Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 15.01.2015
Untertitel: Rede von Außenminister Steinmeier zum Auftakt der deutsch-israelischen Lese- und Gesprächsreihe anlässlich des 50. Jubiläums der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen
Anrede: Sehr geehrter Botschafter Hadas-Handelsman,sehr geehrte Savyon Liebrecht,liebe Gäste,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150115-Auftaktveranstaltung_deutsch-israelische_Lese-und_Gesprächsreihe.html
verehrte Exzellenzen und Abgeordnete, und: lieber Meir Shalev, lieber Edgar Reitz! "Zweierlei Heimaten" So haben wir den heutigen Abend überschrieben, und damit eröffnen wir heute die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Und wir blicken damit gleich zu Beginn des Jubiläumjahres auf die Wurzeln unserer Beziehungen. Das Stück, das das Deutsche Symphonie-Orchester gerade für uns gespielt hat, stammt von dem jüdischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold aus Wien. Für Korngold und seine Familie konnte Österreich nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland keine Heimat bleiben. Gerade noch rechtzeitig, und unter Schmerzen, haben die Korngolds ihre alte Heimat aufgegeben. Alles aufgegeben, um zu überleben und: um neue Heimat zu suchen. Verfolgt, zur Flucht gezwungen, entwurzelt, weil sie Juden waren! Ihr Schicksal, das der Korngolds, steht stellvertretend für das Schicksal hunderttausender europäischer Juden, die während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten vertrieben wurden, die das Martyrium im KZ überlebten und schließlich eine neue Heimat fanden. Die Korngolds in den USA, viele andere aber im neuen Staate Israel. So wie die Familie von Savyon Liebrecht."Ich hatte weder Großeltern, noch Tanten noch Cousins. Aber bei uns zu Hause wurde getan, als sei das normal", haben Sie mal gesagt oder geschrieben, Savyon. Bis heute wissen Sie nicht, wie viele Ihrer Verwandten in KZs umgebracht wurden,"weil die Eltern schwiegen", haben Sie gesagt.
Die Shoa, Tod und Verfolgung, Entwurzelung das war auch die Geschichte Ihrer Familie. Und Verunsicherung und Fremdheit, die Suche nach einem Zuhause ist in vielen Ihrer Werke ein zentrales Thema. Ich bin froh, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und heute Abend hier bei uns sind. Herzlich willkommen. Die Sehnsucht des jüdischen Volkes nach Heimat ist auch ein zentrales Thema im Werk eines anderen jüdischen Schriftstellers, der heute bei uns ist: Meir Shalev, den ich ganz herzlich begrüßen darf. Der Autor von Büchern wie "Judiths Liebe" oder "Esaus Kuss", die auch hier bei uns in Deutschland viel gelesen sind, hat mit "Der Junge und die Taube" ein wundervolles und gleichzeitig doch bedrückendes Buch geschrieben. Der Sohn einer in Deutschland ermordeten Jüdin lässt im israelischen Unabhängigkeitskrieg, von tödlichen Schüssen getroffen, kurz bevor er seinen Verwundungen erliegt, eine Taube aufsteigen. Die Taube fliegt zurück zum heimatlichen Schlag. Für sie bleibt möglich, was ihm verwehrt blieb: nach Hause kommen! Krieg, Trauer, Verlust, Frieden, Identität und vor allem Heimat und Verlust derselben - diese von Meir Shalev so klug aufgeschlüsselten Leitmotive stehen geradezu sinnbildlich auch für den Ausgangspunkt der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Länder lassen sich nicht denken ohne die Narben einer schrecklichen Geschichte, die uns verbindet, ohne die Barbarei Nazideutschlands, ohne das unermessliche Verbrechen der Shoa, ohne die verlorene und die neu gefundene Heimat derjenigen, die nur überlebt haben, weil sie Deutschland verlassen haben. Dass wir 70 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz das fünfzigjährige Bestehen unserer diplomatischen Beziehungen feiern können, ist daher alles andere als selbstverständlich. Es scheint insbesondere für uns Deutsche wie ein Wunder. Es wurde möglich, weil das Land der Opfer dem Land der Täter, die Hand reichte - erst zögernd, dann entschieden. Es wurde auch möglich, weil mein Land sich zu historischer Schuld ebenso wie zu aktueller Verantwortung für das Existenzrecht Israels bekannt hat und weiter bekennt. Deutschland und Israel sind heute Teil einer gemeinsamen Heimat westlicher Demokratien. Uns verbindet heute eine Partnerschaft, deren Dichte und Tiefe vor fünf Jahrzehnten sich niemand auch nur annähernd hätte vorstellen können. Und: Es ist eine Freundschaft, die uns vieles Gemeinsame schenkt, die unsere Solidarität verlangt, wenn Israels Sicherheit bedroht ist, die aber auch das offene Wort verträgt. Unsere israelischen Freunde wissen, dass ich überzeugt bleibe, dass der gegenwärtige Status Quo im Nahen Osten keine langfristige Sicherheit für Israel schafft. Deshalb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, nachhaltige Sicherheit für Israel ist am Ende ohne einen lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staat nicht denkbar. Und dafür müssen wir arbeiten! Deutschland und Israel verbindet heute viel mehr als nur Geschichte und Nahost-Konflikt. Deutsch-israelische Beziehungen, das ist weit mehr als Regierungskonsultationen und diplomatische Routine. Das ist lebhafter Austausch in allen Bereichen, getragen von engagierten Menschen auf beiden Seiten. Jeder vierte Israeli hat Freunde in Deutschland; jeder zweite in der jüngeren Generation war selbst hier so zeigt es jedenfalls eine aktuelle Umfrage. Mehr als hundert Städtepartnerschaften, unzählige wirtschaftliche Kooperationen, zahllose kulturelle Begegnungen lassen die Verbindungen zwischen uns immer zahlreicher, immer vielfältiger und immer enger werden. Diese Fäden wollen wir für die nächsten fünfzig Jahre weiterspinnen. Das, lieber Herr Botschafter, ist unser Ziel am Anfang dieses Jubiläumsjahres.
Wie vernetzt unsere Lebenswelten mittlerweile sind, zeigen auch die vielen jungen Israelis, die sich wenn auch vielleicht nur vorübergehend - in Berlin zu Hause fühlen, ob als IT-Nerds, Musiker, Maler, Fotografen, Studenten, Wissenschaftler oder junge Unternehmer. Dass das so ist und in großer Zahl so ist, war überraschend für uns und ist - wie ich bei meinem letzten Besuch in Tel Aviv und Jerusalem erlebt habe - in der israelischen Öffentlichkeit ein großes Thema. Aber dass es so ist, ist gut so!
Unsere Beziehungen werden immer in der Verantwortung für die Vergangenheit verwurzelt bleiben. Aber auf dem erweiterten Fundament einer Gegenwart mit der Neugier junger Generationen richten sie sich noch stärker auf die gemeinsame Zukunft.
Diese gemeinsame Zukunft schafft Chancen für die jungen Menschen aus unseren beiden Ländern. Aber sie fordert auch gerade jetzt! Denn auch der gemeinsame Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gehört dazu! Es hat mich sehr bewegt, wie nach den grausamen Anschlägen in Paris Millionen Menschen in aller Welt für Freiheit und Demokratie aufgestanden sind. Auch in Jerusalem, auch in Tel Aviv, auch in Berlin und auch in Ramallah.
Unsere gemeinsame Botschaft ist unmissverständlich: Den Feinden unserer offenen Gesellschaft stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen ob sie von einer angeblichen Überfremdung des Abendlands fantasieren oder islamistische oder anti-semitische Parolen ausgeben.
Wie dringlich dieser Kampf auch hier bei uns in Deutschland ist, hat uns jüngst der brutale Überfall auf Shahak Shapira in der Berliner U-Bahn vor Augen geführt. Umso mehr freue ich mich, dass Shahak Shapira heute bei uns ist. Herzlich Willkommen.
Ich will es ganz klar sagen: Wir stellen uns entschieden gegen jene, für die Heimat noch immer für Blut und Boden steht, und die unsere Gesellschaft durch Hassparolen zu spalten versuchen.
Im Gegenteil: Wir müssen Menschen unterstützen, die aus zerfallenden Heimaten kommen, Menschen auf der Suche nach ein bisschen Glück und Geborgenheit an einem neuen Ort an einem Ort, an dem sie verstehen und hoffentlich verstanden werden.
Es freut mich, dass heute jemand zu uns gekommen ist, der sich ein Künstlerleben lang mit den brüchigen Gewissheiten von Heimat beschäftigt hat. Herzlich willkommen lieber Edgar Reitz!
50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen das ist die einzigartige Geschichte von Leid, Trauer, Schuld, Versöhnung, Partnerschaft und Freundschaft. Ich lade Sie herzlich ein, diese besondere Geschichte mit uns zu feiern und ihr einen Weg nach vorn in die nächsten 50 Jahre zu öffnen. Schön, dass Sie da sind an diesem heutigen Abend. Ein herzliches Willkommen Ihnen allen. Vielen Dank.