Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 20.10.2015

Untertitel: Rede von Außenminister Steinmeier bei der Mittelmeerkonferenz der OSZE in Jordanien
Anrede: Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der OSZE,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/151020-BM-OSZE-Mittelmeerkonferenz.html


Liebe Kolleginnen und Kollegen aus unserer Partnerschaft am Mittelmeer, Exzellenzen, liebe Gäste!

Im Jahr 2015 gibt es nicht mehr viele Länder auf der Welt, zwischen denen es keine Flugverbindungen gibt. Schon gar nicht, wenn sie beinahe Nachbarn sind.

Ich komme aber gerade aus zweien. Zwischen Iran und Saudi-Arabien gibt es keine direkten Fluglinien. Zum Glück hatten wir unser eigenes Flugzeug dabei.

Ich nenne dieses Beispiel, um einen Eindruck zu geben von dem tiefen Graben zwischen diesen beiden Ländern. Doch nicht nur der persisch-arabische Golf ist tief. Mein Bild am Ende der Reise ist: Der Nahe und Mittlere Osten ist von Gräben durchzogen, die zahlreicher und komplexer sind, und von Konflikten geplagt, deren Schärfe und Gefährlichkeit größer sind denn je.

Ich beschreibe die prekäre Lage aber nicht als Beobachter. Ich und wenn Sie mir erlauben: Wir alle hier sind Betroffene als Europäer und als Mittelmeeranrainer! Nicht von ungefähr kommen wir heute in einem OSZE-Format zusammen als Dachorganisation der Sicherheit in Europa. Denn für uns in Europa sind der Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika mehr als nur geographische Nachbarschaft. Wenn die Brutalität des Terrors sich auch bei uns zu Hause ausbreitet; wenn der teuflische Lockruf des sogenannten Islamischen Staates junge Menschen aus Europa und dem ganzen Mittelmeerraum in die Kampfgebiete von Syrien und Irak zieht; wenn staatliche Strukturen im Mittleren Osten Stück um Stück zerbröseln; wenn ethnische und konfessionelle Konflikte ganze Gesellschaften zermürben und über das Mittelmeer und Balkanroute zu uns nach Europa vertreiben:

dann klopfen die Krisen des Nahen und Mittleren Ostens nicht nur an unsere Türen. Sondern sie sind längst angekommen! Wir in Deutschland werden in diesem Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen, die größten Teile davon aus Syrien und der Nachbarschaft. Weder Deutschland noch Europa insgesamt sind in der Lage, jedes weitere Jahr einen Zustrom in dieser Größenordnung aufzunehmen. Und für unsere Partner am südlichen Mittelmeer sind die Bedrohungen ungleich näher und ungleich größer.

Deshalb sind wir heute gemeinsam hier! Einerseits, um der guten Tradition der Kooperation zwischen OSZE und ihren Partnern am Mittelmeer in dieser schwierigen Lage neuen Schwung zu verleihen. Aber eben auch, um gemeinsam zu sagen: Wir alle sind betroffen von den Konflikten im Mittleren Osten und deshalb müssen wir gemeinsames Handeln zu deren Lösung nicht nur anbieten, sondern einfordern.

Die Lage ist düster. Wir treffen uns hier am Toten Meer am geographischen Tiefpunkt der Erdoberfläche - und der politische Vergleich drängt sich im Angesicht der Krisen leider auf: Syrien, Irak, Jemen und in unserer unmittelbaren Nähe in Jerusalem. Und auch wenn auf dieser Konferenz die Lage in der südlichen Nachbarschaft und im Mittleren Osten im Mittelpunkt steht, dürfen wir nicht vergessen, dass auch bei uns in Europa mit der Ukraine-Krise ein Konflikt herrscht, bei dem Grundprinzipien unserer Sicherheit in Frage stehen.

Dennoch auch in dieser Lage- sehe ich Hoffnungszeichen für die Diplomatie.

In Libyen haben wir dank des unermüdlichen Einsatzes des VN-Sondergesandten Léon Fortschritte gesehen. Jetzt liegen Vorschläge für eine Vereinbarung und für eine Führungsspitze für den Übergang auf dem Tisch. Die libyschen Parteien müssen nun die Chancen aus den VN-Verhandlungen ergreifen und den Weg zu einer Übergangsregierung der Einheit frei machen. Gemeinsam mit den regionalen Partnern wollen wir diesen Prozess weiter unterstützen. In diesem Sinne hoffe ich auch, dass Libyen bei künftigen Treffen der Mittelmeerpartnerschaft teilnehmen kann und wir damit alle nordafrikanischen Staaten in dieser Partnerschaft versammeln können.

Ein weiteres Hoffnungszeichen ist das Abkommen, das wir im Sommer mit dem Iran über sein Atomprogramm geschlossen haben. Das Wiener Abkommen schließt nicht nur den Griff Irans nach der Atombombe aus und ist damit der erste große abrüstungspolitische Erfolg hier in der Region seit vielen Jahren. Sondern das Abkommen kann auch die Grundlage für mehr Sicherheit in der Region sein, wenn alle Seiten ernsthaft und beharrlich dafür arbeiten.

Doch die Frage bleibt: Selbst wenn wir übereinstimmen, dass wir im Mittleren Osten dringend vorankommen müssen Wie genau soll das gehen?

Die OSZE kennt aus ihrer eigenen Vorgeschichte politische und ideologische Gräben, die wohl ebenso tief waren die Gräben des Kalten Krieges. Als diese Gräben vielleicht am tiefsten waren, und der Kalte Krieg am Kältesten, begann mit der KSZE ein Prozess der Annäherung, Verständigung und Zusammenarbeit, der entscheidend dabei geholfen hat, die Gräben zu überwinden. Wer hätte das zu Beginn der Verhandlungen zu hoffen gewagt?

Nun weiß ich: Lösungen lassen sich nicht übertragen. Eine ganze Sicherheitsarchitektur schon gar nicht. Die Ausgangslage im heutigen Nahen und Mittleren Osten ist eine völlig andere: Erstens, hier herrscht kein Kalter Krieg, sondern hier herrschen Heiße Konflikte, die jeden Tag Opfer fordern und ganze Staaten in ihrer Existenz bedrohen. Zweitens, nicht zwei Blöcke stehen sich gegenüber, sondern Gräben ziehen sich quer durch Staaten und ihre Gesellschaften. Und drittens, die Vielzahl der Akteure einschließlich einer wachsenden Zahl von nicht-staatlichen Akteuren macht es ungleich schwerer zu bestimmen, wer mit wem und wo und wann am Verhandlungstisch sitzen sollte. Aus zwei gescheiterten Syrien-Konferenzen wissen wir das nur zu gut.

Und deshalb liegt in unseren europäischen Erfahrungen keine Blaupause - vielleicht aber ein Fundus von Prinzipien und Prozessen, die auch für politische Lösungen im Nahen und Mittleren Osten Staaten ein Hoffnungsschimmer sein können.

Ich will drei Prinzipien nennen: Erstens: Raus aus der Nullsummen-Logik! Denn Zusammenarbeit so hat es sich im Helsinki-Prozess herausgestellt kann Vorteile für alle bringen, sogar zwischen erbitterten Gegnern. Und zweitens, daraus folgt ein anderer, ein nicht konfrontativer Sicherheitsbegriff. Wer nicht in Nullsummen denkt, der sucht echte Sicherheit miteinander statt prekäre Sicherheit voreinander. Ich bin überzeugt: Mehr Konfrontation, selbst wenn man sich kurzzeitig im Vorteil fühlt, bringt auf Dauer kein Mehr an Sicherheit! Das dritte Grundprinzip heißt Souveränität. Vorbedingung von Gesprächen muss sein, dass jeder Akteur die Souveränität und die Integrität der anderen Akteure anerkennt. Das ist unabdingbares Prinzip, wenn der Prozess funktionieren soll. Es gilt für jeden und schließt auch das Existenzrecht Israels ein.

Der nächste Schritt heißt: Wie könnten, auf Basis dieser Prinzipien, konkrete Prozesse aussehen? Der erste und wichtigste Punkt: Ergebnisoffene Gespräche! Wer in Europa hätte am Beginn der Entspannungspolitik gedacht, was aus dem Helsinki-Prozess erwachsen würde? Wer hätte 1973 zu hoffen gewagt, dass mein Land in diesem Monat den 25-jährigen Geburtstag der deutschen Einheit feiern würde? Am Anfang stand nur das Gefühl, dass wir heute auch haben: So kann es nicht bleiben. Zweitens, so simpel es klingt: Dranbleiben! Institutionalisierte Verhandlungsprozesse haben den Vorteil so war es auch in Europa: Man redet miteinander und nicht nur übereinander. Man trifft sich und trifft sich erneut, selbst wenn man sich noch nicht mal über die Agenda des nächsten Treffens einig ist. Schon mit der Kontinuität von Verhandlungen ist eine erste Verbindlichkeit gewonnen. Drittens: Wo politische und gesellschaftliche Differenzen groß sind, muss man sich konkrete, sachliche Arbeitsfelder suchen, die weniger kontrovers sind und an denen beiden Seiten gelegen ist: Umwelt, Wasserversorgung, Energiefragen, Wissenschaftskooperationen. Genauso praktizieren wir es zwischen der Europäischen Union und den Mittelmeeranrainern seit 20 Jahren im sogenannten Barcelona-Prozess. Wo gemeinsame Arbeit an Sachthemen Erfolg hat, entsteht Vertrauen. Und in diesem Sinne der Vertrauensbildung, das ist mein vierter Punkt, können sich solche Prozesse zunehmend auch größeren und komplexeren Herausforderungen nähern, auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen. Solche, für die Region entscheidenden Themen stehen auf der Agenda unserer Konferenz: Strategien gegen den religiösen Extremismus zum Beispiel oder das Thema Migration. Und fünftens, bei alledem muss gelten: Die internationale Gemeinschaft muss bereit sein, Verständigungsprozesse zu unterstützen und flankieren. Ich finde, das Atom-Abkommen, das von den E3 mit dem Iran ausgehandelt wurde, ist hierfür ein ermutigendes Beispiel.

Nochmal: Es gibt keine Blaupause für Frieden. Und fromme Hoffnungen führen in dieser konfliktgeladenen Lage kein Stück weiter. Aber ich habe auf meiner Reise im Iran wie in Saudi-Arabien gesagt: In Zeiten von erodierender internationaler Ordnung trägt jeder Akteur in dieser Region auch Verantwortung jenseits von nationalem Ehrgeiz oder nationalem Stolz. Diese Verantwortung kann niemand von außen ersetzen, und sie ist am Ende existenzieller als jedes nationales Interesse. Deshalb braucht diese Region gemeinsame Prinzipien und Prozesse für mehr Sicherheit.

Der Weg muss eine "Politik der kleinen Schritte" sein. Diese Schritte beginnen dann, wenn Menschen zueinander kommen. Somit bin ich wieder bei den Flugverbindungen, von denen ich ganz am Anfang am Anfang gesprochen habe. Reisefreiheiten und ziviler Verkehr waren vor vielen Jahren, als mein Land noch durch den Eisernen Vorhang geteilt war, ein wichtiger Teil der Politik zwischen den beiden Blöcken. Denn ohne menschliche Verbindungen kommen Gesellschaften nicht zueinander und erst recht nicht die Politik. Auf dieser Konferenz wollen wir Wege und Verbindungen ausloten, den Dialog über unterschiedliche Wahrnehmungen von Realitäten führen und so Zusammenarbeit auch über Gräben hinweg ermöglichen. Ausgerechnet im Iran bin ich bei meinem Besuch auf ein Sprichwort gestoßen, das mich an diesen Geist erinnert: "Berg und Berg kommen nicht zusammen sondern Mensch und Mensch". In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Konferenz.