Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 21.10.2014
Untertitel: "Wo beginnt Willkommenskultur" - Rede von Außenminister Steinmeier
Anrede: Sehr geehrte Frau Seiler-Albring,Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/141020_BM_IFA.html
Verehrte Frau Ministerin, liebe Bilkay,
Woher -glauben Sie- stammt dieser Liedtext? Von einer sonnengetränkten Insel im azurblauen Meer?
Nein, aus Berlin-Kreuzberg!
1969 kam der junge Musiker Nuri Karademirli nach Berlin, gründete einen türkischen Chor im Wedding, und später ein Konservatorium für türkische Musik in Kreuzberg. Vor wenigen Wochen ist Nuri gestorben, doch am Konservatorium musizieren weiterhin junge Menschen im Chor und mit traditionellen Instrumenten. Ihre Lieder sind heute ' Heimatlieder aus Deutschland ' .
Ich empfehle Ihnen wärmstens den Besuch des wunderbaren Bühnenprojekts ' Heimatlieder aus Deutschland ‘ , das uns Augen und Ohren öffnet für Menschen und Musik, die in Deutschland Heimat gefunden haben.
Warum komme ich Ihnen mit diesem Heimatlied?
Weil über unserer Veranstaltung der Titel steht: "Wo beginnt Willkommenskultur?"
Ich glaube: Willkommenskultur beginnt mit einem ' mentalen Update ' : In welchem Deutschland leben wir eigentlich heute?
In einem Deutschland, in dem jeder Fünfte von uns familiäre Wurzeln im Ausland hat. In einem Deutschland, in dem die Heimatlieder nicht mehr nur "Geh aus mein Herz" heißen, oder "Im Frühtau zu Berge". Sondern eben auch "Adalardàn bir yâr gelìr bìzlere" das Lied von der Inselschönheit.
Ich glaube: Nur, wenn wir unser Land so sehen so, wie es heute wirklich ist — , beginnt Willkommenskultur.
Dann wird "Willkommenskultur" eben keine wohlfeile Floskel, die Politiker so gern mögen Sondern dann ist "Willkommenskultur" eine anspruchsvolle Selbstverpflichtung! Er bedeutet nicht nur einem Fremden höflich die Tür aufzuhalten. Sondern auch bereit zu sein, gemeinsam die Wohnung zu renovieren! Selbst wenn man sich über die Tapetenfarbe manchmal streitet.
Über beide Aspekte will ich heute sprechen. Zunächst zum "Tür-Aufhalten".
Wir brauchen offene Türen!
Wir brauchen sie wirtschaftlich ich glaube, dieses Argument ist in der Öffentlichkeit verstanden worden. In nur zehn Jahren wird Deutschland 6,5 Millionen weniger Menschen im Arbeitsalter haben 6,5 Millionen! Mehr braucht man dazu eigentlich gar nicht sagen.
Wir brauchen offene Türen aber auch aus außenpolitischer Sicht und das ist ein Argument, das weniger oft beleuchtet wird: Stellen Sie sich die Welt als Waage vor. In den nächsten Jahrzehnten wird das Gewicht von Deutschland, Europa, dem Westen insgesamt abnehmen, und das von neuen Playern zunehmen in Asien, Lateinamerika, auch in Afrika, und zwar in allen Kategorien, die man "Hard Power" nennt: Bevölkerungswachstum, Wirtschaftskraft, militärische Stärke, politisches Gewicht. Umso mehr kommt es auf "Soft Power" an! Darauf, dass das, wofür wir stehen, attraktiv ist für die Welt: unser Modell einer freien und offenen Gesellschaft, unsere Idee einer sozialen Marktwirtschaft.
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik mit all ihren Mittlerorganisationen, nicht zuletzt unserem heutigen Gastgeber, dem Institut für Auslandsbeziehungen- setzt sich diese Anziehungskraft zum Ziel. Denn offene Türen sind das eine es muss aber auch jemand durchgehen wollen …
Das Türaufhalten hat rechtliche und praktische Seiten.
Auf der rechtlichen Seite sind wir weit gekommen. Der größte Schritt war 1999 die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Mit der Abschaffung der Optionspflicht haben wir jetzt den logischen nächsten Schritt getan. Heute hat Deutschland das vielleicht liberalste Zuwanderungsrecht der Welt.
Dann aber die lebenspraktischen Seiten. Zum Beispiel ist da ein nicht ganz triviales Detail: die deutsche Sprache. Das Auswärtige Amt hat einen Schwerpunkt auf das Erlernen der deutschen Sprache gesetzt denn das beginnt im Ausland, und zwar entlang der gesamten Bildungsbiographie von den Auslandsschulen über den DAAD bis zu den Goetheinstituten. Denen, die zu uns kommen, soll es am Ende nicht so gehen wie Mark Twain, der als alter Mann gerufen hat: "Jetzt verstehe ich, warum es das ewige Leben gibt damit wir im Himmel Deutsch lernen können!"
14 Millionen Menschen in aller Welt, die meisten davon Schüler, lernen heute Deutsch. Das sind die entscheidenden Zugänge zu uns! Doch dann, in Deutschland angekommen, muss man sich zurechtfinden können! Genau dafür eröffnet hier in Stuttgart übermorgen ein Willkommenszentrum.
Und genau deshalb finanziert das AA das Betreuungsprogramm "STIBET" des Deutschen Akademischen Austauschdienstes: Studierende aus dem Ausland sollen nicht nur an deutsche Unis kommen, sondern dort auch die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, damit sie das Studium abschließen und hoffentlich auch einen Job bei uns anfangen.
Lassen Sie mich zu offenen Türen noch ein Letztes sagen: Es gibt keine gute und schlechte Zuwanderung! Sondern wir müssen uns ganzheitlich darauf einstellen, dass diese Welt immer mehr in Bewegung gerät: es wird auf absehbare Zeit mehr Migrationsströme geben, und infolge der vielen internationalen Krisen leider auch mehr Flüchtlingsströme. Ich jedenfalls bin offen für jeden Vorschlag, wie wir die europäische Flüchtlingspolitik verbessern können. Fest steht: Deutschland tut schon heute viel und ich finde, wir sollten in der Zukunft noch mehr tun beispielsweise in der syrischen Flüchtlingskrise. Wir haben bereits 19.000 Menschen aus der Region aufgenommen, weitere 10.000 werden kommen, und zum Winter werden wir unsere humanitäre Hilfe in der Region verstärken. Nächste Woche lade ich zu einer internationalen Syrien-Flüchtlingskonferenz ins Auswärtige Amt, um unsere Partner zu ermuntern, mitzuziehen.
Das meine ich mit dem ganzheitlichen Ansatz! Flüchtlingspolitik nicht nur zu verstehen als das Hochziehen von Zäunen. Sondern die richtigen Fragen zu stellen:
Wie packen wir die Gründe für Flucht an der Wurzel Gewalt, Armut, Verfolgung?
Wie entlasten wir die unmittelbaren NachbarländerJordanien, Libanon, die Türkei, die die allergrößten Flüchtlingsströme zu schultern haben?
Lassen Sie mich ein persönliches Beispiel erzählen: Vor einigen Wochen war ich bei einer muslimischen Familie in Berlin zum Fastenbrechen eingeladen. Es gab Reis, Bohnen, Huhn und Dattelsaft. Meine Gastgeber, Familie Abdallah, waren vor wenigen Monaten aus Syrien geflohen. Der Vater sagte zu mir: "Bis auf vier Koffer haben wir alles verloren. Aber aufgeben und nichts tun das macht mich fertig!" Also produziert Herr Abdallah, dem in Damaskus eine große Schreinerei gehörte, heute Kleiderbügel auf 15 Quadratmetern in Berlin.
Mich hat das sehr beeindruckt. Nicht nur der persönliche Mut dieser Familie. Sondern weil sie unserer Gesellschaft gut tut! Mut zum Neuanfang, Unternehmergeist das sind Eigenschaften, die uns doch nicht fremd sein sollten, sondern die uns gut tun!
Frau Kinyanjui wird uns auf dem Podium weitere Beispiele für diesen Unternehmergeist liefern können, der gerade diese Region so stark gemacht hat, wie sie ist!
Damit bin ich am Ende beim zweiten Teil von "Willkommenskultur" angekommen: nicht nur Türen aufhalten, sondern offen dafür sein, dass das eigene Zuhause sich verändert!
Deutschland ist ja, de facto, schon lange ein Einwanderungsland! Aber fühlt es sich so an?
Bei uns ist der Anteil derer, die im Ausland geboren wurden, de facto schon größer als im Einwanderungsland schlechthin, den USA. Aber gehört die Zuwanderung zu unserem Selbstbild genau so sehr wie dort?
Hätten Sie vorhin spontan gesagt, die ' Schönheit von der Insel ' ist ein Heimatlied aus Deutschland?
Ja, schwierig ist nicht das Tür-Aufhalten. Schwierig ist die eigene Veränderung!
Das gilt gerade für so alteingesessene Institutionen wie mein eigenes Auswärtiges Amt. Ich weiß, lieber Herr Lümali, dass die Wirtschaft da manchmal weiter ist als die Politik. Wir werden im Auswärtigen Amt jedenfalls stärker als bisher versuchen, Mitarbeiter mit Migrationshintergrund für uns zu gewinnen.
So schließt sich der Kreis zur Außenpolitik. Denn den Mut zur Veränderung, zum Umbau der eigenen vier Wände, den brauchen wir auch aus einem ganz dezidiert außenpolitischen Grund:
Es gibt da draußen in der Welt wahrlich viele Krisen. Wenn wir Deutsche uns einbringen wollen, wenn wir ein kleines Stück beitragen wollen zum Frieden und diesen Anspruch sollten wir haben! , dann müssen wir zuallererst eines können: die Welt verstehen! Verstehen und Verständigung sind die Voraussetzung für jede echte diplomatische Lösung.
Aber was ist eigentlich die Voraussetzung für Verstehen?
Kürzlich war ich in Indien. Mit mir war ein deutscher Schriftsteller mit indischen Wurzeln, Rajivinder Singh. Und er sagte: "Zum Verstehen braucht man einen Blick der sechs Augen. Wir sollten die Welt mit unseren Augen sehen, mit denen des anderen und mit einem gemeinsamen Blick."
Dieser Blick der sechs Augen beginnt bei uns selbst. Hier, zu Hause, müssen wir ihn lernen. Vielen Dank.