Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 31.01.2006

Untertitel: Rede von Bundesaußenminister Steinmeier auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London, 31.01.2006
Anrede: Herr Premierminister,Herr Präsident,Herr Generalsekretär,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2006/060131-AfghanistanKonferenz.html


es ist eine große Ehre für mich, heute hier sprechen zu dürfen.

Vor gut vier Jahren trafen sich Vertreter afghanischer Gruppen und Delegierte der internationalen Gemeinschaft auf dem Petersberg bei Bonn zur ersten großen Afghanistan-Konferenz. Sie kamen nicht ganz unvorbereitet: Schon in den Jahren zuvor hatten in Deutschland Treffen zwischen Afghanen und der internationalen Gemeinschaft stattgefunden, um über die Zukunft des Landes nach der Taliban-Herrschaft zu beraten.

Aber diese Konferenz auf dem Petersberg markierte den Anfang einer neuen Zeit: Hier wurden die Weichen für den umfassenden Wiederaufbau des Landes gestellt nach jahrzehntelangem Krieg und Bürgerkrieg und nach der furchtbaren Unterdrückung durch die Taliban. Die Aufgabe, die in Bonn gelöst werden musste, war enorm. Sie stellte sowohl die Afghanen wie auch die internationale Gemeinschaft vor ungeahnte Herausforderungen.

Heute, vier Jahre später, befinden wir uns in einer neuen Phase. Mit dem Zusammentritt des afghanischen Parlaments am 19. 12. des letzten Jahres ist der Bonn-Prozess zu Ende gegangen und ich bin überzeugt: erfolgreich zu Ende gegangen.

Um uns zu vergegenwärtigen, wie erfolgreich diese Prozess war, müssen wir uns die Ausgangslage 2001 vor Augen führen: Nach 22 Jahren Krieg und Bürgerkrieg war Afghanistans materielle und institutionelle Infrastruktur fast komplett zerstört. Große Teile der Bevölkerung waren in die Nachbarstaaten geflohen. Seit Jahren hatte es keinen regulären Schul- oder Hochschulbetrieb mehr gegeben. Stattdessen wurden Kinder permanenten Kampfhandlungen ausgesetzt. Frauen und Mädchen wurden systematisch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Ethnische Minderheiten wurden unterdrückt und hatten kaum Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Leben. Das Land war international isoliert.

Afghanistan hat seither eine eindrucksvolle Entwicklung vollzogen. Die im Bonner Abkommen festgelegten Schritte wurden ausnahmslos in die Tat umgesetzt: Die afghanische Bevölkerung hat eine neue Verfassung verabschiedet. Am 09. Oktober 2004 wurde mit Ihnen, Herr Präsident, erstmals in der Geschichte Afghanistans ein Staatsoberhaupt frei gewählt. Am 18. September 2005 fanden nach 36 Jahren zum ersten Mal wieder Parlamentswahlen statt. Der Wiederaufbau der Infrastruktur und der Institutionen, so beispielsweise von Armee und Polizei schreitet voran. Die Bürgerkriegsmilizen wurden entwaffnet. Die Sicherheitslage ist nach wie vor schwierig, sie hat sich aber in vielen Teilen des Landes verbessert nicht zuletzt dank der Präsenz der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan, der Koalitionsstreitkräfte sowie ihrer Regionalen Wiederaufbauteams. Die Zentralregierung kann ihr Gewaltmonopol zunehmend in die Provinzen ausdehnen.

Worin liegt dieser Erfolg begründet? Ich möchte folgende Punkte hervorheben:

Natürlich gab es auch Rückschläge und Verzögerungen. Der Wiederaufbau des Landes war und ist ein Lernprozess für beide, die Internationale Gemeinschaft wie für die Afghanen selbst. Aber die umfassende Kooperation auf nationaler wie auf internationaler Ebene hat sich zu einer überaus vertrauensvollen Zusammenarbeit entwickelt.

Heute, Herr Präsident, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Afghanen die Geschicke ihres Landes selbständig lenken. Aus dem Bonner Prozess ist ein "Kabul-Prozess" entstanden. Der "Afghanistan Compact", über den wir hier sprechen, ist in Kabul ausgearbeitet.

Aber trotz der erreichten Erfolge wissen wir auch: Es liegen noch viele Herausforderungen auf dem Weg hin zu einem Afghanistan in Frieden, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Wir müssen weiter und engagiert darauf hinarbeiten, dass die Menschen in Afghanistan den Demokratisierungs- und Stabilisierungsprozess als Chance auf ein besseres Leben erfahren. Dass sie die Möglichkeit haben, ein Leben in Freiheit und Würde zu führen, ein Leben in Sicherheit und ohne Gewalt. Dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln können. Dass es Perspektiven gibt, um diese Fähigkeiten auch bestmöglich einzusetzen.

Dabei sind demokratisch legitimierte, funktionsfähige Institutionen von zentraler Bedeutung. Sie sind auch die beste Krisenvorsorge, ebenso wie eine Staatsordnung, die den Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet ist und diese täglich auch praktisch umsetzt. So können innerstaatliche Konfrontationen und Terrorismus auf Dauer am besten bekämpft werden.

Die Internationale Gemeinschaft wird Afghanistan weiterhin engagiert unterstützen. Denn wir wollen den Wiederaufbauprozess zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ausmaß und Tempo werden dabei mehr denn je von den Vorgaben der afghanischen Regierung und des afghanischen Parlaments abhängen. Dabei bin ich mir sicher: In zunehmendem Maße wird dafür auch die regionale Einbindung ausschlaggebend sein. Ein friedliches und prosperierendes Afghanistan kann zum Motor einer lebendigen regionalen Zusammenarbeit werden.

Deutschland hat sich in den letzten Jahren in besonderem Maße in und für Afghanistan engagiert.

Wir sind der größte Truppensteller der ISAF.

Wir stellen zwei Regionale Wiederaufbauteams.

Wir haben die Koordinierung der ISAF im Norden übernommen.

Wir koordinieren die Polizeiausbildung für Afghanistan und führen sie gemeinsam mit den USA und anderen Partnern durch.

Wir haben in erhebliche Gelder für Entwicklungshilfemaßnahmen bereitgestellt.

Und wir sind im Rahmen der Kölner Schuldeninitiative bereit, für Afghanistan einen deutschen Beitrag zu leisten, denn die Befreiung des Landes von seiner erdrückenden Schuldenlast ist ein wichtiger Schritt auf seinem Weg zurück in die internationale Gemeinschaft.

In Afghanistan liegt ein Schwerpunkt unseres internationalen Engagements. Und dieses Engagement werden wir fortführen. Denn wir sind überzeugt, dass der Weg, den das afghanische Volk vor vier Jahren eingeschlagen hat, zum Erfolg führen wird. Wir freuen uns in diesem Zusammenhang, dass mit Tom Koenigs in Kürze ein Deutscher die Leitung von UNAMA in Kabul übernehmen wird. Ich werte dies auch als Anerkennung unserer Arbeit in Afghanistan. Und ich bin sicher, dass er die hervorragende Arbeit seiner Vorgänger Francesc Vendrell, Lakhdar Brahimi und Jean Arnault verantwortungsvoll fortführen wird.

Vielen Dank.