Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 29.10.2015

Untertitel: Rede von Außenminister Steinmeier anlässlich der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Universität Piräus
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/151029_BM_Piraeus.html


Nikos Kotzias! Du, lieber Nikos, studiertest damals Volkswirtschaft und Politik. Ich selbst Jura. Ich weiß nicht, liebe Studierende, ob es bei Ihnen genauso ist, aber an der Wahl des Studienfaches scheiden sich ja oft die Geister. Ich erinnere mich gut an eine hitzige Debatte unter ein paar Studenten an meiner Uni, die über ihre Studienwahl diskutierten. Ich sage es gleich dazu: Nikos Kotzias war keiner von diesen jungen Leuten, obwohl er schon damals keine Diskussion gescheut hat, da bin ich mir ziemlich sicher … Die Studenten stritten darüber, welches Fach denn das Ehrwürdigste und das Älteste sei. Da sagte ein Medizinstudent: "Also, als Gott dem Adam die Eva aus der Rippe geschnitten hat, da war das der erste chirurgische Eingriff der Geschichte. Medizin ist das älteste Fach!" Da widerspricht eine Architekturstudentin und sagt: "Nein, nein, schon viel früher hat Gott ja aus dem Chaos die Erde erbaut. Architektur gab ' s also vorher!" Da steht der Jurist auf und sagt: "Ja, und was glaubt Ihr, wo das Chaos herkam?"

Lieber Nikos,

ich freue mich sehr über diese besondere Auszeichnung der Universität Piräus. Ich weiß um Deine jahrelange und intensive Tätigkeit an dieser Universität. Und ich weiß, mit welchem Engagement Du hier nicht nur die Lehre, sondern gerade auch politische Debatten organisiert hast.

Nun muss man in der Wissenschaft genau wie in der Politik nicht immer einer Meinung sein. Und - Nikos Kotzias weiß das - wir beide teilen durchaus nicht immer die gleiche Sicht: ob in der Analyse politischer Theorien, oder bei konkreten außenpolitischen Maßnahmen. Aber Debatten, zumal ernsthafte Debatten um die Suche nach dem richtigen Weg, sind Ausdruck von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung, von Partnerschaft, ja: von Freundschaft und Gemeinsamkeit.

Du, lieber Nikos, warst und bist ein Streiter für die freie Meinung, sei es in der Wissenschaft oder in der Politik. Hier in Griechenland. Aber auch in Deutschland, von wo aus Du während Deiner Studienzeit damals den Widerstand gegen die Militärdiktatur in Griechenland unterstützt hast.

Diese Werte der Wunsch nach Freiheit und Demokratie - einen uns als Europäer. Sie sind Grundlage unserer gemeinsamen Werteordnung. Aber noch etwas eint uns beide, lieber Nikos: Denn so wie Du bei mancher Kritik- über Deine Zuneigung zu Deutschland und den Deutschen sprichst, so möchte auch ich Sie hier meiner aufrichtigen Zuneigung zu Ihrem Land, zu Griechenland versichern.

Heute von Ihrer Universität diese hohe Auszeichnung zu empfangen ist für mich eine große Ehre. Ich sehe sie jedoch weniger als Auszeichnung für mich persönlich ich sehe sie als Ansporn, mich weiterhin mit aller Kraft für ein gutes Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen und für das gemeinsame europäische Projekt einzusetzen. Denn klar ist: Wir haben eine gemeinsame europäische Verantwortung für die Lösung der aktuellen Herausforderungen. Darum muss es uns gehen. Gerade jetzt!

Ihr Land, Griechenland, ist ein zentraler Stabilitätsanker in der unruhigen Ostmittelmeerregion. Wie wichtig diese Stabilität ist, das wird uns derzeit jeden Tag aufs Neue ins Bewusstsein gerufen. Griechenland bildet nicht nur eine Außengrenze der Europäischen Union. Griechenland ist auch ein Mitgliedsstaat mit vielen Verbindungen und Erfahrungen im Umgang mit den Staaten in der fragilen Nachbarregion des Nahen Ostens. Ein gutes Beispiel, lieber Nikos, ist die Konferenz zum religiösen und kulturellen Pluralismus im Nahen Osten, die vor wenigen Tagen hier in Athen stattfand auf Deine persönliche Initiative- und die wichtige Impulse gegeben hat. Auch ein notwendiger Beitrag um die aktuell eskalierende Lage im Streit um den Tempelberg nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen.

Klar für mich ist: Wir brauchen diese Erfahrungen! Wir brauchen Griechenland! Wir brauchen Eure wichtigen Einsichten mit Blick auf die Krisen im Nahen Osten. Denn die Konflikte in Syrien, in Libyen, aber auch in der Ukraine: sie betreffen uns alle, sie betreffen ganz Europa. Und wir können - auch das ist klar in Europa nur gemeinsam tragfähige Lösungen finden. Dies ist vielleicht der wichtigste Grundsatz der deutschen Diplomatie!

Natürlich - jedes Land hat seine Interessen. Auch Deutschland. Aber Verantwortung - europäische Verantwortung gerade in der Mitte Europas - das heißt, dass man seine Stärke nicht allein daran messen darf, wie geschickt man nationale Einzelinteressen durchsetzt. Sondern europäische Verantwortung heißt, dass wir kluge europäische Kompromisse schmieden, die uns gemeinsam voranbringen. Europa muss nach innen zusammen stehen, um nach außen erfolgreich zu sein.

Das heißt für mich, dass wir Europa nicht als einen Wettstreit zwischen Großen und Kleinen, zwischen Nord und Süd oder Ost und West begreifen, sondern als unser gemeinsames Projekt. Ein Projekt, das täglich auf immer neuen Kompromissen aufbaut und bei dem wir einander zuhören, um zu lernen, uns zu verstehen! Und genau deshalb ist es für mich so wichtig, heute hier zu sein!

Das heißt aber auch, dass wir alle gelegentlich über unsere eigenen Schatten springen müssen. Das gilt für Deutschland. Das gilt für Griechenland und für jeden anderen Mitgliedstaat.

Dazu gehört, dass wir uns ernsthaft dafür interessieren, wie es unseren Partnern geht. Und das muss vor allem dann gelten, wenn unsere Partner schwierige Zeiten durchmachen. Dass wir wahrnehmen, welche Dimensionen die Reformanstrengungen haben, die viele Mitgliedstaaten und ganz besonders Griechenland unternehmen. Und in diesem Zusammenhang fällt es mir mitunter schwer zu verstehen, wie man in öffentlichen Debatten in meinem Land unwidersprochen behaupten kann, in unseren Nachbarländern sei nichts passiert.

Wir wissen auch in Deutschland, wie schmerzhaft Modernisierungsprozesse sind. Ich selbst habe es erlebt, als wir bei uns die Reformen der "Agenda 2010" konzipiert und umgesetzt haben. Die Korrektur unserer eigenen Fehlentwicklungen löste große politische Zerwürfnisse und auch die Abwahl einer Regierung aus. Für Gerhard Schröder das Ende der Kanzlerschaft und für mich Abschied als Außenminister und vier harte Jahre auf der Oppositionsbank. Ich weiß ein wenig, wovon ich hier spreche. Und gleichzeitig weiß ich, dass bei Ihnen die Belastungen ungleich größer sind. Deshalb auch die Erwartung, dass Europa nicht abseits steht und zuschaut, sondern hilft, Schwierigkeiten zu überwinden. Der Ruf nach europäischer Solidarität ist gerechtfertigt und er ist nicht ungehört geblieben!

Aber ich weiß, dass dieses Bekenntnis für viele Menschen hier im Lande abgehoben und abstrakt klingen mag. Weil sie das Gefühl haben, dass diese Solidarität bei ihnen persönlich eben noch nicht ankommt. Weil sie stattdessen sehen, dass sie immer weniger Rente, immer weniger Geld zur Verfügung haben. Weil sie Arbeit suchen. Weil sie wenig Perspektive sehen. Weit weg scheint da die europäische Solidarität.

Und so entsteht eine gefühlte Kluft in Europa: Zwischen jenen Menschen, die vor großen persönlichen Belastungen stehen und dabei das Gefühl haben, dass Europa sie alleine lässt. Und jenen auf der anderen Seite, die das Gefühl haben, immer mehr Hilfe zu leisten ohne Ende. Das Ergebnis ist Frust und Sorge auf beiden Seiten.

Die Kosten und Lasten sind sofort sichtbar, die Erfolge nicht überall und vor allem nicht schnell! - Noch nicht! Denn ich bin überzeugt, dass der Weg der richtige ist auch wenn es ein langer, ein schwieriger ist. Und es ist unsere gemeinsame politische Verantwortung dafür zu sorgen, dass auf diesem Weg der Frust nicht größer wird und die gefühlte Kluft keine reale. Damit Europa weiterhin zusammenhält.

Für unsere beiden Länder heißt das: Die Verpflichtungen gelten, aber hierauf dürfen sich unsere bilateralen Beziehungen nie reduzieren. Die Financial Times mag uns als Gläubiger und Schuldner beschreiben. Ich sage: Wir sind Partner. Wir sind Freunde!

Und weil dies so ist, meine ich, dass wir uns selbstkritisch hinterfragen sollten, ob wir in der öffentlichen Debatte in Griechenland wie auch in Deutschland immer den richtigen Ton getroffen haben.

Und ich wiederhole es, ich weiß, dass bei Ihnen in Griechenland die Last der zurückliegenden Fehlentwicklungen noch viel schwerer wiegt und die erforderlichen Anstrengungen nun noch viel größer sind als damals in Deutschland vor 10 Jahren.

Mit den Parlamentswahlen im September haben die Griechinnen und Griechen für mich ein doppeltes Signal ausgesandt: Den fest verankerten Wunsch im Euro und in Europa zu bleiben und gleichzeitig das Bedürfnis nach tiefgreifender Veränderung in Politik und Gesellschaft.

Ich bin froh, dass eine Einigung über ein neues Rettungspaket erzielt wurde und dass sich die neue griechische Regierung entschieden hat, zielstrebig an der Modernisierung Ihres Landes zu arbeiten. Jetzt ist der Moment, um nach vorn zu sehen. Und ich setze darauf, dass Ihre Regierung ihrer Verantwortung gerecht wird, in Griechenland die Weichen für Investitionen und Wirtschaftswachstum zu stellen. Damit es Griechenland, damit es Europa besser geht.

Ich bin überzeugt davon, dass wir weiterbauen müssen an dem Haus unserer gemeinsamen Währung. Wir haben in den dramatischen Wochen dieses Sommers erlebt, wie das europäische Haus in seinen Grundfesten erschüttert wird, wenn nur die Euro-Mitgliedschaft eines Landes infrage steht. Wir alle müssen daran arbeiten, dass sich derartige Ereignisse nicht wiederholen und deshalb müssen wir die Unumkehrbarkeit des Euro stärken und zwar für alle Länder, die dem Euro beigetreten sind, ohne Ausnahme.

Meine Damen und Herren,

europäische Verantwortung heißt auch, dass wir gemeinsam für die Werte einstehen, auf die Europa gebaut ist und die wir gerade heute so dringend brauchen.

Die Flüchtlingskrise führt uns dies nur allzu bewusst vor Augen. Ich muss Ihnen das nicht erzählen Sie sehen hier selbst jeden Tag die von den Inseln ankommenden Fähren, voll mit Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg und Vertreibung suchen. Wir alle kennen die Bilder der Flüchtlinge aus Lesbos, aus Idomeini, vom Münchner Hauptbahnhof.

Ich danke dem griechischen Staat, ich danke aber vor allem auch den unzähligen griechischen Bürgerinnern und Bürgern für ihre Bemühungen, die humanitäre Notsituation zu bewältigen und den Flüchtlingen zu helfen.

Es ist offensichtlich - die aktuelle Flüchtlingskrise stellt Europa nach der Finanzkrise vor eine weitere große Herausforderung. Die Antwort darauf kann nicht sein, uns auf den Nationalstaat und in Vereinzelung zurückzuziehen. Die Antwort muss vielmehr ein besseres, ein größeres Miteinander in Europa sein.

Deutschland und Griechenland sind beide besonders von der Flüchtlingskrise betroffen und stehen eng zusammen. Deutschland hat zusätzlich zu europäischen Hilfen - das Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Griechenland und das Rote Kreuz auch bilateral unterstützt.

Ich bin froh, dass es uns nun gelungen ist, einen Aktionsplan mit der Türkei zu vereinbaren. Ich weiß, dass dieses Thema in Griechenland besonders heikel ist. Aber wir müssen mit der Türkei kooperieren, denn sie ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Und ich weiß, dass gerade Du, Nikos, Dich auch immer für ein pragmatisches Verhältnis zur Türkei stark gemacht hast.

Klar ist: Wir brauchen für diese enorme Herausforderung eine europäische Lösung, die auf Solidarität und faire Lastenteilung baut. Dafür müssen wir jetzt in Europa schnell und entschlossen handeln.

Meine Damen und Herren,

die heutige Auszeichnung nehme ich auch als Ansporn dafür, mich weiterhin für die Stärkung der Beziehungen unserer beiden Länder einzusetzen. Sie wissen es alle die letzten Monate und Jahre waren keine einfache Zeit für das deutsch-griechische Verhältnis.

Seit vielen Jahrzehnten nennen unzählige Griechen Deutschland ihr Zuhause. Seit den 50er Jahren und in den Zeiten der Militärdiktatur kamen nicht nur Zehntausende Gastarbeiter und ihre Familien, sondern auch viele politisch Verfolgte in die Bundesrepublik. Viele der damals Gekommenen sind geblieben, andere nach Griechenland zurückgekehrt.

Sie alle sorgen dafür, dass es heute so viele enge Kontakte zwischen den Menschen unserer beiden Länder gibt. Unzählige deutsch-griechische Organisationen tragen dazu bei, negativen Stereotypen entgegenzuwirken.

Klar ist doch: Das Fundament Europas sind der Austausch und die Begegnung der Menschen. Deshalb ist die Initiative zur Schaffung eines deutsch-griechischen Jugendwerks ein so bedeutender Schritt. Das Jugendwerk soll nicht nur Schüleraustausch fördern. Es soll auch die Vermittlung von Praktika unterstützen, Gedenkstättenfahrten und die Arbeit von Freiwilligen und Fachkräften im anderen Land. Austausch, Dialog, sich kennenlernen - das sind die ersten Schritte zu Verständnis und Verständigung, die wir brauchen, um Missverständnisse und Fehlperzeptionen für die Zukunft zu vermeiden!

Und wir würden uns freuen, wenn viele von Ihnen einen Teil Ihrer Bildungsbiographie in Deutschland verbringen oder mindestens Interesse an Deutschland oder deutscher Sprache haben.

Schon jetzt lernen rund 3,000 griechische Studenten an deutschen Universitäten. Und auch umgekehrt: Griechenland ist ein beliebtes Ziel für deutsche Studierende. Das kann ich gut verstehen und zwar nicht nur mit Blick auf den hervorragenden Wein und den Ouzo, der aber gewiss auch eine kleine Rolle spielt...

Meine Bitte an Sie ist: Nutzen Sie die Chance, die Europa Ihnen bietet. Haben Sie den Mut dazu, Neues und Ungewohntes zu erleben!

Denn jung zu sein bedeutet den Sieg der Abenteuerlust über den Hang zur Bequemlichkeit, den Sieg des Mutes über die Mutlosigkeit.

Dieser Satz stammt nicht von mir. Ich sehe, das erstaunt hier niemanden im Saal. Er stammt aber noch nicht einmal von Dir, lieber Nikos - und das mag dann doch so manchen überraschen.

Nein, er stammt vom griechischen Politiker und Feldherrn Perikles!

Handeln Sie danach, liebe Studierende! Gehen Sie hinaus und leben Sie dieses Europa! Hier in Griechenland, in Deutschland oder anderswo auf der Welt. Gestalten Sie Griechenland, und gestalten Sie Europa. Es ist unsere gemeinsame Zukunft! Oder wie ein großer Vorgänger von mir, Hans-Dietrich Genscher, gesagt hat: "Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht!"

Vielen Dank.