Redner(in): Horst Köhler
Datum: 26. Oktober 2009
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/10/20091026_Rede.html
Ich freue mich, dass ich heute Abend bei einer kleinen "radikalen" Minderheit zu Gast sein darf. Ihre Einladung, dabei zu sein, wenn lyrikline.org zehn Jahre alt wird, habe ich sehr gern und sehr bewusst angenommen.
Wenn manchmal gefragt wird, wofür der Bundespräsident zuständig ist, dann sagt man gerne: Für ' s Große und Ganze. Das ist auch richtig - im Großen und Ganzen. Wenn man aber genauer hinschaut, woraus das Große und Ganze denn besteht, dann wird sehr schnell klar, dass es aus sehr vielen kleinen Teilen besteht.
Das gilt für die Gesellschaft, die zusammengehalten wird durch unzählig viele verschiedene Initiativen und Gruppen, aus engagierten Menschen, die eine Lücke gesehen und daraus eine Aufgabe für sich gemacht haben. Unsere Gesellschaft lebt von denen, die etwas gestalten, etwas anpacken, etwas zu ihrer Sache machen.
Auch das kulturelle Leben ist angewiesen auf die kreativen Ideen der einzelnen, auf die schöpferischen Initiativen von Minderheiten. Das Neue und Überraschende, das Unerhörte und Weiterführende - das entsteht meistens in einzelnen Köpfen, in kleinen Bewegungen und Projekten.
So ist es, wenn ich es richtig sehe, auch bei lyrikline gewesen. Auf diese Idee, die im Nachhinein wie das Selbstverständlichste der Welt klingt, auf diese Idee muss man aber erst einmal kommen, und man muss die Fähigkeit - und auch die Zähigkeit - haben, um sie in die Tat umzusetzen - und dann auch lebendig zu halten und wachsen zu lassen.
Diese Idee, die heute so selbstverständlich ist, heißt: Wir bringen die älteste Kunst, die Poesie, und das neuste Medium, das Internet, zusammen, um etwas gleichzeitig sehr Altes und aktuell wieder sehr Gefragtes jedem, der es möchte, zu ermöglichen: sich ein Gedicht vorlesen zu lassen; und zwar vom Dichter - oder von der Dichterin - selber.
Das hat funktioniert - und es funktioniert jetzt zehn Jahre lang - und es hat weltweite Wirkung. Dazu sage ich denen, die die Idee hatten, besonders der Literaturwerkstatt Berlin, allen, die zu lyrikline gehören, allen, die Sie unterstützen, und den Partnern in der ganzen Welt meinen herzlichen Glückwunsch!
Dass Lyrik und Poesie trotz des Internets keine Massenbewegung auslösen, ist Ihnen allen klar. Es geht aber in diesem Fall auch gar nicht um die Masse und die ganz große Zahl. Es geht darum, dass interessierte Einzelne in aller Welt einen Zugang zu dem bekommen, was für sie von großer Bedeutung ist, was sie für ihr geistiges Leben brauchen.
Warum sind für viele Menschen Gedichte so wichtig - und vorgelesene Gedichte erst recht? Weil Gedichte die dichteste, anspruchsvollste und subjektivste Art sind, Sprache zu gestalten, die Welt ins Wort zu fassen, die Existenz zum Ausdruck zu bringen. Gedichte sind kleine Widerstandsnester gegen die riesige Flut an Sprachmüll, der uns täglich aus allen Medien entgegenkommt. Wir reden vom Kommunikations- und Informationszeitalter, in dem wir leben - aber oft kommt es uns so vor, als sei die Kommunikation noch nie so belanglos und als sei die Information noch nie so leer gewesen. Die Sender müssen ja rund um die Uhr senden und die Online-Dienste ihre Schlagzeilen möglichst stündlich ändern - so kommt es, dass die Sprache in eine Art Überproduktionskrise geraten ist.
In dieser Situation stellt das Gedicht eine Unterbrechung dar.
Das Gedicht unterbricht für einen Augenblick das ewige Weiterreden. Es ermöglicht ein Atemholen - vielleicht sogar einen Moment der Wahrheit und der Selbsterkenntnis.
Insofern ist es eine wunderbare List, dass durch lyrikline ausgerechnet im vielleicht geschwätzigsten Medium das gelesene Gedicht diese Unterbrechung, dieses Atemholen ermöglichen kann. Man hat mir gesagt, dass die meisten Aufrufe wohl während der Mittagspause stattfinden - also dann, wenn die Menschen eine Unterbrechung brauchen - und sich dabei buchstäblich auf einen Gedankenausflug bringen lassen möchten.
Gedichte gehören laut gelesen - denn sie sind die Sprachform, die am meisten dem Lied verwandt ist, also Melodie und Rhythmus der Sprache in sich bergen und zeigen. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie viel sich allein durch den Vortrag von Poesie mitteilt, selbst wenn man die Sprache nicht versteht. Im vorigen Jahr war Lebogang Mashile in Schloss Bellevue zu Gast - zusammen mit anderen afrikanischen Schriftstellern - und sie hat uns alle mit ihrer Performance fasziniert. Ich freue mich, dass ich Sie, Frau Mashile, heute Abend hier wiedersehen - und wiederhören kann!
Dass Sie heute hier sind, macht noch auf einen ganz wichtigen Aspekt von lyrikline aufmerksam: Die internationale Gemeinschaft der Poeten und der Poesieliebhaber wird durch diese Plattform wunderbar verstärkt und gefestigt. Das ist ein schöner Beitrag, den diese Initiative aus Deutschland für den weltweiten Austausch im kulturellen und geistigen Leben leistet.
Denn gerade Einzelgänger brauchen Zusammenhalt. Und die Poeten sind Einzelgänger. Und gerade die Schriftsteller aus den armen Gegenden der Welt, die von gedruckter und in Verlagen edierter Lyrik nur träumen können, haben durch lyrikline ein einzigartiges Mittel der Kommunikation bekommen. Auch dafür zolle ich gerne Lob und Anerkennung.
Die Globalisierung der Poesie hebt die Einzigartigkeit einer jeden Kultur nicht auf. Dass die ausländischen Autoren, die aufgenommen werden, nicht von Deutschland, sondern von den jeweiligen Partnerorganisationen ausgesucht werden, könnte fast ein Beleg dafür sein, die Poesie als Avantgarde einer partnerschaftlichen Globalisierung zu sehen. Aber ich will hier nichts instrumentalisieren.
Lyrik und Poesie haben ihr eigenes Recht, ihren eigenen Sinn. Dafür und deswegen brauchen und lieben wir sie. Sie, die Freunde und Mitarbeiter von lyrikline haben sich um die Poesie verdient gemacht. Und damit um ' s Große und Ganze!
Dafür noch einmal vielen Dank!