Redner(in): Horst Köhler
Datum: 21. März 2010

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2010/03/20100321_Rede.html


Das ist ein guter Tag heute, für Leipzig, für Sachsen und für die ganze deutsche Kulturlandschaft. Das Bach-Archiv Leipzig wird wiedereröffnet und das Bach-Museum, neu gestaltet und doppelt so groß wie früher, wird Besuchern aus aller Welt wieder zugänglich.

Ich weiß, Sie sind hier besonders stolz darauf, dass das Bach-Archiv und damit das Bach-Museum zu den sogenannten "Kulturellen Leuchttürmen" in Ostdeutschland gehören. Auch hier im Binnenland weiß man, dass Leuchttürme nicht zuerst für sich selber Glanz verbreiten sollen, sondern dass ihr Leuchtfeuer dazu dient, Schiffe auf Kurs zu halten und ihnen Orientierung zu geben.

Genau so ist es mit den kulturellen Leuchttürmen. Sie sind sehr unterschiedlich und geben auf unterschiedlichen Routen Orientierung. Dieser Leuchtturm hier, das Bach-Archiv zu Leipzig, steht für eine wesentliche kulturelle Aufgabe, der wir uns stellen: die Pflege des kulturellen Erbes, die Erhaltung und Erforschung der schriftlichen Überlieferung - und schließlich auch das Lebendigmachen des Überkommenen, die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den Alten Meistern, was hier in Leipzig beispielhaft durch das Bach-Fest und den Bach-Wettbewerb geschieht.

Vor einiger Zeit habe ich zum ersten Mal ein Bach-Autograph in der Hand gehabt und konnte es von Nahem bewundern. Es war die Handschrift der h-moll-Messe. Die Leiterin der Staatsbibliothek zu Berlin hatte sie mir mitgebracht, als einige Bibliothekare und Archivare mich über die Initiative zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts informierten.

Von einer solchen Originalhandschrift geht eine große Faszination aus, sie hat eine Aura, die uns unmittelbar berührt. Zu wissen, diese Noten hat Johann Sebastian Bach selber zu Papier gebracht, zu sehen, wie exakt und schön seine Handschrift ist, all das ist uns nur möglich, weil es Archive gibt und weil Archivare und Restauratoren so gute Arbeit leisten.

Vor dieser Arbeit habe ich eine große Achtung. Die alten Schriftzeugnisse werden mit allermodernsten Mitteln der Gegenwart und der Nachwelt überliefert - und zwar in der sprichwörtlichen "mühevollen Kleinarbeit".

Als Laie kam ich zugegebenermaßen aus dem Staunen nicht heraus, als Restauratoren mir erklärten, wie man einzelne Manuskriptseiten aufschneiden und so in Vorder- und Rückseite trennen kann, um sie konservatorisch zu behandeln und dann wieder zusammenzufügen. Was für eine Mühe, was für eine Kunstfertigkeit!

Ich freue mich sehr, zu hören, dass die Bestände in Ihrer Bibliothek nun in einem guten Zustand sind, dass auch der große Feind der alten Materialien, der Tintenfraß, besiegt zu sein scheint. Ich freue mich auch darüber, dass das neu gestaltete Museum so eingerichtet worden ist, dass man gefahrlos auch die großen Kostbarkeiten ausstellen kann. So werden sie nicht mehr nur wenigen Auserwählten vor Augen kommen, sondern allen, die sich dafür interessieren. Das wird sicher viele Besucher von überallher neu anziehen.

Ein besonderer Besuch ist für die nächste Woche angekündigt, wenn das Bach-Archiv mit der Urkunde ausgezeichnet wird, die bestätigt, dass es ein Ort im "Land der Ideen" ist.

Arbeit im Archiv, Forschung an der Überlieferung: das ist Arbeit am Erhalt des kulturellen Gedächtnisses der Nation. Wie gefährdet dieses Gedächtnis ist, wenn wir im Umgang damit nicht größte Umsicht walten lassen, haben uns in den letzten Jahren der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek und der Einsturz des Kölner Stadtarchivs vor Augen geführt. Vieles kann - durch Unachtsamkeit, manchmal sogar durch Schlamperei und kriminelles Handeln verursacht - unrettbar verloren gehen.

Vergessen wir nicht die Hauptperson des heutigen Tages: Johann Sebastian Bach. Die Thomaner haben uns vorhin schon ganz wunderbar auf ihn eingestimmt, mit seiner Motette "Singet dem Herrn ein neues Lied". Die Thomaner selbst stehen nicht nur für eine vielhundertjährige, ununterbrochene Chorgeschichte - sie stehen auch für eine stets neue und stets auch der Gegenwart verpflichtete Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach.

Das ist ja das immer wieder Erstaunliche: Wie jede Zeit Bach neu entdeckt, andere Züge wahrnimmt, eine andere Aufführungspraxis bevorzugt. Wir wissen: Wir werden wohl nie ganz genau erfahren, wie die Bachsche Musik zu seiner Zeit wirklich geklungen hat, aber durch die ständige Forschung und genaues Studium einerseits und durch Experimentierfreude andererseits ändert sich unser Bild von Bach und unsere Vorstellung von seinem Klangbild. Jede Gegenwart findet ihren Bach - er veraltet nie.

Wer etwa eine Motette in der Aufnahme mit dem Thomanerchor vom Anfang der fünfziger Jahre hört und dieselbe Motette heute, der erfährt, wie Vorstellungen von Klang sich ändern. Man hört aber der alten Aufnahme auch an, wie befreit diese jungen Menschen aufsingen, die gerade noch den Krieg mit all seinen Schrecken erlebt hatten. Es ist ergreifend, sich vorzustellen, wie damals nach dem Krieg, aber auch zu vielen anderen Zeiten, Menschen diese Motette gehört haben: "Singet dem Herrn ein neues Lied..." und darin einen Ausdruck ihres eigenen Erlebens gefunden haben.

Wie kaum eine andere Musik vermag uns die Musik Bachs eine Ahnung davon zu geben, dass unser Leben eine Dimension hat, die über das Irdische hinaus geht. Das macht die Musik, wo sie Schmerz zum Ausdruck bringt, so trostreich, und wo sie jubelt, so himmelstürmend.

Und - noch ein kleines Wunder - überall in der Welt wird diese Musik verstanden und gespielt. Manche bestreiten, dass es eine Weltsprache der Musik gibt. Bach aber wird universal gehört, gespielt und geliebt. Durch ihn hat deutsche Kultur in aller Welt buchstäblich einen guten Klang.

Das Allerschönste für mich ist aber, dass Bach keineswegs nur von professionellen Musikern aufgeführt oder von ausgebildeten Sängern gesungen wird, dass er keineswegs nur auf CDs gehört wird, sondern dass sehr viele Menschen - auch sogenannte Laien - selber Bach singen und spielen. Bach ist in unserem aktiven Musikleben präsent. Seine Musik ist oft Teil des Gottesdienstes - längst nicht nur in evangelischen Kirchen - , sie wird von Kirchenchören aufgeführt aber auch von anderen Freizeitmusikern. Wie viele Sänger haben nicht schon zumindest Teile aus dem Weihnachtsoratorium, aus den Passionen und den Motetten gesungen!

Die große und lebendige Musikkultur in unserem Land bringt es mit sich, dass auch Menschen, die keine klassische musikalische Bildung genossen haben, sich selber aktiv mit großen Werken der Kunst beschäftigen - und daraus viel Freude, Lebenskraft und Ermutigung schöpfen. Das ist ein ganz kostbares Gut, das jede Unterstützung verdient.

Vielen Dank.