Redner(in): Roman Herzog
Datum: 8. Juni 1998
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/06/19980608_Rede.html
Der 16. Bundeskongreß des DGB findet in bewegten Zeiten statt. Ich meine damit nicht den Bundestagswahlkampf; denn die Unruhe von Wahlkämpfen ist gewissermaßen eine periodische Normalität. Ich rede von den tiefgreifenden Veränderungen, die sich in unserer Gesellschaft und weltweit vollziehen.
Erstens sind die spezifischen Probleme, die sich uns mit der Wiedervereinigung gestellt haben, noch keineswegs gelöst. Es ist schon unglaublich viel geschehen, vor allem bei der Infrastruktur, und dennoch werden die östlichen Bundesländer noch geraume Zeit die Solidarität der westlichen brauchen. Ich stelle das bewußt an den Anfang, weil es in der Diskussion gelegentlich - vor allem beim Vergleich internationaler Entwicklungen - vergessen wird.
Zweitens vernetzt sich die Wirtschaft international. Das ist zwar kein neues Phänomen, aber die Veränderungsgeschwindigkeit steigt. Außerdem bewegten wir uns früher nur mit unseren Produkten auf den Märkten der Welt. Heute bewegen sich unsere Unternehmen selbst weltweit. Das hat tiefe Auswirkungen, sowohl auf die Sozialpartner in Deutschland als auch auf die Politik.
Drittens gilt die Internationalisierung erst recht für die Finanzmärkte. In Sekundenschnelle - und ohne jegliche Kontrolle - werden heute Milliardenbeträge rund um den Erdball transferiert und folgen dabei einem Investitionskalkül, das nationalen Überlegungen oder Rücksichtnahmen immer weniger Raum läßt.
Viertens wird die europäische Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb des großen gemeinsamen Marktes zwar unsere wirtschaftlichen Chancen vergrößern, aber auch den Wettbewerbsdruck verstärken.
Fünftens verändert sich die Struktur unseres heimischen Arbeitsmarktes. Der in Deutschland noch sehr starke produzierende Sektor verliert Terrain, der Dienstleistungsbereich gewinnt hinzu. Und auch innerhalb der Sektoren beschleunigt sich der Wandel.
Sechstens verändern alle diese Entwicklungen auch die Anforderungen an die Menschen, die unser Wirtschaftssystem tragen. Damit meine ich Selbständige wie Arbeitnehmer gleichermaßen. In dem Maße, in dem Wissen zum entscheidenden Produktionsfaktor wird, wachsen die Standards, denen wir uns ausgesetzt sehen. Einerseits wird die schulische oder betriebliche Erstausbildung wichtiger als je zuvor, andererseits relativiert sich gleichzeitig der Wert des ersten Bildungsabschlusses stark. Eine hohe Qualifikation ist nur noch der Schlüssel zum Arbeitsmarkt, aber anders als früher keine Garantie mehr für den gesamten beruflichen Lebensweg. Arbeiten und Lernen werden künftig lebenslang Hand in Hand gehen.
Warum stelle ich dieses Szenario an den Anfang? Gewiß nicht, um Angst zu verbreiten. Veränderungen sind immer zuallererst Chancen. Aber wir müssen eben bereit sein, der Veränderung eine Richtung zu geben und das nicht nur, weil wir gar keine vernünftige Alternative haben.
In Deutschland haben die Bürger mehr zu verlieren als nur Probleme oder gar Ketten. Deshalb sind hier die Modelle des sozialen Gegeneinanders, ja des Klassenkampfes Vergangenheit. Aber alle Beteiligten tun gut daran, sich immer wieder klarzumachen, daß soziale Partnerschaft auch gepflegt werden muß. Wer sein Gegenüber überfordert, beschädigt das ganze System. Sozialpartnerschaft ist auf Kompromiß angelegt und angewiesen. Und das verlangt immer, auch mit dem Kopf des anderen zu denken und seine Zumutbarkeitsgrenzen zu erkennen, damit beide Seiten erreichte Kompromisse auch im eigenen Lager vermitteln können. Sozialpartnerschaft funktioniert nur dann, wenn keine Seite den Sieg über die andere anstrebt!
II. Unsere Verfassung hat aus guten Gründen kein staatliches Monopol zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen eingeführt, sondern die Tarifparteien mit weitgehenden Rechten ausgestattet. Das führte gelegentlich zu Tarifkonflikten und Arbeitskämpfen, im allgemeinen hatte es aber ein staunenswertes Maß an sozialem Frieden zur Folge, und wir alle haben bisher davon profitiert. Außerdem ist Deutschland eine Gesellschaft mit einer breiten Mittelschicht. Auch deshalb sind uns große soziale Erschütterungen erspart geblieben. Es entspricht also unserer Erfahrung, daß ein Anwachsen unseres Wohlstandes nur möglich ist, wenn Kapital und Arbeit sich verbünden, statt ihre Kräfte im Gegeneinander zu verschleißen.
Viele benutzen hierfür das Wort "Konsensgesellschaft", und manche meinen es sogar abfällig. Natürlich ist es richtig, daß in unserer Gesellschaft wie in jeder anderen auch unterschiedliche Interessen bestehen. Und es ist legitim, diese Interessen auch zur Geltung zu bringen. Aber wer sich die Fähigkeit bewahrt hat, mittelfristig, erst recht aber langfristig zu denken, der wird erkennen, daß Wirtschaft und Beschäftigte, Gewerkschaften und Arbeitgeber, Sozialpartner und Politik dauerhaft auf ein Miteinander angewiesen sind. Das verlangt bei allen Beteiligten Augenmaß: Beim Gesetzgeber, daß er bei seinen Vorhaben den Argumenten der Sozialpartner Gehör schenkt. Bei den Unternehmen, die gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht den Versuch machen sollten, die Gewerkschaften an die Wand zu spielen. Und bei den Gewerkschaften, daß nicht alles, was für die aktiv Beschäftigen durchsetzbar wäre, auch den Arbeitslosen beim Wiedereinstieg in die Beschäftigung hilft.
Tarifautonomie ist neben dem Recht, eigene Angelegenheiten selbst zu regeln, ein Stück übereignete Verantwortung für das Ganze. Sie bleibt nur funktionsfähig, wenn starke Gewerkschaften starken Arbeitgeberverbänden gegenüberstehen.
Ich habe mitunter das Gefühl, daß das Bewußtsein hierfür im Schwinden ist. Und zwar auf beiden Seiten: Bei den Arbeitnehmern sinkt mit der schwindenden Einsicht in die Bedeutung von Gewerkschaften deren Organisationsgrad, und viele Unternehmer bilden sich ein, sie könnten ohne den tarifpolitischen Flankenschutz durch einen Arbeitgeberverband auskommen. Hier wie dort ist das sicher auch eine Folge unterschiedlicher Wirtschaftsentwicklung in einzelnen Sektoren und zugleich wachsenden Selbstvertrauens der Einzelnen, was an sich ja positiv ist. Aber Selbstvertrauen kann auch zur Vorstufe der Selbstüberschätzung werden. Für die Gesellschaft wäre es jedenfalls gefährlich, wenn die Befriedungsfunktion der Tarifparteien verloren ginge.
Eine gute Tarifpolitik sorgt dafür, daß die meisten gravierenden Konflikte durch die Betroffenen selbst gelöst werden, ohne Eingreifen des Gesetzgebers. Wir kommen in Deutschland ohne gesetzliche Mindestlöhne aus, wie sie in anderen Marktwirtschaften üblich sind. Bei uns gibt es keine Arbeitszeitregelungen per Gesetzesbefehl wie im westlich benachbarten Ausland. Wir kennen keine staatliche Zwangsschlichtung bei Arbeitskämpfen, wie wir sie gerade in einem Nachbarland erlebt haben. Wir kennen auch keine politischen Streiks. Und ich rate sehr dazu, mit allen diesen Ideen auch nicht zu liebäugeln.
Die Tarifpolitik muß sich allerdings auch veränderten Bedingungen immer wieder anpassen. Ich rede damit keiner Atomisierung das Wort, aber ich plädiere doch für eine atmende Tarifpolitik. Tarifverhandlungen, bei denen die Gewerkschaften den Fuß nur auf dem Gaspedal und die Arbeitgeber ihn nur auf der Bremse haben, führen zu gar nichts. Aber so ist ja auch die Wirklichkeit nicht. Gerade in jüngster Zeit gibt es viele und erfreuliche Beispiele: Etwa Abschlüsse mit beschäftigungssichernden Elementen. Oder durch alle Beschäftigten solidarisch mitfinanzierte Übernahmeverpflichtungen für Lehrlinge. Es gibt Sonderklauseln für Unternehmen, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Und es gibt Vereinbarungen über einen gleitenden Umstieg vom Erwerbsleben in die Rente. Einzelne Tarifbereiche spielen die Pfadfinder, und was sich bewährt, wird dann von anderen übernommen. Das ist für mich der richtige Weg, wenn ich mir gelegentlich auch ein etwas höheres Tempo wünschen würde.
Aber ich weiß natürlich auch, wie steinig neue Wege sein können. Auf beiden Seiten des Spiels sind oft hartnäckige Widerstände zu überwinden, und nicht alles, was den tarifpolitischen Vordenkern plausibel erscheint, ist der Basis von heute auf morgen zu vermitteln. Aber je flexibler die Tarifparteien sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Arbeitnehmer und der nach Ertragskraft und Dynamik sehr heterogenen Betriebe orientieren, desto zukunftsfähiger bleiben sie auch.
Es geht um mehr als um Lohnhöhe und Wochenarbeitszeit. Denn Wissen, Kreativität und Motivation lassen sich nicht allein mit den Maßeinheiten der alten Industriegesellschaft bewerten. Und je qualifizierter ein Arbeitnehmer ist, desto entscheidender wird, ob er seine Interessen bei seinem Unternehmen in guten Händen weiß. Deshalb tun kluge Arbeitgeber gut daran, die Bedürfnisse ihrer Beschäftigten ernstzunehmen: Beispielsweise die Frage, wie familiäre Pflichten mit den betrieblichen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden können - anstatt sie ausschließlich als Kostenfaktor zu betrachten. Oder die Frage, wie Anreizsysteme Zufriedenheit und Motivation fördern - anstatt allein Karenzüberlegungen anzustellen. Auf der anderen Seite haben weitsichtige Gewerkschafter auch erkannt, daß manche ursprünglich zum Schutz der Arbeitnehmer eingeführte Regelung in der Praxis ihren Zweck verfehlte und daher nicht zu halten war.
Es hat in der Vergangenheit sicher auch tarifpolitische Fehler und Übertreibungen gegeben. Aber die Tarifparteien haben auch immer wieder die Kraft gefunden, sie zu korrigieren. Letztlich wissen alle Beteiligten, daß der Markt ein unerbittliches Korrektiv ist. Wer auf der Kostenseite die Konkurrenzfähigkeit verliert, verschwindet vom Markt. Daran können Arbeitnehmer ebensowenig Interesse haben wie Unternehmer.
III. Es gibt für unseren Sozialstaat augenblicklich große Herausforderungen: Wie geht es angesichts der veränderten demographischen Entwicklung mit unserem Alterssicherungssystem weiter? Wie halten wir unser Gesundheitssystem leistungsfähig und doch bezahlbar? Wo muß der Familienlastenausgleich ergänzt werden?
Keine dieser Fragen ist lösbar, wenn es uns nicht zugleich gelingt, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu verringern. Deshalb müssen alle Anstrengungen hierauf konzentriert werden. Ich plädiere dabei für ganz pragmatische Ansätze; denn ich glaube nicht an die eine zündende Idee, die das ganze Problem auf einmal lösen könnte. Die marktradikale Variante kann mich mit der These, Arbeit müsse nur billig genug werden, ebenso wenig überzeugen wie die schlichte Gegenthese, man müsse die Arbeitszeit für alle nur kurz genug halten, damit jeder seinen Anteil abbekommt. Die Wirklichkeit ist doch wohl komplizierter, und vor allem: sie richtet sich nach keiner Theorie!
Es kann nicht Aufgabe des Bundespräsidenten sein, hier den Tarifparteien oder den politisch Handelnden Ratschläge zu erteilen. Deshalb will ich mich auf einige Fragen beschränken: Wenn es stimmt, daß Lohnzurückhaltung Arbeitsplätze sichert, warum zögern dann viele Unternehmen, diesen Zusammenhang rascher durch ihre Personalpolitik transparent zu machen? Manche haben hier in der jüngsten Vergangenheit Personalabbau wie eine olympische Disziplin betrieben. Wer aber nur auf Börsenrekorde achtet, der verspielt schnell öffentliches Vertrauen, das nicht leicht neu aufzubauen ist. Ich mahne hier eine Beschäftigungsverantwortung der Wirtschaft an. Wenn es stimmt, daß rund ein Zehntel jedes Altersjahrgangs schon heute mit den Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes nicht mehr mithalten kann - warum verwenden wir dann nicht mehr Phantasie darauf, diesen Personenkreis in Beschäftigung zu halten? Ich kann mir hier besondere Tarifvereinbarungen ebenso vorstellen wie intelligentere Lösungen im Steuersystem. Daneben ist es sicher sinnvoll, über Berufsqualifikationen mit einer weniger theoretisierenden Ausbildung nachzudenken. Entscheidend ist, daß wieder jeder die Chance bekommt, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Wenn es stimmt, daß für manche Empfänger von Lohnersatzleistungen im unteren Einkommensbereich eine Arbeitsaufnahme unattraktiv ist - müssen wir dann nicht darüber nachdenken, ob die Übergänge intelligent genug ausgestaltet sind? Wenn es stimmt, daß lange Zeiten der Beschäftigungslosigkeit Selbstvertrauen und Würde der Betroffenen verletzen - warum wird dann so selten Sozialhilfeempfängern Arbeit als Gegenleistung angeboten - und auch abverlangt, obwohl das rechtlich durchaus möglich wäre? Wenn es stimmt, daß der Unternehmenserfolg auch davon abhängen kann, ob die Belegschaften am Gewinn oder auch am Kapital beteiligt sind, warum schleppt sich diese Debatte seit Jahrzehnten so ergebnislos dahin? Wenn es stimmt, daß über zwei Millionen Menschen voll erwerbstätig sind, obwohl sie lieber Teilzeitarbeit hätten - warum strengen wir uns nicht mehr an, jedem, der es wünscht, diese Variante der Arbeitszeitverkürzung zu ermöglichen? Wenn es stimmt, daß die Schattenwirtschaft die größte und vor allem wachsstumsstärkste Branche bei uns ist - warum gelingt dann kein wirklich konzertiertes und konsequentes Vorgehen aller gegen diesen Mißstand? Wenn es stimmt, daß im Erwerbsleben nur mithalten kann, wer dauerhaft sein Wissen erneuert - warum rückt dann das Thema Weiterbildung nicht ins Zentrum der Tarifpolitik und der Unternehmensstrategien? Wenn es stimmt, daß in vielen vergleichbaren Ländern mehr junge Menschen den Schritt in die Selbständigkeit wagen - warum bereiten wir unsere Schüler und Studenten nicht systematisch auf diese persönliche Alternative vor?
Ich könnte diese Fragenliste beliebig weiter verlängern. Keine ist für sich allein entscheidend; vielleicht sind einige sogar nur Randfragen. Aber jede beschreibt ein Problem, das im Augenblick nicht befriedigend gelöst ist und dessen Lösung zumindest einen Beitrag dazu leisten könnte, den Arbeitsmarkt zu entspannen. Dabei glaube ich, daß wir auch künftig eine Flankierung des ersten Arbeitsmarktes brauchen. Ich weiß um die heiklen Auswirkungen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder kommunalen Beschäftigungsinitiativen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aber vernünftig ausgestaltet und zeitlich befristet sind sie allemal besser als zusätzliche Arbeitslosigkeit.
Insgesamt bin ich durchaus zuversichtlich: Wir holen in technischen Zukunftsbereichen wieder auf. Das Forschungsklima verbessert sich. Von Technikfeindlichkeit ist jedenfalls bei jungen Menschen keine Spur mehr zu bemerken. Unsere Unternehmen haben ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Unserer Gesellschaft - notabene: nicht dem Staat! - geht weder die Arbeit aus noch das Geld, Arbeit zu bezahlen.
Aber die Interessen balancieren sich nicht automatisch aus. Es müssen immer wieder neue, innovative Wege beschritten werden. Das verlangt Risikobereitschaft, aber es verlangt auch die grundsätzliche Fähigkeit zur Korrektur überholter Positionen. Vor allem bleibt die Dialogbereitschaft zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Politik unverzichtbar.
Ich werbe dafür, daß dieser Gesprächsfaden nicht abreißt - auch wenn gelegentlich der Ton einmal rauher wird oder Meinungsverschiedenheiten in konkreten Fragen bestehen. Letztlich muß sich aber immer wieder die Erkenntnis durchsetzen, daß unsere Hauptprobleme am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft nur gemeinsam zu lösen sind.
Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, daß Deutschland ein ökonomisch erfolgreiches, stabiles und sozial gerechtes Land bleibt. Ich wünsche dem DGB und den unter seinem Dach vereinigten Gewerkschaften ein herzliches "Glückauf".