Redner(in): Horst Köhler
Datum: 25. September 2008
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2008/09/20080925_Rede.html
Vor 60 Jahren wunderte sich Theodor Heuss: Eine "banale Entdeckung", die Genossenschaftsidee von Hermann Schulze-Delitzsch, habe dennoch die Welt verändert. Denn sie beruht, so Heuss weiter, auf der Erkenntnis "dass viele kleine Stücke zusammengefasst ein Großes bilden, wenn sie sich zusammenfassen lassen, wenn sie zusammenkommen wollen".
Heuss stapelt da auf seine sympathische Weise tief. Denn dass viele kleine Teile oder auch viele Menschen mit einer gemeinsamen Idee ein Großes bilden können, das mehr bedeutet und mehr bewirkt als die Summe seiner Teile, das ist ja doch eines der großen Geheimnisse der Schöpfung und der menschlichen Kultur und Zivilisation. Die Leistung von Hermann Schulze-Delitzsch war, dieses Geheimnis nicht nur zu kennen, sondern es fruchtbar zu machen als Sozialreformer und Bankgründer.
Im 19. Jahrhundert ging es darum, die kleinen, allein nicht überlebensfähigen Gewerbetreibenden in Leipzig, Breslau und Stuttgart stark zu machen für die Konkurrenz mit den Fabrikanten in Köln, Berlin und Manchester. Es stand viel auf dem Spiel. Denn die industrielle Revolution hatte auch zur Folge: Verzweiflung, Not, Ausbeutung, Unsicherheit bis Revolte.
Schulze-Delitzsch begegnete der ersten industriellen Revolution mit einer einfachen Grundüberzeugung: Qualität und Individualität von Produkten würden auch in Zukunft gefragt sein. Der Zusammenschluss zu Genossenschaften würde es den kleinen Gewerbetreibenden ermöglichen, auch ihrerseits die Vorteile der Großserie zu nutzen und gestärkt und selbstbewusst mit den so genanten "Großen" zu konkurrieren. Und die ersten Genossenschaften erbrachten tatsächlich den Beweis: Mit Innovationen und einem intelligenten Zusammenspiel von Eigeninitiative und Gemeinschaftssinn lässt sich Strukturwandel meistern, können einzelne zur starken Gemeinschaft werden und sich am Markt behaupten. Aber es würde eine neue Form brauchen und ein neues Miteinander und auch eine neue Solidarität.
Gegen den Wandel, den wir nicht aufhalten können, hilft Wandel, den wir gemeinsam beherzt und klug ins Werk setzen. Ist das nicht auch in unseren Tagen immer noch die vernünftigste Antwort, viel vernünftiger als Angststarre oder fruchtloses Schimpfen auf den Lauf der Welt?
Die Genossenschaftsidee ist heute - im Zeitalter der Globalisierung - so lebendig und wichtig wie eh und je. Und ich bin dem Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbanken dankbar, dass er diesen Festakt zu 200 Jahren Schulze-Delitzsch veranstaltet.
Heute sind es vor allem die vielen innovativen Mittelständler, die Produktions- und Kreditgenossenschaften, die helfen, der "Monotonisierung der Welt" entgegenzuwirken, die Stefan Zweig schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ausmachte. Denn auch das bringt die Globalisierung mit sich: neue Chancen für Anbieter, die es schaffen, sich an den Kunden und ihren spezifischen Bedürfnissen - gerade auch im regionalen Sinne - ganz individuell auszurichten; deren Stärke also darin liegt, das Besondere passgenau anzubieten und damit gegen das Massenhafte zu bestehen. Hinter dieser wirtschaftlichen Betrachtung steht die Humanität. Passgenaues Anbieten ist überhaupt nur möglich ist, wenn man den Menschen sieht und sich bei allen Geschäften am Menschen orientiert.
Die Genossenschaftsidee ist zeitlos und geografisch nicht begrenzt. Sie gilt zum Beispiel heute für afrikanische Bauern, die sich gegen übermächtige und teilweise unfaire ausländische Importkonkurrenz verbünden. Sie kann ein wichtiges Instrument für nachhaltige Entwicklungspolitik sein, die die örtlichen Kräfte vernetzt und stärkt und in diesen Ländern dann auch Arbeitsplätze schafft. Und so beruht ja auch die neue Entdeckung, von "Microfinance" in der Entwicklungspolitik durch den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus und seine Grameen-Bank in Bangladesh im Wesentlichen auf der Genossenschaftsidee.
Wie modern der Genossenschaftsgedanke ist, das zeigt sich bei uns aber auch an anderen Beispielen, zum Beispiel den neu entstehenden Mehrgenerationenhäusern. Auch hier gibt es den Trend, sich genossenschaftlich zu organisieren und so auf der Basis eines tragfähigen Wirtschaftsmodells die notwendige Freundschaft zwischen den Generationen nachhaltig zu machen. Ich finde, das passt auch ganz gut zu dem Gedanken unseres Philosophen Odo Marquard, der sinngemäß sagt: Nur Reformen, die mehr Buntheit bewirken, taugen wirklich was.
Ich will nun die Genossenschaftsidee nicht überhöhen und damit im Vergleich zu Heuss in das andere Extrem verfallen; aber lässt sie sich nicht doch auch lesen als Beispiel dafür, wie wir mit Wandel und Unsicherheit insgesamt erfolgreich umgehen können? Die Entwicklung und Aktualität des Genossenschaftswesens ist auch ein gutes Beispiel für gelebte Subsidiarität.
Die Genossenschaftsidee hat übrigens bis zum heutigen Tage einen weiteren Vorzug: Sie ist nicht übermäßig bürokratieträchtig. Wenn Gleichgesinnte in ihrem ureigenen Tätigkeits- und Kompetenzbereich ein Hilfs- und Aktionsbündnis schließen, dann brauchen sie dafür in aller Regel keine neue Behörde. Darum sind Genossenschaftsidee und Subsidiaritätsprinzip und "Graswurzeldemokratie" Geschwister. Und darum ist übrigens die "Genossenschaft" etwas zutiefst Bürgerliches, wenn man den "Bürger" eben nicht mit Zylinder und Bratenrock identifiziert, sondern mit Freiheitsliebe, Eigenverantwortung und Solidarität in der Gemeinschaft.
Indem Genossenschaften kleine Unternehmen konkurrenzfähig machen, erfüllen sie eine weitere wichtige ordnungspolitische Funktion: Sie stärken die kleinen, die Eigentümer- und die Familienunternehmen und damit jene, die oft in besonderem Maße Verantwortung und Risiko übernehmen - Eigentümerunternehmer haften schließlich mit dem eigenen Vermögen. Sie können, ja sie müssen sich an einer langfristigen, nachhaltigen Unternehmensführung jenseits von Quartalsberichten orientieren. Diese Unternehmer engagieren sich oft auch in ihrem sozialen Umfeld überdurchschnittlich. Sie sind fest in ihren Heimatgemeinden verwurzelt und in die örtlichen Gemeinschaften integriert. Diese Nähe stärkt das Gefühl der Verantwortung für sich und andere, auf das unser Gemeinwesen so dringend angewiesen ist.
Verantwortung - das ist ein zentraler Begriff für Hermann Schulze-Delitzsch. Er schreibt: "Wer die Verantwortung von sich weist, weist auch die Freiheit von sich. Verantwortlichkeit und Freiheit sind sich gegenseitig bedingende Grundsäulen der sittlichen, politischen und wirtschaftlichen Welt".
Darin liegt ein Versprechen: Wer bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, wer bereit ist, seine Freiheit dafür zu nutzen, sich zu kümmern und zu binden, aktiv zu sein und nicht auf die Hilfe anderer zu warten, der kann gestalten und aufbauen über den Tag hinaus. Und er weiß, dass uns die Kraft nicht fehlen darf, denen zu helfen, die wirklich Hilfe brauchen.
Aber so unverbraucht diese Wahrheit sein mag, steht danach den Menschen wirklich noch der Sinn in unserem Land? Wir kennen aktuelle Umfragen, die daran zweifeln lassen. Vielen erscheint eine staatliche Rundumversorgung wieder durchaus attraktiv.
Manche Betrachter identifizieren mit solchen Befunden "das süße Gift des Wohlfahrtsstaates". Er entmündige durch Versorgung, er betäube den Anreiz, sich selbst ausreichend anzustrengen.
Ich glaube das nicht, aber darin liegt kein Trost. Ich befürchte nämlich, ungezählte Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sehen den Sozialstaat nicht als bequeme Alternative, sondern eher als Zuflucht. Sie erleben oder erfahren, dass Anstrengung sie nicht voranbringt, dass die Kinder einfacher Leute in der Schule abgehängt werden, dass es immer weniger Aufstiegschancen gibt selbst für den, der hart arbeitet und sich an die Regeln hält. Wenn die Lebenserfahrung solche Enttäuschungen mit sich bringt, dann ist die Vitalität unserer Gesellschaft im Kern berührt.
Also müssen wir vor allem das Versprechen wieder wahr machen, dass Aufstieg durch Bildung möglich ist. Bildung entwickelt die vorhandenen Talente, vermittelt notwendiges Wissen, stiftet Selbstsicherheit und Zuversicht. Sie ist damit wesentliche Grundlage für die Fähigkeit und den Willen, Eigenverantwortung zu übernehmen und den Aufstieg zu schaffen. Die Teilhabe an Bildung wird in Deutschland noch viel zu oft vom Geldbeutel und sozialen Status der Eltern bestimmt. Und damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Und noch ein Zweites ist im Zusammenhang mit Bildung wichtig: Bildung ist weder Privileg noch Pflicht ausschließlich der Jugend, sondern eine Aufgabe für alle Altersgruppen. Ausgelernt hat man im Leben nie. Das wusste auch Hermann Schulze-Delitzsch und deshalb übernahm er 1871 den Vorsitz der neu geschaffenen "Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung". Die Forderung, Bildung für alle zu ermöglichen, und die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens sind heute genauso aktuell wie damals. Und deshalb müssen wir uns als Gesellschaft noch dringlicher um ein besseres Angebot für Bildung, Ausbildung und Weiterbildung bemühen. Und wir müssen alle Wege öffnen, auf denen man mit Anstrengung und Eigenverantwortung erfolgreich sein kann.
Die persönliche Leistungsbereitschaft muss sich für den Einzelnen allerdings auch lohnen. Denn nichts drückt so sehr auf die Motivation wie die Erfahrung, dass sich die eigene Lebenssituation trotz aller Mühen nicht verbessern lässt. In einer dynamischen, freiheitlichen Gesellschaft wird es unweigerlich Ungleichheit bei den Einkommen geben. Und das sollten wir nicht beklagen. Denn Ungleichheit ist eben auch Ausdruck von Ideen, von Dynamik, von Innovation. Sie darf nur nicht zu weit gehen. Ungleichheit kann ein Leistungsanreiz sein, wenn jeder bei entsprechender Anstrengung die Chance zum Aufstieg hat. Wenn aber Aufstiegsmöglichkeiten versperrt sind - zum Beispiel durch Privilegien, die nicht durch Leistung begründet sind - , dann wirkt Ungleichheit lähmend. Deshalb ist es so wichtig, dass wir gerade bei denen an der Spitze strenge Leistungskriterien anlegen. Denn ob sie wollen oder nicht, Menschen in Führungspositionen - ob in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Sport - haben eine Vorbildfunktion. Sie stehen im Rampenlicht und sind Bezugspunkt. Und deshalb muss gerade bei ihnen der Zusammenhang von Leistung und Entlohnung nachvollziehbar sein.
Theodor Heuss schreibt in seinem Buch über Hermann Schulze-Delitzsch: "Selbst ist nie bloß das ' Ich ' , sondern das ' Du ' , das ' Ihr ' und ' Wir ' , Selbsthilfe umfasst den Nächsten und weiß sich von ihm gestützt, Selbstverantwortung heißt Mitverantwortung und Gemeinverantwortung." In diesem Sinne tragen wir alle Verantwortung, die Rahmenbedingungen und Anreize, aber auch unser eigenes Verhalten so auszurichten, dass wir die Gemeinschaft und unsere gesellschaftliche Ordnung stärken. Nehmen wir uns auch in dieser Hinsicht ein Beispiel an Hermann Schulze-Delitzsch, der nicht nur Unternehmer war, sondern auch Politiker - und zwar ein im Sinne der genossenschaftlichen Idee sehr erfolgreicher: Er hat die Genossenschaften nicht nur erfunden, er hat ihnen auch zu einem rechtlichen Rahmen verholfen. Menschen wie er, die sich für ihre Überzeugungen auch politisch engagieren, sorgen dafür, dass Demokratie gelingt. Deshalb, meine Damen und Herren, mischen Sie sich ein.
Sie werden gemerkt haben, dass ich in meinem Grußwort bewusst nicht ausdrücklich auf die Finanzkrise eingegangen bin. Aber im Grunde ist es auch ein Kommentar auf diese Krise, wenn ich von Bankgründern mit Gemeinsinn spreche und von Bankvorständen mit wachem Bewusstsein auch für ihre soziale Verantwortung. Diese Kombination ist genau das, was wir auch und gerade heute brauchen. Wir brauchen Verantwortung, Verantwortlichkeit, wir brauchen ein Bewusstsein, dass Geld notwendig ist, um wirtschaftliche Kreisläufe zu entwickeln und zum Florieren zu bringen, dass aber das Finanzwesen über die wirtschaftlichen Einzelinteressen hinaus immer auch den Menschen, der Allgemeinheit dienen muss. Denn wenn es das nicht mehr tut, dann wird es zur Gefahr für die Realwirtschaft und damit für die Allgemeinheit.
Ich bin froh, dass es die Volksbanken und Raiffeisenbanken in Deutschland gibt: dezentral, menschennah, kundennah. Sie werden hoffentlich Ihre Hausaufgaben machen. Nehmen Sie diese Krise als Herausforderung an, bewahren Sie sich das, was eigentlich das Wichtigste ist für das Bankengeschäft: das Vertrauen Ihrer Kunden und Geschäftspartner. Bewahren Sie sich das, arbeiten Sie daran und dann gibt es eine lange Zukunft für Volksbanken und Raiffeisenbanken. Es liegt an uns, meine Damen und Herren, an jedem einzelnen von uns, Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Gemeinsinn zu stärken. Es lohnt sich, dafür zu arbeiten. Ich danke Ihnen!