Redner(in): Horst Köhler
Datum: 20. Dezember 2009

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/12/20091220_Rede.html


Acht-null-null, Karl kommt auf den Stuhl ". Mit diesem Satz haben sich Generationen deutscher Schüler das Datum der Krönung Karls des Großen gemerkt. Von dem Hofhistoriographen Einhard ist überliefert, Karl selbst sei damals eher verstimmt gewesen, und er wäre nicht in die Kirche gegangen, hätte er von der beabsichtigten Krönung gewusst. Pikanterweise war der ihn krönende Papst Leo III. faktisch sein Schützling, und man hätte diesen Akt auch als Anmaßung missverstehen können.

Als nicht weniger anmaßend hätte man auch die Initiative des Aachener Textilkaufmanns Dr. Kurt Pfeiffer vor genau 60 Jahren missverstehen können, einen nach Karl dem Großen benannten Bürgerpreis für verdiente Persönlichkeiten zu stiften,"die den Gedanken der abendländischen Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung gefördert haben", wie es in der Proklamation des Preises hieß.

Und mussten Zeitpunkt und Initiatoren nicht wirklich etwas unpassend erscheinen? Eine kleine Bürgerschar in der Grenzstadt Aachen in einem Deutschland, das noch weitgehend in Schutt und Asche lag, und ein Europa, das noch aus ungezählten Wunden blutete, die der von Deutschen ausgelöste Krieg geschlagen hatte.

Aber es ging den couragierten Bürgern um Dr. Pfeiffer darum zu zeigen, dass sie nicht auf die große Politik warten wollten, dass sie aus der Geschichte gelernt hatten."Nie wieder Krieg", hatten sie sich auf die Fahnen geschrieben. Sie wollten einen Neuanfang, ein neues Denken, ihre Vision war Humanität. Sie sagten sich,"die historische Aufgabe wahren Grenzertums ist es, zu vermitteln und die Grenzen zu überwinden."

Für diese Vision war ihnen Karl der Große als würdiger Pate gerade gut genug. Und der war so ehrgeizig gewesen, dass er sogar Sprache, Bildung, Recht, Währung und die religiösen Orden vereinheitlichen wollte.

Mit dem Jubiläum des Karlspreises feiern wir heute also auch die Bürger von Aachen, die in den vergangenen 60 Jahren einen wachen Sinn für wahre Väter und Mütter der europäischen Familie bewiesen haben. Die Aachener haben der europäischen Integration Gesichter gegeben, Gesichter für Europas Einheit in Vielfalt.

Der Karlspreis steht für die Idee eines Europas der Bürger. Die Stadt Aachen und ihre Bürger zeichnen Persönlichkeiten aus, die dem europäischen Einigungswerk den Weg bahnen. Die Bürger vertrauen auf politische und geistige Führung, sie formulieren aber auch selbst Ansprüche und Forderungen. Sie setzen auf Vorbilder. Und dabei war es 1949 noch keineswegs sicher, dass sich so viele herausragende Persönlichkeiten für die europäische Idee begeistern und sie vorantreiben würden.

Die Reihe der Geehrten und die jeweilige Würdigung durch das Preisdirektorium spiegeln auch wider, wie sich die Herausforderungen an Europa im Laufe der letzten sechs Jahrzehnte wandelten.

Vor 60 Jahren war die erste Sorge der Aachener der Wiederaufbau ihrer zerstörten Stadt und der unbedingte Wille zum Frieden als Aufgabe der Politik. Sie wollten die Verständigung mit den Nachbarvölkern nach den Schrecknissen, die Deutschland unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft über den europäischen Kontinent gebracht hatte. Als Bewohner einer Grenzregion wollten sie ihr Leben nicht mehr durch Schlagbäume und Zollschranken behindert sehen. Sie erkannten früh die Weitsicht und die politische und geistige Kraft von Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi, Paul Henri Spaak, Konrad Adenauer und Walter Hallstein.

Ein Schlüssel für die Wiederfindung Europas war die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes. Wir können kaum noch ermessen, wie groß die Aufgabe damals war: Es galt, eine sogenannte "Erbfeindschaft" in Zusammenarbeit und Versöhnung umzuschmieden. Durch vielfältige Begegnungen zwischen den Menschen wurde Freundschaft daraus. Ich selber werde niemals die Rede von Präsident de Gaulle vergessen, die er am 9. September 1962 in Ludwigsburg, meiner Heimatstadt, gehalten hat. Ich war als 19-Jähriger dabei. Er sagte damals: "Die Zukunft unserer beiden Länder, der Grundstein, auf dem die Einheit Europas gebaut werden kann und muss, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Welt bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk". Charles de Gaulle wandte sich mit dieser Rede vor allem auch an die deutsche Jugend, und er behielt Recht: Mit den Jahren ist die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit zum Motor der europäischen Einigung geworden. Auf beiden Seiten des Rheins muss darauf geachtet werden, dass dieser Motor nicht zum Stillstand kommt.

Die Bürger Europas verbanden ihr Streben nach Frieden mit dem Wunsch nach Wiederaufbau und gefestigten Verhältnissen. Was als Montanunion begann, um das Rüstungspotential der Gründungsstaaten gemeinsamer Kontrolle zu unterwerfen, das entwickelte sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zum größten Binnenmarkt der Welt. Aus Trümmern wuchs Wohlstand und Interesse füreinander. Die Bürger Europas staunten selber, was ihnen gelang.

Aus der Gemeinschaft der sechs Gründerstaaten von einst ist eine Union von 27 Mitgliedsländern geworden. Ihre Bürger arbeiten und reisen ohne Grenzkontrollen und entdecken die wunderbare Vielfalt Europas. Europa ist die Idee einer Friedensordnung.

Der Karlspreis hatte stets das ganze Europa im Blick. Als der Beitritt Großbritanniens noch eine höchst umstrittene Angelegenheit war, auf den britischen Inseln und auf dem Kontinent, da wurden schon Winston Churchill, Roy Jenkins und Edward Heath Karlspreisträger. Später ehrte das Direktorium mutige und entschlossene Politiker, Menschen- und Bürgerrechtler, die die Zugehörigkeit ihrer Länder zum freiheitlichen Europa einforderten und dazu beitrugen, den Eisernen Vorhang zu beseitigen. Ich nenne Gyula Horn, Václav Havel und Bronislaw Geremek, natürlich aber auch Papst Johannes Paul II. , dessen Rolle bei der Überwindung der kommunistischen Diktatur gar nicht überschätzt werden kann. Er rief den Völkern in Mittel- und Osteuropa zu: "Habt keine Angst!" Die Menschen überwanden ihre Angst und eroberten die Freiheit. Die Einigung Deutschlands und die Einigung Europas wurden durch kluge Politik "zwei Seiten einer Medaille" ( Helmut Kohl ) .

Heute ist die Europäische Union ein Binnenmarkt mit verlässlichen rechtlichen Rahmenbedingungen für 500 Millionen Bürger. Ein so großer Wirtschaftsraum der Freiheit und die gemeinsame Währung geben Stärke und Schutz. Die anfänglichen Zweifel vieler Bürger gerade in Deutschland, ob die Vorteile eines einheitlichen Währungsraums nicht mit zu hohen Risiken erkauft würden, haben sich nicht bestätigt. Ohne die gemeinsame Währung hätte uns die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Zweifel noch viel schwerer getroffen. Denn die einzelnen Währungen hätten den Turbulenzen auf den Finanzmärkten nur schwerlich standhalten können. Die Krise hat uns aber auch vor Augen geführt, dass sich die Europäische Union im Inneren noch besser für die Zukunft wappnen muss. Das verlangt unabdingbar nachhaltige Strukturreformen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten und eine wirksamere Koordination ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik untereinander. Hier fehlt es noch. Die überbordende Staatsverschuldung in vielen Mitgliedstaaten ist ein Menetekel.

Europa ist aber inzwischen nicht nur eine ökonomische und soziale Schicksalsgemeinschaft, sondern auch und vor allem eine Wertegemeinschaft. Trotz aller vorhandenen Unterschiede verbinden uns Kultur, demokratische Überzeugungen, der Wille zur Freiheit, der Glaube an die Universalität der Menschenrechte, das Vertrauen in den Rechtsstaat und unser christlich-jüdisches Erbe. Ich glaube, es gibt schon so etwas wie ein Lebensgefühl in Europa, das uns zusammenhält.

Eine solche Wertegemeinschaft lebt von der demokratischen Teilhabe der Bürger. Und deshalb ist die demokratische Legitimität der europäischen Institutionen so wichtig. Die Menschen in Europa wollen und brauchen die Zugehörigkeit zu ihrer Nation, die Verbundenheit mit ihrer Region und ihrer Stadt, kurz zu ihrer Heimat und ihren traditionellen Wurzeln. Sie werden geboren als Deutsche, Italiener oder Iren. Das kann und will ihnen niemand wegnehmen. Aber sie wollen zugleich Europäer sein. Das ist auch institutionell möglich, wenn das Subsidiaritätsprinzip die Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen zweifelsfrei bestimmt: Alles, was die Bürger und ihre Vertreter vor Ort entscheiden können, sollen sie auch dort entscheiden. Dieses Vertrauen in die Freiheit soll man ihnen geben. Was nicht vor Ort zu regeln ist, wird in den Ländern oder auf nationaler Ebene entschieden. Aber es gibt auch Aufgaben, die selbst für Nationalstaaten zu groß sind, um sie alleine bewältigen zu können. Für diese Aufgaben brauchen wir die Europäische Union. Es ist gut, dass der Lissabon-Vertrag den nationalen Parlamenten das Recht einräumt, über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu wachen und notfalls sogar vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Ich ermutige die deutschen Parlamentarier: Nehmen Sie dieses Recht ernst! Aber seien Sie auch wachsam und selbstkritisch gegenüber politischem Über-Bande-Spielen im eigenen Land.

Ich nehme es als schönes Zeichen, dass der Lissabon-Vertrag zu Anfang dieses Monats, gerade rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Karlspreis-Proklamation, in Kraft getreten ist.

Jetzt kommt es darauf an, den Vertrag kraftvoll mit Leben zu erfüllen. Das beginnt damit, dass er den Bürgern Europas besser erklärt wird. Sie müssen wissen, dass er in ihrem Interesse ist und viele Möglichkeiten bietet für ein besseres Leben. Die Bürger sollen schlicht die Erfahrung machen, dass Europa ihnen dient. Zu oft erleben sie heute das institutionelle Europa vor allem als Ärgernis.

Ganz wesentlich dient es den Interessen der Bürger Europas, dass der Vertrag von Lissabon die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Union stärkt. Das erklärt sich aus drei Gründen:

1. Wir haben mit der Europäischen Union eine Ordnung erreicht, die Freiheit, Wohlstand und Solidarität verbindet. Das kann keine Schablone für andere Regionen und Kontinente sein, aber es ist ein Modell für gutes Miteinander, das anderen Orientierung geben kann bei der Lösung ihrer eigenen Probleme. Wir sollten dieses Modell in der internationalen Gemeinschaft mit selbstbewusster Bescheidenheit vertreten, nicht nur, weil wir von seiner Qualität überzeugt sind, sondern auch, weil wir das Erreichte leichter bewahren und verbessern können, wenn es weltweit viele ähnliche Entwicklungen gibt. Es gibt weltweit einen Bedarf, Freiheit mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Das wird nämlich keineswegs zwangsläufig so sein, und das ist die zweite Erkenntnis, die dem Vertrag von Lissabon zugrunde liegt.

2. Unser europäisches Projekt steht in einer schärfer gewordenen internationalen Konkurrenz, sowohl hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als auch hinsichtlich seiner tragenden Werte und Überzeugungen. Es ist ja schon lange erkennbar gewesen, dass sich neue Wettbewerber, u. a. in Asien, bilden. Das Tempo kann überraschen. Darum sind bessere Instrumente nötig, um unsere Interessen nach außen wirksam zu vertreten und um im Inneren die Werte, die Überzeugungen und die Fähigkeiten zu stärken, auf denen unsere Freiheit und unser Wohlstand beruhen. Der Lissabonner Vertrag hilft uns dabei. Nun kommt es auf den politischen Willen an, seine Möglichkeiten auch wirklich zu gebrauchen. Es gibt viel Raum dafür.

3. Europa darf aber nicht allein darauf bedacht sein, das bei uns Erreichte zu bewahren und zu bewerben. Europa muss entschlossen und wirksam mitarbeiten an den großen Menschheitsaufgaben, die sich jetzt stellen: Überwindung von Armut, Begrenzung des Klimawandels, Sicherung von Frieden. Europa hat das Rüstzeug dazu, eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten maßgeblich mitzugestalten. Der Ausgang der Kopenhagen-Konferenz sollte uns eher darin bestärken, dass Europa noch mehr zur Lösung der großen Menschheitsaufgaben beitragen muss. Der Lissabonner Vertrag verbessert auch da das "Können" Europas, nun steht sein "Wollen" auf dem Prüfstand.

An diesen Aufgaben, an diesen Möglichkeiten werden alle künftigen Träger des Karlspreises gemessen werden. Mein Appell an die Bürger von Aachen lautet: Setzen Sie selber diesen Maßstab! Bewahren Sie den Karlspreis davor, zum Ornament für das Etablierte zu werden. Machen Sie ihn zur wichtigsten europapolitischen Auszeichnung auch des 21. Jahrhunderts mit den Aufgaben des 21. Jahrhunderts! Belohnen Sie das Zukunftsweisende, auch wenn es uns Europäern die Unbequemlichkeit abverlangt umzudenken, uns ökologisch neu zu erfinden, unvernünftige Gewohnheiten abzulegen, selbst wenn sie uns liebgeworden sind. So Wegweisendes haben ja auch die Gründungsväter des Preises geleistet, als sie vor 60 Jahren eine europäische Einigung propagierten, die vielen als Utopie und so nachrangig gegenüber den drängenden Alltagssorgen in der zerstörten Stadt schien.

Und vor allem: Suchen Sie Preisträger, die sich den Fragen der Jugend stellen, denn es sind die jungen Leute, die das europäische Projekt in die Zukunft tragen und die die Menschheitsfragen bewältigen müssen. Und die Jugendlichen fragen uns schon heute sehr viel: Warum sie in der Schule nur wenig über andere Länder und die gesamteuropäische Geschichte lernen; warum Bildungsabschlüsse in anderen europäischen Ländern nicht anerkannt werden; warum Austauschprogramme überwiegend Akademikern, aber kaum Handwerkern und Technikern offen stehen; warum Europa in Afrika seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt; warum so wenig am Aufbau einer öffentlichen politischen Meinung in Europa gearbeitet wird; warum es noch keine gemeinsame europäische Armee gibt und viele, viele Fragen mehr.

So dass ich heute auch kritisch anmerken muss: Europa beschäftigt sich zu sehr mit Nebensächlichkeiten. Aber niemand in der Welt wartet auf Europa, vor allem nicht, wenn es um die zukünftige globale Verteilung von Arbeit und Einkommen geht. Hatten sich die Staats- und Regierungschefs vor zehn Jahren nicht vorgenommen, Europa zum "innovativsten, wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum" zu machen? Zentrale Zielmarken dieses Anspruchs werden offensichtlich nicht erreicht. Und einen wirklichen Aufbruch in der Bildungs- , Wissenschafts- und Forschungspolitik in Europa kann ich auch nicht erkennen. Ich bedauere das. Vor allem wegen der Jugend Europas und ihrer Zukunftschancen. Eine weitere Anmerkung: Der traurige Verlauf des Bologna-Prozesses bei uns und in anderen europäischen Ländern dürfte die Europabegeisterung bei unseren jungen Menschen auch nicht gerade gesteigert haben. Mein Eindruck ist: Das politische Europa muss aufwachen und sich auf Prioritäten besinnen. Sonst könnten uns die besten jungen Europäer davonlaufen.

Da kommt es mir erst recht wie ein Geschenk des Himmels vor, dass die Karlspreis-Stiftung jetzt auch einen Europäischen Karlspreis für die Jugend geschaffen hat. Sie ist wieder ihrer Zeit voraus. Danke dafür. Dieses Jahr hat das Projekt "YOUrope needs You" aus Polen den ersten Preis erhalten, das die Ausbildung von Studenten in Europakunde und die Weitergabe von Wissen über Europa an Schulen zum Gegenstand hat. Herzlichen Glückwunsch den Initiatoren und den Mitgliedern des Europäischen Studentenforums AEGEE ( Association des Etats Généraux des Etudiants de l ' Europe ) ! Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Jugend gern bereit ist, die europäische Idee aufzunehmen, weiterzuentwickeln und weiterzutragen.

Und darüber können wir uns freuen. Das muss uns aber auch Verpflichtung sein.

60 Jahre Karlspreis: das ist ein Stück gute und vor allem ermutigende europäische Geschichte. Die Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises und die Stadt Aachen haben sich um Europa und Deutschland verdient gemacht. Dafür möchte ich Ihnen allen Dank und Anerkennung aussprechen. Ich wünsche Ihnen weiterhin eine glückliche Hand bei der Auswahl der Preisträger. Wir brauchen auch in Zukunft Lob und Ermutigung für die besten Köpfe, die für die europäische Idee stehen und sie voranbringen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.