Redner(in): Horst Köhler
Datum: 26. Mai 2009
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/05/20090526_Rede.html
Meine Frau und ich, wir freuen uns sehr darüber, dass wir heute beisammen sind, um Herrn Professor Meier anlässlich seines besonderen Geburtstags ein wenig zu feiern und hochleben zu lassen. Derzeit wird oft an Ihr Geburtsjahr erinnert: 1929 löste der Crash der New Yorker Börse eine damals beispiellose globale Wirtschaftskrise aus. Sie stürzte die Welt in Unsicherheit und Millionen von Menschen in Armut. Wer heute von 1929 spricht, hat bange Fragen im Sinn: Steht uns Ähnliches bevor wie damals? Wie werden wir die jetzige Krise meistern? Und: Was können wir lernen aus dem, was damals falsch gelaufen ist?
Ich für meinen Teil denke zwar, wir sollten uns vor allzu schlichten Gleichsetzungen hüten. Schließlich ist vieles heute anders als damals. In jedem Fall aber ist ebenso spannend wie lohnenswert, zurückzublicken, Analogien und Unterschiede herauszuarbeiten, um aus der Vergangenheit zu lernen, ohne sie zu versimpeln. Denn zu den Eigenschaften, die den Menschen auszeichnen - oder sagen wir ' s etwas vorsichtiger: die ihn auszeichnen sollten - gehört die Fähigkeit zu lernen. Und woraus lernen wir? - Zuallererst doch aus Erfahrungen, aus eigenen wie auch aus solchen, die uns von Anderen übermittelt werden.
Unter diesen Übermittlern nimmt der Historiker eine besondere Stellung ein. Schließlich, so haben Sie es selbst einmal schön gesagt, verwaltet er eine Unsumme menschlicher Erfahrungen. Das ist natürlich eine freundliche Untertreibung, denn gute Historiker "verwalten" ja nicht nur - was an sich verdienstvoll genug wäre. Nein, sie rekonstruieren die Vergangenheiten oft genug überhaupt erst, sie verleihen dem Verstreuten und Versunkenen Sinn. Manchmal verstehen sie wohl eine Epoche besser, als die damals Handelnden sich selbst verstehen konnten - ein solches Kunststück haben Sie mit Ihrer Studie "Res publica amissa" vollbracht. Und schließlich stellen gute Historiker Fragen, die weit über den jeweiligen historischen Horizont hinausreichen.
Fragen wie diese zum Beispiel: Welche Ordnungen haben sich Menschen zu unterschiedlichen Zeiten für ihr Zusammenleben gegeben? Wie haben sie sich in ihrer Umwelt eingerichtet, wie sich in der Welt zurecht gefunden? Wie verantwortungsbewusst sind sie mit der Herausforderung der Freiheit umgegangen? Wie mit Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und Ängsten?
Solche Fragen haben Sie an die griechische und römische Antike gestellt. Sie schildern die damalige Zeit so unmittelbar, als trennten uns nicht Jahrtausende von Perikles und Caesar, sondern nur eine geöffnete Tür. Die Alten kommen uns nahe, nicht wie Museumsfiguren, sondern lebenswarm, als Denkende, Fühlende, Handelnde. Ihre Antworten sind andere als die unseren. Aber ihr Maß ist groß, es regt zu Vergleichen und zu Fragen an.
Haben wir, anders als manche Gesellschaften vor uns, die richtigen Institutionen, um auf die heute drängenden Probleme angemessen zu reagieren? Wie gut verstehen eigentlich wir Heutigen uns selbst und unsere eigene Zeit? Reicht unsere Phantasie aus, um die Konsequenzen des Wandels zu begreifen, mit dem wir es zu tun haben?
Auch das hat Sie bewegt und nach Antworten suchen lassen, und auch dieser Teil Ihres Werkes findet ungezählte dankbare Leserinnen und Leser. Dabei ist es keine besonders frohe Botschaft, die Sie bringen. In Ihren Anmerkungen zum Zeitgeschehen überwiegen die Töne in Moll:
Aus Ihren Beiträgen spricht die Sorge um die Zukunft der Demokratie angesichts eines - wie Sie es trefflich formulieren - "erschreckenden Mangels nicht nur an gesellschaftlicher Selbstbestimmung, sondern an Bewusstsein der Gesellschaft von sich selbst".
Die Sorge um das Fundament unserer - wie Sie sagen - "Nation, die keine sein will" - diese Sentenz ist sprichwörtlich geworden!
Und es spricht aus Ihrem Werk auch Skepsis, ja Schauder angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen unsere Eine Welt steht, ohne schon die nötige kooperative Weltpolitik zu verfolgen.
Es ehrt Sie, dass Sie der Versuchung widerstehen, nur solche Fragen zu stellen, auf die Sie eine erschöpfende Antwort zu geben imstande sind. Es ehrt Sie, dass Sie auch Ihrer Ratlosigkeit Raum geben - dem Gefühl, dass "der Zeit die Zeit davonläuft"; der Sorge, dass wir mit unserem Erkennen, Verstehen und Handeln den Ereignissen womöglich hilflos hinterherhinken; und auch dem Zorn darüber, dass wir zu wenig an die eigene Zukunft denken. Mit Ihren Worten: "Wir machen mit, kaufen, legen Geld an, verschmutzen und erwärmen die Luft, verschandeln unsere Städte, lassen unsere Demokratie schluren, versäumen, uns um unsere Kinder recht zu kümmern."
Das klingt so gar nicht gelehrt und "historisch abgewogen", sondern eher wie die Worte eines Mannes, den seine Profession auch in manche menschlichen Abgründe hat blicken lassen. Und doch habe ich den Eindruck, dass Sie sich bei aller Skepsis auch viel Optimismus bewahrt haben. Ich jedenfalls finde in Ihren Antworten auch vieles, was mich zuversichtlich stimmt:
Ich lese bei Ihnen den Optimismus heraus, dass Geschichte offen ist. Den Optimismus, dass sich aus ihr lernen lässt - zum Beispiel, dass diejenigen, die sich an überkommenen Strukturen festklammern, selten zu den Gewinnern eines Wandlungsprozesses gehören, und dass wir Offenheit für Neues brauchen.
Für all dies haben Sie, lieber Professor Meier, viele anregende und wichtige Beispiele und Fingerzeige gegeben. Sie haben Ihre historische Arbeit immer auch als eine zeitgenössische Angelegenheit verstanden, als eine Verantwortung zur Einmischung in die öffentliche Debatte. Sie haben oft Position bezogen, scharfsichtig und entschlossen, dabei nie dogmatisch, immer abwägend und gelassen argumentierend - und mit einer Sprache, die kraftvoll und präzise zu überzeugen weiß und die Leser zugleich begeistert für das älteste Programm der Aufklärung: sapere aude!
Schließlich, und das unterstreiche ich auch aus eigenem Erfahren: Bei aller Faszination und Sympathie fürs Antik-Abendländische haben Sie Ihre Zunft schon früh dazu aufgerufen, die "Welt der Geschichte" als eine zu begreifen, die den ganzen Globus umfasst, und vor der Überheblichkeit gewarnt, die Geschichte anderer Völker allein an europäischen Maßstäben zu messen. Ich bin überzeugt, ein Schlüssel für eine kooperative Weltpolitik liegt in unser aller Bereitschaft, den jeweils anderen in seinem Anderssein wahr- und ernst zu nehmen, ohne das Eigene und wie es geworden ist zu vergessen.
Meine Damen und Herren, erheben Sie mit mir das Glas auf den Jubilar: Lieber Professor Meier, mögen Sie noch lange Zeit die Schätze menschlicher Erfahrung heben und uns damit ein Stück der Orientierung vermitteln, die unsere Zeit so dringend braucht!
Ad multos annos!