Redner(in): Roman Herzog
Datum: 4. Juni 1998
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/06/19980604_Rede.html
Aufbruch zu neuen Horizonten der deutsch-französischen Zusammenarbeit
Der Impuls, der vor fünfzig Jahren zur Gründung des Deutsch-Französischen Instituts führte, war eine Mischung aus Kühnheit und Nüchternheit. Kühn war die Vision, die Carlo Schmid, Theodor Heuss, Fritz Schenk und ihre Partner aus dem französischen Widerstand beseelte: aus den Erbfeinden Deutschland und Frankreich sollten Freunde werden. Aber kühne Visionen brauchen zu ihrer Verwirklichung nüchterne Instrumente. Eines der Instrumente der Verwandlung von Feindschaft in Freundschaft sollte das Institut werden."Durch langsames Herausschälen des Gemeinsamen", so sagte Carlo Schmid, sollte es helfen, die Gegensätze zu überwinden, die zur Selbstzerstörung Europas geführt hatten.
Die Hoffnung von damals ist heute ganz offensichtlich erfüllt. Großartiges ist erreicht. 1997 ergab eine deutsche Umfrage, daß 54 Prozent der Deutschen Frankreich als das europäische Land ansehen, zu dem Deutschland die besten Beziehungen hat. Eine französische Umfrage im gleichen Jahr kam zu nicht minder ermutigenden Ergebnissen. 59 Prozent der Franzosen haben keine Angst vor dem wiedervereinigten Deutschland und 61 Prozent sehen Deutschland als den wichtigsten Verbündeten Frankreichs an. Die europäische Einigung hat die französisch-deutsche Versöhnung besiegelt. Umgekehrt wurde die deutsch-französische Zusammenarbeit eine Art Nervenstrang der Europäischen Gemeinschaft. Im Vertrag von Maastricht haben wir uns zur politischen Union bekannt. Der Euro ist beschlossene Sache.
Hat sich die deutsch-französische Zusammenarbeit damit selbst überflüssig gemacht? Ist sie durch Erfüllung ihrer ursprünglichen Vision vielleicht visionslos geworden? Zuweilen hat man den Eindruck. Die alte Begeisterung scheint verflogen. Auf der Höhe seines Erfolges kämpft der europäische Einigungsprozeß mit Versandungsrisiken. Und plötzlich haben auch alte deutsch-französische Klischees wieder eine gewisse Konjunktur: Französischer Zentralismus wird gegen deutschen Föderalismus ins Feld geführt und umgekehrt. In Frankreich, so heißt es, gelte der Primat der Politik über die Wirtschaft, in Deutschland sei es umgekehrt. Frankreich wird als das lateinische Herz Europas hochstilisiert, Deutschland als das germanische Portemonnaie - allerdings mit einer französischen Bezeichnung. Gegen die globalisierte Informationsgesellschaft reagiere Frankreich mit defensivem Kulturchauvinismus, Deutschland mit kultureller Selbstaufgabe.
Von solchen - zugegebenermaßen pfiffig formulierten - Klischees halte ich überhaupt nichts. Sie sind oft nichts anderes als ein psychologisch verständlicher Reflex auf den Mangel an eigenen Ideen. Im übrigen habe ich auch den Verdacht, daß ihre wieder modisch werdende rituelle Beschwörung eher den politischen Klassen und den Medien zuzuschreiben ist als einem echten Gefühl der großen Mehrheit der Bevölkerungen. Diesen Verdacht halte ich für sehr naheliegend.
Dennoch beunruhigt mich das Phänomen, denn wenn es richtig ist, daß Klischees etwas mit dem Mangel an neuen Ideen zu tun haben, dann ist es an der Zeit, daß Frankreich und Deutschland sich gemeinsam herausgefordert fühlen. Nichts können die beiden Länder sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert weniger erlauben als eine Armut an Ideen. Beide stehen vor gewaltigen Bewährungsproben. Sie müssen sich gleichzeitig gesellschaftlichem Reformdruck im Innern stellen, das europäische Einigungswerk vollenden, auf die Globalisierung der Märkte, der Informationen, der Techniken, der Sicherheitsrisiken und der Kooperationsmöglichkeiten überzeugende Antworten finden. Mit einem Wort, es geht um nichts Geringeres als um den Aufbruch zu neuen Horizonten.
Die deutsch-französische Beziehung braucht neue Kraft. Sie muß die gleiche Mischung von Kühnheit und Nüchternheit aufbringen wie vor fünfzig Jahren. Nach der Phase der Versöhnung muß jetzt die Phase gemeinsamer Erkenntnis und gemeinsamen Handelns kommen. Das bedeutet also, daß Frankreich und Deutschland sich als geistige Kraftquellen, als Katalysatoren von Problemlösungen, als Zentren von Aktivitäten mit Zukunft bewähren müssen, so wie sie sich schon immer in ihrer Geschichte als Ursprungsländer neuer Antworten auf die Herausforderungen wechselnder Epochen bewährt haben. Ich erinnere an die Reformation, an die Aufklärung, an die französische Revolution, an die Humboldt ' schen Reformen, oder, in unserem Jahrhundert, an die großen Würfe der zweiten deutschen und der fünften französischen Republik.
Beginnen wir also damit, daß wir uns fragen, welches denn unsere Ideen für die Lösung der Probleme des kommenden Jahrhunderts sind. Daß die Aufgaben, die vor uns stehen, groß sind, daran kann es jedenfalls keinen Zweifel geben. Was wir brauchen, ist infolgedessen eine große Kraftanstrengung. Wir müssen also unsere sämtlichen Potentiale mobilisieren. Damit meine ich nicht nur unsere Regierungspotentiale. Innovative Durchbrüche der jetzt nötigen Art realisieren sich in der Regel nicht auf Regierungsebene. Das ganze Potential Frankreichs und das ganze Potential Deutschlands sind gefordert. Deshalb müssen wir die Zusammenarbeit von der politischen auf die gesellschaftliche Ebene ausdehnen. Den Jahrzehnten der Begegnung müssen Jahrzehnte der Vernetzung folgen, der Vision der Freundschaft muß die Vision der Lerngemeinschaft folgen, der Methode der Kooperation die Methode der Integration.
Das bedeutet, daß der Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen allen Bereichen von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur mobilisiert werden muß. Im politischen Bereich darf er nicht auf Gipfeltreffen und Regierungskonferenzen beschränkt sein. Er muß in Parlamentsausschüsse, Fachressorts, Länder, Regionen, Kommunen und politikberatende "Think-tanks" hineingetragen werden. Unverfälscht ist ein Gedankenaustausch in aller Regel nur, wenn er unmittelbar erfolgt. Gewerkschafter müssen also mit Gewerkschaftern, Arbeitgeber mit Arbeitgebern, Kirchen mit Kirchen, Hochschulen mit Hochschulen zusammenarbeiten.
Ermutigende Beispiele dafür gibt es schon in relevanter Zahl. Denken Sie an die Städtepartnerschaften. Denken Sie an gemischte deutsch-französische Managementteams. Denken Sie an das Deutsch-Französische Corps. Solche Beispiele wünsche ich mir tausendfach. Nur so können wir unsere Potentiale mobilisieren, unsere Ordnungsentwürfe optimieren, unsere Eliten für die Zukunft herausbilden. Vernetzung und Integration dieser Art bedeutet eben nicht Gleichmacherei, sondern bedeutet die Erschließung von Vielfalt, Erweiterung der Horizonte, Nutzung von Spannung. Ohne Spannung gibt es keinen Strom!
An Themen für gemeinsames Denken und Handeln fehlt es wahrlich nicht. Ich will nur vier Stichworte nennen: Bekämpfung des Rechtsradikalismus, Überwindung der Arbeitslosigkeit, Bildung für die globalisierte Informationsgesellschaft und vor allem die Vollendung des europäischen Einigungswerks.
Daß der Rechtsradikalismus Frankreich ebenso wie Deutschland herausfordert, kann jeder den Nachrichten entnehmen. Die Erscheinungsformen mögen variieren, die Komplexe und Ressentiments, die ihn treiben, sind aber offensichtlich dieselben. Wir kennen das Phänomen nur allzu gut aus den zwanziger Jahren. Auch damals ging eine Welle dieser Art durch ganz Europa. Wohin das führen kann, lehrt uns die Geschichte. Für unsere Politik, für unsere ganze Gesellschaft, für jeden einzelnen Bürger unserer beiden Länder kann es daraus nur eine einzige Schlußfolgerung geben: Wehret den Anfängen!
Es mag offen bleiben, ob die Arbeitslosigkeit - um zum zweiten Thema zu kommen - wirklich zu den Phänomenen gehört, die von extremistischer Demagogie instrumentalisiert werden können. Sie ist jedenfalls ein unerträglicher Zustand und deswegen eine gesellschaftspolitische Herausforderung ersten Ranges. Muß es uns nicht zu denken geben, daß Frankreich und Deutschland auch dieses Problem in besonderem Maße teilen? Dann liegt es doch nahe, daß wir alle kreativen Kräfte unserer beiden Länder mobilisieren, um dieses Problem von Grund auf zu lösen.
In die kontroverse Diskussion, ob Arbeitszeitverkürzungen oder Lohnkürzungen, ob Angebotspolitik oder Nachfragemanagement die besseren Methoden der Beschäftigungspolitik sind, will ich mich hier nicht einmischen. Nur eines will ich, wie schon oft in meinen Aufrufen zur Erneuerung, auch hier sagen: keines der konventionellen Instrumente wird unseren Volkswirtschaften die Wachstumsdynamik bescheren, die uns auf den Weg der Vollbeschäftigung zurückbringen kann. Wenn wir mit dem Beschäftigungswunder der USA wetteifern wollen - und auch das ist nicht völlig auf Europa anwendbar - , müssen wir auf eine neue Form des Wachstums setzen, nämlich auf wissensgestütztes Wachstum. Im kommenden Zeitalter der Informationsgesellschaft gibt es dazu keine Alternative.
Das bedeutet, daß Länder, die unter struktureller Arbeitslosigkeit leiden, noch mehr als bisher in die Köpfe investieren, das sogenannte Humankapital - obwohl das ein furchtbares Wort ist - nicht nur in hochgezüchteten Eliten, sondern auf breiter Basis ausbauen müssen. Deshalb ist Bildungspolitik die beste Beschäftigungspolitik. Das Problem ist, wie ich höre, in Frankreich ebenso wie in Deutschland schon erkannt. Aber die Möglichkeiten zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch sind offenbar bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Die schon erwähnte französische Umfrage aus dem Jahre 1997 ergab, daß 76 Prozent der Franzosen ein deutsches Schuljahr für französische "lycéens", und 67 Prozent der Deutschen ein französisches Schuljahr für deutsche Gymnasiasten begrüßen würden. Die jeweils zuständigen Bildungspolitiker haben diese Wünsche so überwältigender Mehrheiten, soweit mir für Deutschland bekannt ist, noch nicht erhört! Und dabei ist das Erlernen der jeweils anderen Sprache von vitaler Bedeutung für das gegenseitige Verständnis und Zusammenwachsen.
Hier handelt es sich nur um eine von unzähligen denkbaren Möglichkeiten. Mehr bilinguale Schulen, besserer Unterricht in beiden Sprachen, weniger Besitzstandsdenken bei der Anerkennung von Diplomen fallen mir sofort zusätzlich ein. Strategisch gewinnbringend wäre vor allem eine stärkere Vernetzung der deutschen und französischen Debatten über Bildungsreform. Wenn es denn nur mal auch um die Inhalte ginge.
Denn eines ist sicher: zu mehr grenzüberschreitender Bildung wird es nur kommen, wenn es Deutschland und Frankreich gelingt, ihre eigenen Schulen und Hochschulen für die Jugend des jeweils anderen Landes attraktiver zu machen. Warum haben wir eigentlich noch keine französisch-deutsche Hochschule? Gewiß, in Frankreich gibt es die berühmten "Grandes Ecoles". Aber daß man auch mit deutscher Ausbildung erfolgreiche Karrieren machen kann, wird kein objektiver Beobachter bestreiten wollen. Was hindert Frankreich und Deutschland also daran, die positiven Elemente beider Bildungssysteme zu koppeln? Frankreich und Deutschland scheinen mir in gleicher Weise darauf angewiesen zu sein, in ihrem Nachwuchs den Mut zur Selbständigkeit, zur Eigeninitiative, das Interesse an vernetzter Arbeit, die Neugier auf interdisziplinäre Arbeit und Erkenntnisse, die Fähigkeit zur internationalen Kooperation zu fördern. Und: in einer Epoche, in der die Masse des Wissens förmlich explodiert, dürfen wir unsere jungen Leute nicht mit immer mehr Stoff vollstopfen. Sie müssen lernen zu denken und sie müssen üben, Theorie und Praxis pragmatisch zu verbinden. Nicht immer "noch mehr", sondern "weniger" und dafür sorgen, daß das sitzenbleibt - das heißt Bildung.
Ein letztes Wort zum Thema Europa:
Europa braucht Überzeugungstäter, heute wie vor fünfzig Jahren. Wenn wir das Einigungswerk nicht versanden lassen wollen, müssen wir den europäischen Gemeinsinn wieder aufleben lassen, den es schon einmal gab.
Um es ganz deutlich zu sagen: Dazu gehört auch, europäische Personalentscheidungen nicht ausschließlich - ich nehme da keinen aus - nach nationalen Gesichtspunkten zu treffen oder gar innenpolitisch zu instrumentalisieren. Wir können von unseren Bevölkerungen nicht mehr europäisches Engangement erwarten, wenn politische Spitzen weiterhin medienwirksam das Schauspiel der Nationalegoismen aufführen. Wenn eine Entscheidung von historischer Bedeutung wie die Wirtschafts- und Währungsunion zu politischem Kleingeld gemacht wird, darf man sich nicht wundern, daß der Eurofrust, den es ja auch gibt, nicht abnimmt, sondern wächst.
Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht angezeigt, ein offenes Wort über die Frage einer europäischen Verfassung zu sagen. Ich gestehe, daß ich mit dem Thema gewisse Probleme habe. Das bange Gefühl, das mich bei der wieder aufflackernden Verfassungsdiskussion beschleicht, ist folgendes: Der Berg wird kreißen und ein Mäuslein gebären, oder schlimmer noch: der Berg wird kreißen und ein eurokratisches Monster gebären.
Wenn das passiert, dann haben wir keinen Fortschritt gemacht, sondern den Frust der Bürger noch erhöht. Ich bin sicher, daß das Vertrauen der Bürger in Europa zunächst durch die Lösung konkreter Probleme wiedergewonnen werden muß, ehe man sie für eine abstrakte Verfassungsdebatte interessieren kann. Eine Verfassung gibt der Wirtschaft noch lange nicht ihr Wachstum, den Finanzmärkten noch nicht ihre Stabilität, sie gibt den Arbeitssuchenden noch nicht ihre Beschäftigung, der Forschung noch nicht ihre wissenschaftlichen Durchbrüche und den internationalen Konfliktherden noch nicht ihren Frieden. Meine Sorge ist, daß man der Versuchung erliegt, zuviel durch die Verfassung zu regeln und sie gerade dadurch als Verfassung unwirksam zu machen.
Verfassungen müssen im übrigen nicht geschrieben sein. Denken Sie an das Beispiel Großbritanniens. Nicht auf Verfassungstexte, sondern auf Verfassungswirklichkeit kommt es an. Wenn die Mitgliedsstaaten nicht dazu bereit sind, dem direkt gewählten europäischen Parlament und vielleicht darüber hinaus einer zweiten Kammer von Vertretern der Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechte zu gewähren, dann wird auch eine noch so feierlich verabschiedete Verfassung die Brüsseler Entscheidungen nicht wirklich demokratisch legitimieren.
Wichtiger ist dann zunächst die Verständigung über gemeinsame Werte, Prinzipien, Ziele, d. h. über die Muster europäischen Handelns. Da gibt es eine Menge von Fragen: was bedeutet uns Europa, was unsere jeweils eigene Nation? Was verstehen wir unter Subsidiarität? Wie machen wir diesen Begriff für Bürger verständlich und für die europäische Praxis wirklich effektiv?
Hier haben wir gerade zwischen Frankreich und Deutschland besonderen Abstimmungsbedarf, wenn wir in Europa weiterkommen wollen. Darüber hinaus brauchen wir ein deutsch-französisches Grundverständnis über das Verhältnis von Staat und Privatinitiative in Wirtschaft und Gesellschaft. Frankreich und Deutschland müssen sich klar werden, wieviel Einheit und wieviel Pluralität in Europa sie gemeinsam wollen.
Meine persönliche Präferenz will ich nicht verhehlen: möglichst große Vielfalt. Denn Vielfalt und daraus entstehender Wettbewerb machen stark. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft. Das ist genauso wahr beim Wettbewerb der Institutionen, der Wissenschaft, der Ideen, der Künste, des kreativen menschlichen Bemühens schlechthin. Wenn wir diese Art Wettbewerb europaweit beleben, dann ist mir um Europa nicht Angst.
In diesem Sinne appelliere ich an das Deutsch-Französische Institut: Mobilisieren Sie Ihre analytische Kapazitäten, nutzen Sie Ihr Frankreich betreffendes Wissen, öffnen Sie Ihr Forum für alle Teile der Gesellschaft unserer beiden Länder. Mit einem Wort: setzen Sie den deutsch-französischen Nervenstrang Europas unter Spannung.