Redner(in): Horst Köhler
Datum: 22. Dezember 2009

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/12/20091222_Rede.html


Ich habe viel gelernt von der Privatisierung der Cashewnuss. Es war im Jahr 2001 in Mosambik. Ich kam als Direktor des IWF und wollte mit dem damaligen mosambikanischen Präsidenten Chissano über die Privatisierung der Cashewnuss-Produktion sprechen. Doch das Gespräch verlief anders als erwartet. Chissano nahm sich Zeit für mich. Er erklärte mir sein Land. Er machte mir geduldig klar, dass dem Plan meiner Experten eine wichtige Grundlage fehlte: In Mosambik, so sagte er, gebe es nur begrenzt individuelle Eigentumsrechte an Grund und Boden. In seinem Land gehöre das Land der Gemeinschaft, und diese Form des gemeinschaftlichen Eigentums an Land sei tief in der Kultur verwurzelt. Sie könne nicht einfach übergangen werden.

Als das Gespräch zu Ende ging, hatte ich den Eindruck, wir hatten beide voneinander gelernt. Chissano war sich im Klaren, dass die Cashewnuss-Produktion in seinem Land unwirtschaftlich war und den Staatshaushalt belastete. Mir war bewusst geworden, dass die Privatisierung der Staatsbetriebe in Mosambik nicht einfach an einem grünen Tisch in Washington beschlossen werden kann. Mir dämmerte: wir im Norden wissen viel zu wenig über afrikanische Wege und afrikanische Lösungen. Auf der Suche nach diesen Lösungen können wir hilfreich sein. Aber nur dann, wenn wir aufhören, Afrika als Objekt oder als Projektionsfläche zu sehen. Wir müssen lernen, Afrika als eigenständigen Akteur aus eigenem Recht, mit eigener Erfahrung zu verstehen und zu respektieren.

Die Zeiten, in denen wir europäische Entwicklungsvorstellungen einfach auf Afrika übertragen haben, ohne auf die besonderen Umstände vor Ort zu achten, sind vorbei. Bis heute kämpfen viele afrikanische Länder damit, dass die aus Europa übernommene Idee des Nationalstaats sich nur schwer mit den Realitäten ihrer durch eine Vielzahl von Völkern und Sprachen gekennzeichneten Gesellschaften in Einklang bringen lässt. Die Frage, wie das Zusammenleben verschiedener Gruppen friedlich gestaltet werden kann und was unter solchen Umständen ein Gemeinwesen zusammenhält, muss aus den afrikanischen Gesellschaften heraus beantwortet werden. Natürlich werden bei der Gestaltung eines solch komplizierten Prozesses auch Fehler gemacht. Haben wir schon vergessen, dass Europa Jahrhunderte brauchte, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln? Und sind wir glaubwürdig, wenn wir duldsam mit autoritären afrikanischen Präsidenten umgehen, damit wir im Gegenzug Rohstoffverträge abschließen können?

In Afrika liegt noch vieles im Argen. Armut, Korruption und Misswirtschaft sind groß. Dies zu ändern liegt in der Hauptverantwortung der Afrikaner. Aber der Norden hatte und hat bis heute Mitschuld an den Verhältnissen. Noch immer wissen wir auch zu wenig voneinander. Wir sollten aber auch anerkennen, dass Afrika im Aufbruch ist. Dafür gibt es genug Beispiele. Vielleicht haben uns Afrikaner in manchem sogar etwas voraus. Afrikaner mussten sich immer wieder mit anderen Kulturen auseinandersetzen und neu anpassen. Althergebrachtes wurde in Frage gestellt oder sogar zerstört, Neues entstand. Und die Menschen haben trotzdem nach vorne geschaut und das Beste daraus gemacht. Dazu gehören Mut und Selbstbehauptungswillen. Der junge Parlamentarier Zitto Kabwe aus Tansania hat mir einmal gesagt, dass wir Deutschen von Afrikanern zum Beispiel lernen können, wie man Solidarität in der Gemeinschaft pflegt und sich auf Neues einstellt.

Und bei meinen Begegnungen mit Vertretern der afrikanischen Zivilgesellschaft hat mich sehr beeindruckt, dass die Menschen trotz vieler Rückschläge an der Idee der Demokratie festhalten. Aber das Ergebnis wird keine Kopie des westlichen Modells sein, sondern eine Demokratie mit afrikanischem Gesicht.

Heute leben die meisten Menschen in Afrika mit mehreren Sprachen, Identitäten und kulturellen Welten. Sie vereinbaren Traditionen und moderne Einflüsse in ihrem Alltag. Und sie nutzen diese Vielfalt mit Flexibilität, Ideenreichtum und Optimismus. Junge Afrikaner sprechen oft nicht nur eine oder mehrere europäische, sondern auch verschiedene afrikanische Sprachen. Sie benutzen traditionelle Rituale genauso selbstverständlich wie ihr Mobiltelefon.

Mit Afrika gemeinsam zu lernen, das bedeutet für mich auch, dass wir uns unsere gemeinsame Geschichte bewusst machen und daraus für die Zukunft schöpfen. Henning Mankell hat einmal gesagt, dass es Afrika anders als Europa versteht, die Erfahrungen von gestern für die Gestaltung des Morgen einzusetzen.

Lösungen für die Probleme unserer Zeit können nicht mehr alleine von Industrieländern entwickelt werden. Wir brauchen auch das Mitmachen und die Kreativität der Afrikaner. Wir brauchen Konzepte, die allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Und wir müssen unsere universalen Werte gemeinsam weiterentwickeln, damit sich auch die Menschen in anderen Weltregionen darin stärker wiederfinden. Ich bin sicher, dass Afrika hier sehr viel beitragen kann. Denn traditionelle afrikanische Philosophien sind ähnlich den asiatischen von einem ganzheitlichen Denken geprägt. Beispielsweise setzt die aus Südafrika stammende Ubuntu-Philosophie vor allem auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung, auf die Achtung der Menschenwürde und das Bestreben nach einer harmonischen Gesellschaft. Sie geht davon aus, dass das Glück des Einzelnen oder einer Gesellschaft immer auch von anderen Menschen oder Gesellschaften abhängt. Wie könnte man die Situation, in der sich die Menschheit in unserer globalisierten Welt befindet, besser beschreiben?

Ich glaube, wir dürfen nicht locker lassen, die Grundlagen für ein Weltethos auf allen Kontinenten zu verankern. Und in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts müssen wir auch weiter an einem gemeinsamen Weltrecht arbeiten. Wir werden dabei in Afrika aber schneller zum Erfolg kommen, wenn wir auch traditionellen afrikanischen Wegen der Versöhnung und Aufarbeitung Raum geben. Informieren wir uns doch genauer über die südafrikanische Versöhnungskommission und die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda durch die Gacaca-Tribunale. In Nord-Uganda helfen traditionelle Versöhnungsrituale, ehemalige Kindersoldaten wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Eine der größten Herausforderungen für die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft ist die Frage, wie wir mit öffentlichen Gütern, vor allem mit unseren natürlichen Ressourcen umgehen. Müssen wir uns vor dem Hintergrund des drohenden Klimawandels nicht neu mit der Idee des Gemeinguts befassen? Ich bin überzeugt, Präsident Chissano könnte uns hierzu manches sagen. Wir sollten viel mehr den offenen Dialog mit Afrikanern suchen. Das setzt echtes Zuhören voraus und verlangt den gleichberechtigten Austausch zwischen Politikern, aber auch weisen Persönlichkeiten, Wissenschaftlern, Jugend und Zivilgesellschaft. Warum hat die Europäische Union nicht längst - mit deutscher Unterstützung - ein afrikanisch-europäisches Jugendwerk auf die Beine gestellt?

Voneinander lernen, das bedeutet im 21. Jahrhundert vor allem miteinander lernen. Fairer Interessenausgleich und geteilte Verantwortung haben für uns eine existentielle Bedeutung. Längst stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir voneinander lernen können, sondern wie wir diesen Lernprozess gestalten. Wenn wir die Globalisierung zum Wohle aller gestalten wollen, dann müssen wir zu einer Lerngemeinschaft werden. Dabei geht es nicht darum, dass wir immer denselben Weg wählen. Entscheidend ist für mich, dass wir die eigenständige Leistung des Anderen respektieren. Dann werden wir auch verstehen, warum Afrika manchmal andere Antworten gibt, als wir erwarten."