine gute Tradition, dass die amtierende Präsidentschaft der Visegrád-Gruppe dieses Jahr Ungarn zum jährlichen Konzert einlädt.
Über 20 Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1991 blickt die Visegrád-Gruppe heute auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurück: Die Integration von Ungarn, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik in die Europäische Union und die NATO hat maßgeblich zu Frieden, Wohlstand, Stabilität und Sicherheit in Europa beigetragen. In diesem Jahr feiern wir bereits die zehnjährige Mitgliedschaft Ihrer vier Länder in der EU. Der gemeinsame EU-Beitritt der Visegrád-Gruppe zum 1. Mai 2004 war ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur europäischen Einigung. Die Anstrengungen und die Anpassungsleistung von Politik und Wirtschaft, vor allem aber auch der Bürgerinnen und Bürgern auf dem Weg in die EU waren enorm; dies kann man gar nicht oft genug betonen.
Doch gemeinsam geht sich ein beschwerlicher Weg bekanntlich leichter. In einer immer größer und heterogener werdenden EU ist die Zusammenarbeit zwischen Gruppen von Mitgliedstaatendaher nicht nur sinnvoll, sondern auch wünschenswert. Es nützt letztlich nicht nur den beteiligten Staaten, sondern auch der EU als Ganzes, wenn eine Gruppe von Mitgliedstaaten entschlossen an einem Strang zieht und gemeinsame Positionen vertritt. In Europa haben sich mittlerweile verschiedenste regionale Formate in der Praxis bewährt z. B. der deutsch-französische Ministerrat, das Weimarer Dreieck, die "Nordics" oder eben die Visegrád-Gruppe.
Der ungarische Vorsitz in der Visegrád-Gruppe [ab 01. 07. 2014: Slowakei] fällt in diesem Jahr mit mehreren denkwürdigen Jahrestagenzusammen: 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre deutscher Überfall auf Polen und 25 Jahre friedliche Revolution in Mittel- und Osteuropa, die zum Fall des Kommunismus geführt hat. Nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Visegrád-Staaten waren das einschneidende Ereignisse.
Die gemeinsame europäische Geschichte verbindet unsere Länder. Wir in Deutschland werden nie vergessen, wie viel unser Land den Visegrád-Staaten zu verdanken hat. Lassen Sie mich exemplarisch nur einige historische Wegmarken benennen: Der Prager Frühling des Jahres 1968, die Aushöhlung des kommunistischen Systems von innen durch die polnische "Solidarność" -Bewegung, das "Paneuropäische Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze im August 1989 oder der Ansturm von tausenden Flüchtlingen aus der DDR auf die deutsche Botschaft in Prag. Das alles zeigt: Es ist nicht zuletzt der historische Verdienst von Ungarn, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik, mit viel Mut und Weitsicht den Weg zur deutschen Einheit und zu einem Europa ohne Binnengrenzengeebnet zu haben.
Nach zehn Jahren EU-Mitgliedschaft der Visegrád-Staaten fällt die Zwischenbilanz positiv aus. Die Überwindung der Teilung in Europa zeigt, dass die Europäische Union das erfolgreichste Friedens- und Demokratieprojektin der wechselhaften europäischen Geschichte ist dafür hat sie im Jahr 2012 auch zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten. Gemeinsam haben wir in Europa bereits viel erreicht und wir wollen diesen Weg auch künftig miteinander gehen. Die EU darf niemals nur eine Angelegenheit der "Großen" sein. Denn wenn wir in Europa wirklich Großes vollbringen wollen, dann brauchen wir dafür vor allem die mittleren und kleineren EU-Länder. Daher sind die Visegrád-Staaten für Deutschland als europäische Partner wichtiger denn je.
Die vergangenen Jahre waren vor allem geprägt von einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Doch auch wenn unser Fokus zuletzt maßgeblich auf der Stabilisierung der Eurozone und der Förderung von Wachstum und Beschäftigung lag, dürfen wir niemals vergessen: Europa ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion, Europa ist vor allem eine einzigartige Wertegemeinschaft. Denn der innere Zusammenhalt in Europa beruht maßgeblich darauf, dass wir dieselben Wertvorstellungen teilen. Doch zuletzt hat sich wiederholt gezeigt, wie brüchig das Fundament der vielbeschworenen Werteunion geworden ist. Das erinnert uns daran: Unser gemeinsames Wertefundament ist keine pure Selbstverständlichkeit, sondern es muss jeden Tag aufs Neue gepflegt und verteidigt werden.
Ich stehe immer noch unter dem nachhaltigen Eindruck meiner Reise nach Thessaloniki am vergangenen Wochenende und der Gedenkstunde im Bundestag am Montag, wo wir in dieser Woche der Opfer des Nationalsozialismus gedacht haben. Die Erinnerung an den Holocaust, an die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger ist für uns Deutsche eine bleibende Aufgabe. Wir müssen auch künftig achtsam bleiben. Denn Antisemitismus, Fremdenhass und Homophobie sind mitnichten Probleme von gestern, sie machen sich auch heute noch in unseren Gesellschaften breit. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, kulturelle und religiöse Vielfalt, soziale Inklusion, Schutz von Minderheiten: Diese Grundwerte müssen wir nach innen uneingeschränkt vorleben, um sie auch nach außen glaubhaft einfordern zu können. Und wenn in einem Mitgliedstaat tatsächlich demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien in Bedrängnis geraten, dann benötigen wir wirksame Instrumente und Mechanismen auf europäischer Ebene, die es vermögen, unsere Wertegemeinschaft konsequent zu schützen. Selbstverständlich gilt: Dieser neue Mechanismus zum Schutz unserer Grundwertemuss auf objektiven Kriterien beruhen und für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten egal ob groß oder klein, Gründungsmitglied oder neu beigetretenes Land.
Ich lade die Visegrád-Staaten herzlich dazu ein, sich dieser Initiative der Bundesregierung anzuschließen. Ihre Länder haben dem Rest Europas vor 25 Jahren gezeigt, wie man Mauern einreißt und damit den Weg frei gemacht für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam daran arbeiten, dass die Wertegemeinschaft, die wir uns damals gemeinsam erkämpft haben, auch dauerhaft stark bleibt.
In wenigen Wochen, im Mai 2014, wählen wir ein neues Europäisches Parlament. Es ist die erste Europawahl im Zeichen der Krise. Diese Krise hat ganz unterschiedliche Gesichter: Schuldenkrise, Finanzmarktkrise, Wirtschaftskrise, soziale Krise, Krise der Grundwerte. Im gemeinsamen Kampf gegen diese vielschichtige Krise haben wir bereits viel erreicht, doch es bleibt noch viel zu tun. Besonders schwer wiegt, dass die EU im Zuge der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen in eine dramatische Vertrauenskrise geraten ist. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen Europa heute nicht mehr als Teil der Lösung, sondern vielmehr als Teil des Problems.
Dieser massive Vertrauensverlust der EU ist Wasser auf den Mühlen der europaskeptischen und rechtspopulistischen Parteien, die überall auf unserem Kontinent auf dem Vormarsch sind. Diesen Kräften dürfen wir Europa nicht überlassen denn sie haben nur plumpe Parolen, aber keine Lösungen für die drängenden Probleme anzubieten. Wir müssen die Auseinandersetzung in der Sache suchen, denn ich bin überzeugt: Wir haben die besseren Argumente auf unserer Seite.
Es bleibt eine große Herausforderung und Aufgabe für uns alle, den Mehrwert Europas für die Menschendeutlich zu machen. Europa muss von den Bürgerinnen und Bürgern endlich wieder als Problemlöser statt als Problemverschärfer wahrgenommen werden. Den Menschen, die in der Krise das Vertrauen in die Stärke Europas verloren haben, müssen wir endlich beweisen: Europa lässt Euch mit Euren Sorgen und Ängsten nicht alleine!
Für ein besseres Europa für ein Europa der Solidarität, des sozialen Zusammenhalts und der gemeinsamen Werte lohnt es sich zu kämpfen. Denn wie sagteschon der große Europäer Václav Havel: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht."
Lassen Sie mich mit einer Bemerkung zum trefflich ausgesuchten Musikprogrammschließen: Es ist passend, die Visegrád-Länder und Europa mit einem Konzert zu feiern, denn ihre Länder haben in Europa eine neue Melodie erklingen lassen. Und die folgenden Stücke sind wahrhaft europäisch, denn die Komponisten und ihre Werke, die ihre Wurzeln je in einem europäischen Land hatten, sind doch Künstler und Kulturgut ganz Europas geworden. Sie zeigen Europas Vielfalt und Schönheitin besonderem Maße.
Lassen Sie uns diese europäische Musik gemeinsam genießen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.