Redner(in): Roman Herzog
Datum: 8. Mai 1998
Anrede: Sehr geehrter Herr Irwin,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/05/19980508_Rede.html
der 8. Mai ist ein geschichtsträchtiger Tag - besonders im Verhältnis zwischen Deutschen und Amerikanern. Vor 53 Jahren kamen die Amerikaner als Sieger nach Deutschland. Aber die nationalsozialistische Propaganda hatte es nicht vermocht, in den Köpfen der Deutschen ein tiefsitzendes Feindbild gegen sie aufzubauen. Man wußte in Deutschland sehr wohl, daß Amerika für Freiheit stand, für Demokratie und für Menschenrechte.
Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten damals die Erwartungen vieler Deutscher nicht enttäuscht. Ihre Instrumente waren nicht Deportation und Demontage, sondern Marshall-Plan und Hilfe in der Not. Diese ausgestreckte Hand hat das Empfinden der Deutschen bis heute tief geprägt. Daß aber aus Kriegsgegnern so schnell Partner, Verbündete und schließlich Freunde geworden sind, daß - trotz der großen geographischen Entfernung - vielfältige ökonomische, politische und persönliche Bindungen entstanden sind, daß wir inzwischen auch international gemeinsam Verantwortung tragen: das war vor 53 Jahren nicht in unseren kühnsten Träumen vorhersehbar.
Heute ist Deutschland wieder vereinigt. Seine östlichen Nachbarn, vor kurzem noch fest in einen kommunistischen Block integriert, sind marktwirtschaftlich strukturierte Demokratien, die an die Pforten von NATO und Europäischer Union klopfen. Politische und ökonomische Freiheit haben überall ihren Siegeszug angetreten.
Gerade hier in Leipzig ist die Geschwindigkeit des Wandels mit Händen zu greifen. Wer das Leipzig der 80er Jahre mit dem heutigen vergleicht, der erkennt sehr schnell, welch ungeheurer Aufbruch im Gange ist: Leipzig ist zum ostdeutschen Bankenzentrum geworden. Es bleibt trotz der Konkurrenz anderer Städte ein gewichtiger und zukunftsträchtiger Messestandort mit einem der modernsten Messezentren. Es ist eine dynamische, optimistische Region. Deshalb begrüße ich Sie mit besonderer Freude hier in Leipzig.
Vor einigen Tagen haben die europäischen Regierungschefs beschlossen, welche Länder an der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen sollen. Das war ein weiterer, in seiner historischen Tragweite gar nicht zu überschätzender Schritt auf die Integration Europas zu. Es ist ein Währungsraum im Entstehen, der von der Größe her allein mit dem der Vereinigten Staaten zu vergleichen ist.
Skeptiker äußern gelegentlich die Befürchtung, daß vor allem die reichen Länder der Union von einem großen Währungsraum profitierten; das reale Zusammenwachsen der EU-Mitgliedsstaaten würde daher eher behindert denn gefördert. Diese Befürchtung teile ich nicht. Gerade die Entwicklung des Wirtschafts- und Währungswesens in den Vereinigten Staaten lehrt uns das Gegenteil.
Sicher wird es Einkommensunterschiede zwischen einzelnen Regionen geben. Aber im Wettbewerb der Regionen haben alle die Chance, sich nach vorn zu arbeiten. Ganz entscheidend dabei ist, daß bei diesem Integrationsprozeß keine Region den Anschluß verlieren darf. Wie das geht, zeigt uns das Beispiel der USA.
Voraussetzung für das Funktionieren des amerikanischen Währungsraums war und ist die hohe Mobilität nicht nur des Kapitals, sondern auch der Menschen. In Sachen Mobilität bleiben die Amerikaner vermutlich unschlagbar. Eine so hohe Mobilität wird es in Europa vermutlich auf absehbare Zeit nicht geben. Hier spielen sicherlich Sprachbarrieren und auch unterschiedliche Traditionen eine große Rolle.
Um so mehr brauchen wir in Europa ein Höchstmaß an Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Das gilt besonders für den Lohnfindungsprozeß. Nirgendwo kann mehr verteilt werden, als die Produktivität zuläßt. Dabei muß konsequent nach Regionen, Branchen und Qualifikationen differenziert werden. Und überall brauchen wir intelligente Arbeitszeitregelungen, die die Erfordernisse der Unternehmen und die Arbeitnehmerbedürfnisse besser miteinander in Einklang bringen. Wäre diese Flexibilität nicht gewährleistet, dann bestünde tatsächlich die Gefahr, daß die Staaten der EU wirtschaftlich auseinanderdriften. Aber alle realistischen Erwartungen sprechen für ein anderes Ergebnis.
Deutsche und Amerikaner haben in der alten Bundesrepublik viele wirtschaftliche Verflechtungen geschaffen. Die gestern bekanntgewordene Fusion von Daimler-Benz und Chrysler - die bislang größte dieser Art - ist nur das jüngste Beispiel für die enge wirtschaftliche Vernetzung unserer beiden Länder. Ich werbe sehr dafür, daß sich diese Vernetzung mit Amerika jetzt in den östlichen Bundesländern fortsetzt. Amerikanische Investitionen bei uns sind hochwillkommen. Und sie sind rentabel!
Sie merken, ich nutze die Gelegenheit zur Werbung. Ich täte es nicht, wenn ich vom Produkt nicht überzeugt wäre. Schon deshalb nicht, weil Sie ja alle über sehr konkrete Bewertungsmaßstäbe verfügen und mich schnell überführen könnten, wenn ich übertreiben würde.
Gelegentlich starrt die börsenvernarrte Managerwelt verliebt auf bestimmte Weltregionen. Einmal ist es Südamerika, dann wieder Ostasien. Und tatsächlich gibt es auch immer wieder Beispiele einer unglaublichen und für alle vorbildlichen Dynamik. Nur: wir neigen dabei zu eindimensionalen Betrachtungen, obwohl doch ein Gesamtbild nötig wäre. Wirtschaftlich erfolgreich ist nicht, wer irgendwann den Sprintweltrekord aufstellt, sondern wer dauerhaft in der Spitzengruppe bleibt. Ökonomische Entwicklung, soziale Stabilität, politische Verläßlichkeit müssen nicht nur für den Produktionszyklus eines Chip-Modells, sondern über einen längeren Zeitraum gegeben sein. Und hier sehe ich gute Aussichten für Deutschland und für ein sich einigendes Europa.
Voraussetzung ist freilich, daß wir nicht nachlassen, an uns zu arbeiten. Lassen Sie uns immer wieder das modifizieren, was der Änderung bedarf. Wir Deutschen sollten dabei pragmatischer werden - also nicht alles zur Grundsatzfrage machen. Mancher hält unser Bemühen um Gründlichkeit in der Diskussion eher für Unfähigkeit zur Entscheidung. Vor allem wir selbst erkennen nicht mehr, was bereits alles in Bewegung geraten ist. Wie soll dann ein Investor aus fernen Landen verstehen, warum er zu uns kommen soll?
Die Wahrheit ist eine andere. Wir sind - trotz steckengebliebener Steuerreform - kein Land im Stillstand! Deutschland ist in Bewegung geraten! Wir sind dabei, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Wir sind in der Biotechnologie wieder vorn. Wir haben die größten Privatisierungen der Nachkriegsgeschichte durchgeführt - von der Telekommunikation bis zur Eisenbahn. Wir passen unser soziales Sicherungssystem neuen Notwendigkeiten an.
Auch das gesellschaftliche Klima für Innovationen und Reformen hat sich deutlich zum Besseren gewandelt. Vor gerade einer Woche habe ich nicht weit von hier, auf dem Leipziger Messegelände, ein weiteres Mal den Beweis für diesen Wandel miterlebt. Es war bei der Preis-Verleihung des StartUp-Wettbewerbs. Dort wurden junge innovative Unternehmer prämiert, die den Mut hatten, eine selbständige Existenz aufzubauen. Der dort gezeigte Elan gerade bei den Jüngeren hat mich tief beeindruckt. Man sah nicht nur die Bereitschaft zum Wagnis - es war geradezu eine Lust dazu spürbar. Es ist etwas in Gang gekommen, erst in den Köpfen, und dann in Taten. Auch das sollte von ausländischen Investoren zur Kenntnis genommen werden.
Natürlich: Es gibt noch viel zu tun. Für mich ist aber wichtig, daß gerade potentielle Investoren des Auslands die positiven Veränderungen und den Wandel in unserem Land wahrnehmen. Sie können selbst am meisten davon profitieren! Unser Land ist offen für ausländisches Kapital, vor allem aber ist es ein Ort des nachbarschaftlichen Miteinanders von Deutschen und Ausländern, auch wenn rechtsextreme Gruppen versuchen, soziale Probleme und Arbeitslosigkeit zu Hetze und Propaganda zu mißbrauchen; Deutschland bleibt ein demokratisches und auch ein gegenüber Ausländern freundliches Land! Die Rechtsradikalen stoßen auf die entschiedene Ablehnung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung und aller demokratischen Parteien. Wir lassen diesen Gruppen keinen Spielraum für ihre Demagogie, und ich bin sicher, sie werden schnell wieder aus unseren Parlamenten verschwunden sein. Das ist ja schon wiederholt gelungen.
Als Fazit bleibt: Deutschland ist ein guter Standort. Es lohnt sich, hier zu investieren, in den westlichen Bundesländern und ganz besonders in den östlichen.
Daß Investoren aus den USA sich - gewissermaßen als Vorreiter - früh und in außergewöhnlich starkem Maße in den östlichen Bundesländern engagiert haben, hat mich stets ganz besonders gefreut. Dafür möchte ich Ihnen meinen Dank aussprechen. Ich begrüße es auch sehr, daß Sie Leipzig für Ihre Jahreshauptversammlung ausgewählt haben und damit ihre anhaltende Verbundenheit für die neuen Länder zum Ausdruck bringen.
Lassen Sie uns anstoßen auf die gemeinsame Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben, auf die Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland und auf das Engagement amerikanischer Unternehmer in Deutschland.