Redner(in): Horst Köhler
Datum: 31. Mai 2008

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2008/05/20080531_Rede.html


Sie alle beglückwünsche ich! " Dies gilt nicht nur für unseren heutigen Anlass, das Jubiläum des Deutsch-Französischen Instituts, sondern mit diesen Worten wandte sich 1962 Charles de Gaulle von Ludwigsburg aus an die deutsche Jugend. Unter den vielen Zuhörern war auch ein damals 19jähriger Jugendlicher namens Horst Köhler.

Ich erinnere mich noch ganz genau an das Gedränge und die Aufregung, den großen französischen Staatsmann zu sehen und zu hören. De Gaulle sprach uns direkt auf Deutsch an. Sein Aufruf zu Solidarität, Vertrauen und Freundschaft hat mich begeistert. Und er hat bis heute nichts an seiner Aktualität verloren.

Das Deutsch-Französische Institut, dem unsere heutigen Glückwünsche gelten, war schon ein Teenager, als De Gaulle sich in Ludwigsburg an die Jugend wandte. Seine Gründungsväter, unter ihnen Joseph Rovan und Alfred Grosser auf französischer und Carlo Schmid und Theodor Heuss auf deutscher Seite, hatten eine Vision: Deutschland und Frankreich sollten ihre so genannte Erbfeindschaft endlich überwinden und gemeinsam die Grundlage für ein geeintes, für ein neues Europa schaffen.

Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs mag diese Vision vielen als eine Illusion vorgekommen sein. Aber bereits nach dem Ersten Weltkrieg hatte es zwischen Deutschland und Frankreich Versuche gegeben, die Gräben des Krieges zu überwinden und Freundschaft zu stiften. So beschrieb Kurt Tucholsky 1925, wie die internationale Arbeiterhilfe junge Deutsche bei Gastfamilien in Frankreich unterbrachte, um zu lernen,"dass drüben hinter den Schützengräben kein" Feinde "wohnen, sondern Eltern, Väter, Mütter, Kameraden."

Diese Bemühungen reichten nicht aus, um die kommende Katastrophe zu verhindern. Der Zweite Weltkrieg mahnte aber noch viel mehr als alle Grausamkeiten zuvor, dass die Nachbarn Deutschland und Frankreich endlich einen Weg aus der Spirale von Krieg und Gewalt hin zu Versöhnung und Freundschaft finden mussten.

Wir können glücklich und dankbar sein, dass es unter den Gründern des Deutsch-Französischen Instituts genug einflussreiche Persönlichkeiten gab, die wie Carlo Schmid oder Alfred Grosser in unseren beiden Kulturen gleichermaßen zu Hause waren. Früher war dies oft ein Nachteil. Die Elsässer hatten mehrere Jahrhunderte darunter zu leiden, dass sie den Franzosen zu deutsch, und den Deutschen zu französisch waren. Heute gereicht ihnen genau das zum Vorteil. In unserer globalisierten Welt brauchen wir diese kulturellen Grenzgänger mehr denn je.

Das Deutsch-Französische Institut hat sein Gründungsmotto "Verständigung mit Frankreich auf allen Gebieten des öffentlichen und geistigen Lebens" ernst genommen. Sprachkurse, Jugendaustausch und Städtepartnerschaften erscheinen heute selbstverständlich, mussten aber erst langsam aufgebaut werden. Es war die Stadt Ludwigsburg, die 1950 durch ihre Partnerschaft mit Montbéliard den Anfang der deutsch-französischen Städtepartnerschaften machte.

Aus dem zarten Pflänzchen, das die deutsch-französischen Kontakte 1948 waren, ist heute ein starker Stamm geworden, dessen Äste sich in alle Bereiche unserer Gesellschaft erstrecken. Deutschland hat mit keinem anderen Land auf den Gebieten der Politik, der Kultur, von Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft einen so intensiven Austausch wie mit Frankreich, und das auf allen Ebenen. Und auch das Deutsch-Französische Institut hat sein Portfolio erheblich erweitert und arbeitet inzwischen mit einer Vielzahl von renommierten Stiftungen, Unternehmen und privaten Partnern und Förderern zusammen. Ihnen allen gilt heute ebenfalls unser Dank und Glückwunsch.

60 Jahre Deutsch-Französisches Institut: ein stattliches Alter. Gilt es etwa jetzt, den Ruhestand vorzubereiten? Ich denke nicht. Im Gegenteil. Für mich lautet die Frage: Wie können wir dafür sorgen, dass die deutsch-französischen Beziehungen vital bleiben und weiter wachsen? Und das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg sollte sich aktiv und kreativ an der Beantwortung dieser Frage beteiligen.

Dabei gehe ich davon aus, dass die deutsch-französische Freundschaft viel mehr als nur die Summe der gemeinsam verwirklichten Projekte ist, sie ist ein Wert an sich.

An der Wurzel unserer Freundschaft hat sich nichts geändert, aber in der Krone weht ein anderer Wind. Aus dem Europa der Sechs ist die Europäische Union der 27 geworden. Das bringt mit sich, dass der deutsch-französische Motor in Brüssel manchmal neu eingestellt werden muss. Jede neue Generation von Deutschen und Franzosen muss persönlich den Wert der deutsch-französischen Freundschaft erleben, schätzen und mit neuem Inhalt gestalten. Ich bin davon überzeugt: Das Europäische Modell wird seine Strahlkraft in der ganzen Welt nur behalten, wenn es weiter auf der Kreativität und Energie der deutsch-französischen Zusammenarbeit aufbaut.

Im Übrigen müssen wir Europäer uns alle zusammen vor Augen führen, dass unsere Bedeutung in der Welt von morgen nicht unbedingt gesichert ist. Im Jahre 2050 werden nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung in Europa leben. Dies macht deutlich, wie wichtig es ist, dass in den großen Lebensfragen Europa mit einer Stimme spricht.

Die Globalisierung stellt viele neue Herausforderungen an uns, sowohl an Deutschland als auch an Frankreich: Wie können wir Arbeit und Wohlstand in Europa sichern und zugleich zur Überwindung der großen Armut in der Welt beitragen? Welches Bildungssystem bietet unserer Jugend die besten Chancen? Wie integrieren wir Zuwanderer in unsere Gesellschaft? Welche Verantwortung haben wir für Frieden und Sicherheit in der Welt angesichts von Armut, Extremismus und Klimawandel? Ich begrüße es sehr, dass das Deutsch-Französische Institut dazu einen intensiven Meinungsaustausch zwischen Experten aus unseren beiden Ländern organisiert

Frankreich und Deutschland werden dabei nicht immer dieselben Antworten finden. Dies ist auch nicht nötig. Wir sollten nicht auf eine allgegenwärtige Gleichförmigkeit hinarbeiten. Im Gegenteil, meiner Meinung nach liegt auch in der Komplementarität von Unterschieden ein großes Potential. Unsere enge Zusammenarbeit ermöglicht, ja zwingt uns dabei immer wieder, den Blick über den eigenen Tellerrand zu werfen, um zu sehen, wie der Andere sich den Herausforderungen stellt. Diese Offenheit gegenüber neuen Ideen ist unverzichtbar, damit wir uns selbst verändern können.

Gewiss, dabei streiten wir uns manchmal, aber dies gehört zu langen Partnerschaften dazu. Mehr noch, mancher Streit ist für den Bestand und die Fortentwicklung der Beziehung unabdingbar. Wir wissen, dass wir zusammengehören, und haben in den letzten Jahrzehnten dabei ein gutes Stück Gelassenheit entwickelt; ganz im Sinne unseres Ludwigsburger Dichters Eduard Mörike, der sagt: "Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten".

Ich empfand De Gaulles Rede 1962 hier in Ludwigsburg buchstäblich als ausgestreckte Hand zur Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Ich bin da sicherlich nicht der Einzige, bei dem die Faszination dieser Rede bis heute anhält. Aber für die heutigen Jugendlichen ist der Gedanke der Versöhnung im Verhältnis mit Frankreich nicht mehr vordringlich. Etwas Schöneres kann man sich eigentlich nicht vorstellen.

Wichtig ist aber jetzt, dass das Interesse der jungen Franzosen und Deutschen aneinander lebendig bleibt und wir zusammen neue Wege beschreiten. Dies hat auch das deutsch-französische Jugendwerk erkannt und bietet zunehmend Programme mit Drittstaaten an. Das bedeutet konkret, dass sich junge Deutsche und Franzosen nicht mehr nur miteinander beschäftigen, sondern mit Jugendlichen aus Osteuropa, dem Balkan und den Mittelanrainern zusammenkommen. Was kann glaubwürdiger sein, als wenn junge Deutsche und junge Franzosen in gemeinsamen Versöhnungsprojekten ihre heutige Freundschaft dokumentieren?

Und der Versöhnungsgedanke ist selbst heute in Europa noch ein Thema. Das lehrt uns ganz aktuell ein Blick auf den Westbalkan. Dort, mitten in Europa, gab es noch vor wenigen Jahren Kriege. Und die Wunden dieser Kriege sind noch lange nicht verheilt.

Auch in anderen Teilen der Welt - ich denke zum Beispiel an Indien und Pakistan oder an Japan und China - mutet der Wandel der deutsch-französischen Aussöhnung nach Jahrhunderten von Ablehnung und Krieg hin zu engster Partnerschaft und Freundschaft visionär an. Jeder gemeinsame Auftritt von Deutschen und Franzosen in solchen Ländern, selbst wenn er nicht die Versöhnung als Thema hat, straft diejenigen Lügen, die Erbfeindschaften als gleichsam biologisch-determiniert und damit unveränderbar bezeichnen. Die Zahl der staatlich geförderten deutsch-französischen Kulturprojekte in Drittstaaten ist in den letzten fünf Jahren ständig gestiegen. Sie sind schon jetzt ein gemeinsamer Exportschlager von Deutschland und Frankreich. Lassen Sie uns weitermachen. Es gibt genug Themen, wie Umweltschutz und Armutsbekämpfung, in denen wir gemeinsam an einem Strang ziehen können.

Versöhnung mit einer anderen Nation fängt oft schon in der Schule an. Die Art und Weise, wie wir unsere eigene Geschichte erzählen, ist dabei eine ganz wichtige Vorentscheidung. Schreiben wir Feindbilder und Stereotypen fort oder bemühen wir uns um eine gemeinsame Perspektive? Hier gilt im deutsch-französischen Verhältnis eindeutig Letzteres. Im April dieses Jahres wurde gerade der zweite Band eines gemeinsamen Geschichtsbuches vorgestellt, der mit der Periode vom Wiener Kongress bis 1945 viele heikle Themen aufgreift. Damit lernen junge Deutsche und Franzosen ihre Geschichte "von einem Blatt". Mit diesem Schritt sind wir auch weltweit Avantgarde.

Hinter jedem Erfolg lauert etwas trügerische Selbstgefälligkeit. Dies gilt auch für die deutsch-französischen Beziehungen. Nicht umsonst gibt es immer wieder kritische Stimmen, die uns davor warnen, unsere Beziehungen schönzureden. Verständigung ist kein Selbstläufer, sondern ein ständiger Prozess. Für uns heißt das, dass das Wissen über unser Nachbarland Frankreich eben nicht gegeben ist, sondern von jeder deutschen Generation neu erarbeitet werden muss. Daher kann ich unsere Jugend nur ermutigen: Seien Sie neugierig, lernen Sie Sprache und Kultur unseres Nachbarn, kurzum, lernen Sie "Frankreich".

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Mitte der sechziger Jahre selber regelmäßig vor den Toren des Deutsch-Französischen Instituts stand, aus denen die Teilnehmer der Französisch-Sprachkurse strömten. Ich holte damals regelmäßig meine Freundin ab. Heute ist Eva Luise Bohnet mit mir gemeinsam hier in Ludwigsburg. Sie können also davon ausgehen: Meine Frau und ich haben das DFI auch ganz privat in bester Erinnerung.

Heute unterhalten sich mehr und mehr Deutsche und Franzosen auf Englisch. Sicher, Englisch ist heute die Weltsprache Nummer Eins. Trotzdem finde ich das schade. Denn über die Sprache des Anderen nähern wir uns auch seinem Denken. Eine deutsch-französische Verständigung über das Englische birgt einfach mehr Raum für Missverständnisse. Jeder, der einmal "Stille Post" gespielt hat, weiß das.

Wir können aber das Interesse an der Sprache unseres Nachbarlandes nicht von Staats wegen verordnen. Immer mehr Menschen in Deutschland und Frankreich richten ihren Blick zusätzlich auf andere Kulturen, die mit der Globalisierung näher gerückt sind. In diesem Wettbewerb müssen sich auch unsere Sprachen behaupten. Doch wir sollten das mit Selbstbewusstsein angehen und die vielen Möglichkeiten nutzen, die unsere engen Beziehungen bieten. Mich hat zum Beispiel gefreut zu hören, dass sich die Begeisterung für die Musik und die Texte von "Tokio Hotel" in Frankreich bei unseren Goethe-Instituten dort in steigenden Anmeldungen niederschlägt. Ich bin überzeugt: So lange unsere Gesellschaften kreativ bleiben, werden auch unsere Sprachen attraktiv sein.

Was die Kreativität angeht, brauchen sich unsere Länder nicht zu verstecken. Wir haben Spitzenstandorte in Forschung und Wirtschaft, unsere Kultur zieht Millionen von Besuchern aus aller Welt an. Wir müssen uns nicht nostalgisch umeinander drehen, sondern nach vorne schauen und gemeinsam bei Schicksalsfragen wie Klimawandel, Armutsbekämpfung, Nahrungsmittelsicherheit, internationalem Terrorismus und globaler Gerechtigkeit Lösungen anbieten. Die von mir erwähnte Städtepartnerschaft von Ludwigsburg mit Montbéliard engagiert sich zum Beispiel inzwischen auch in Afrika. Mit der gelebten Erkenntnis, dass unser Schicksal und Wohlergehen trotz aller Unterschiede untrennbar miteinander verknüpft sind, können Deutschland und Frankreich Vorreiter einer kooperativen Weltpolitik sein und Einfluss auf eine humane Gestaltung der Globalisierung nehmen.

Auf die heutige Mischung aus "Liberté , Égalité , Fraternité" und "Einigkeit und Recht und Freiheit" können Frankreich und Deutschland stolz sein. Wir sollten sie weiterhin mit Vernunft und Leidenschaft weltweit vertreten.