Redner(in): Roman Herzog
Datum: 9. Juni 1998
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/06/19980609_Rede.html
über ein Thema wie "Erziehung" zu sprechen, ist immer heikel. Einerseits glaubt jeder, der Welt aus eigener Erfahrung darüber Wichtiges mitteilen zu können; andererseits weiß jedermann - also auch ich - aus eigenem Erleben, daß die Erziehung eines Menschen eine höchst sensible, selten vorhersagbare und mitunter undurchschaubare Angelegenheit ist. Ich glaube zwar, daß meine Frau und ich die Aufgabe bei unseren Kindern einigermaßen bewältigt haben, aber diese Erfahrungen liegen nun schon einige Zeit zurück, und ich bezweifle auch, daß sie ausreichen, um daraus einen verbindlichen "Erziehungs-Knigge" für das nächste Jahrhundert zu konstruieren.
Ich will aber versuchen, einige Entwicklungen zu beschreiben, die wir alle beobachten können und die, wenn nicht alles täuscht, zwangsläufig Auswirkungen auf das haben, was wir Erziehung nennen. Und ich möchte auch einige Grundsätze formulieren, die vielleicht Ausgangspunkt für die weitere Debatte sein können.
I. Wir haben uns schon daran gewöhnt, das nächste Jahrhundert als das Medien- und Informationszeitalter zu bezeichnen. Dahinter verbirgt sich jedoch mehr als der Siegeszug des Fernsehens und des Computers. Unsere Gesellschaft insgesamt wandelt sich rasant; wir erleben also Entwicklungen, die unser Gemeinwesen grundlegend verändern. Ich nenne nur drei Bereiche:
Erstens: Unsere Industriegesellschaft wandelt sich mit hoher Geschwindigkeit in eine Kommunikations- und Wissensgesellschaft. So wie im Industriezeitalter die schwere körperliche Arbeit durch die Maschinenkraft ersetzt wurde, dringt im Informationszeitalter der Computer in immer neue, bisher dem Menschen vorbehaltene Bereiche vor. Die routinemäßige Verarbeitung von Informationen, die Steuerung und Überwachung von Produktionsabläufen wird künftig immer mehr Sache von Automaten. Dem Menschen vorbehalten bleiben vor allem die in großer Vielfalt neu entstehenden Dienstleistungen. Das ist durchaus notwendig, wo es um persönliche Zuwendung geht. Aber auch dort, wo es um Kreativität, um die Generierung neuen Wissens geht, ist der Mensch dem Computer noch immer haushoch überlegen. Und dort entstehen auch die meisten neuen Arbeitsplätze.
Mit den neuen Entwicklungen verändern sich übrigens auch die inneren Strukturen der Arbeitswelt: Hierarchien werden abgebaut, an ihre Stelle treten - oft transnationale - Netzwerke, in denen Status wenig und Kompetenz viel bedeutet. Und: Erlerntes Wissen wird in dieser neuen Arbeitswelt immer wieder rasch veralten. Neue Anforderungen werden gestellt: es geht um lebensbegleitendes Lernen, zu dem Kreativität, Teamqualitäten und Eigenverantwortung treten müssen.
Zweitens: Die neuen Kommunikationsmedien vernetzen die ganze Welt. Grenzen öffnen sich, Ideen und Botschaften stehen überall zur Verfügung, ja drängen sich förmlich auf. Das Wissen, das irgendwo auf dieser Welt entsteht, kann jederzeit und fast an jedem Ort abgerufen werden. Das ist an sich von Vorteil. Aber es hat auch eine Kehrseite: Die Medien prägen, ja überwältigen unsere Vorstellung von der Welt mit den Bildern, die sie uns Abend für Abend ins Haus senden. Dieser Bilderflut steht meist immer weniger Wissen aus eigener Erfahrung gegenüber.
Und schließlich drittens: Mit dem hereinbrechenden Informationszeitalter scheinen Pluralisierung, Individualisierung und Ansprüche an die persönliche Freiheit immer weiter voranzuschreiten. In unserem Land existieren heute schon verschiedene Kulturen und Generationen nebeneinander, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und unterschiedlichen Traditionen. Zugleich geraten die klassischen Formen der Gesellschaft zunehmend unter Druck: die Kirchen und Parteien, die Gewerkschaften und Vereine, nicht zuletzt die Institution Familie. Man spricht heute schon wie selbstverständlich von "Lebensabschnittspartnern" und dokumentiert damit die Unverbindlichkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen, auch wenn dabei tief im Inneren eine ungestillte Sehnsucht nach Vertrauen und Verläßlichkeit nachzuklingen scheint.
II. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert haben wir es mit einer vielfältigen, global vernetzten und sich schnell verändernden Welt zu tun. Und diese Welt muß - das bleibt ein großes Ziel - eine unbedingt demokratische sein. Sie ist zugleich eine Welt mit weniger Sicherheiten und mehr Freiheiten. Viele sehen darin neue und große Chancen. Aber es gibt auch nicht wenige, die Angst haben, die verunsichert sind und glauben, nicht richtig auf die neue Situation vorbereitet zu sein. Mehr Freiheit heißt ja immer auch mehr Bedarf an Orientierung.
Die Fähigkeit zum Umgang mit Freiheit fällt nicht vom Himmel. Sie muß gelehrt und gelernt werden. Wenn wir davon sprechen, daß wir Menschen auf das Informationszeitalter vorbereiten müssen, geht es also um weit mehr als nur um das Einüben neuer Techniken. Es geht um eine umfassende Heranführung junger Menschen an eine grundlegend veränderte Lebenswelt. Ich spreche von einer Persönlichkeitsbildung, die es möglich macht, unsere Informationsgesellschaft engagiert mitzugestalten, und die uns "wetterfest" genug macht, auch nach persönlichen Rückschlägen nicht zu resignieren, sondern nach neuen Chancen zu suchen. Ich möchte das einmal ganz allgemein die "Lebenskompetenz" des Menschen nennen.
Darunter verstehe ich mindestens die folgenden Eigenschaften: Selbständigkeit und Bindungsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Verläßlichkeit, Kreativität, Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilskraft, Toleranz, Kultur- und Weltoffenheit. Aber auch ein In-sich-selbst-ruhen, das zur gelassenen Auseinandersetzung mit Problemen und anderen Menschen befähigt und das Unsicherheiten aushalten läßt.
Zu dieser Lebenskompetenz gehört im Zeitalter von Computer, Internet und neuer Kommunikationstechnologie selbstverständlich auch die Medienkompetenz. Darüber wird zur Zeit viel geredet. Nicht zuletzt in unseren Schulen, wo die Diskussion allerdings oft genug auf die Frage reduziert wird, wie man am effektivsten und schnellsten das Internet in den Unterricht integriert.
Ich bin sicher: die derzeitige Aufgeregtheit über die Einführung neuer Medien an unseren Schulen wird sich bald legen. Die Benutzung des Computers in der Schule wird in kurzer Zeit so selbstverständlich sein wie die Benutzung der Tafel oder des Taschenrechners. Die Grundfertigkeiten, die die Schule vermittelt - also das Lesen, Schreiben und Rechnen - werden schon bald durch eine weitere ergänzt sein: Das Verstehen, Beurteilen und Verarbeiten medialer Zeichensysteme.
Worum geht es dann aber? Es ist zunächst einmal falsch zu glauben, die neuen Medien und ihre künstlichen Welten würden uns Menschen schon automatisch Wissen vermitteln. Tatsächlich akkumulieren und servieren sie Millionen von Informationsschnipseln. Sie schaffen aus sich heraus aber keine Ordnung, wenn wir sie ihnen nicht selber eingeben oder abfordern. Wer Probleme lösen will, muß solche Ordnungen im Informationsbrei schaffen, Ziele, Abfolgen und Prioritäten definieren. Erst so entsteht aus Information Wissen. Und: in der Flut der Information muß auch die Kunst des Weglassens und des Abschaltens gelernt werden. Das heißt aufs ganze gesehen: Die Anforderungen an die Urteils- und Entscheidungskraft des Menschen nehmen dramatisch zu.
Den richtigen Umgang mit den Medien lernt man schon früh - genauso aber auch den falschen. Wenn Computer oder Fernsehen in der Familie "Abstellplätze" für das Kind werden, wenn Kinder stundenlang vor dem Bildschirm sitzen, erleben wir am Ende vielleicht das Paradox, daß sie zwar technisch mit allen und überall kommunizieren können, daß sie aber dennoch kommunikationsunfähig sind.
Jüngste Untersuchungen zeigen, daß deutsche Kinder durchschnittlich fast drei Stunden am Tag vor den Bildschirmen verbringen. Das ist schon allein deshalb bedenklich, weil sie diese Zeit nicht auf dem Spielplatz oder in Gesprächen mit den Eltern, Geschwistern und Freunden nutzen. Und es gibt noch mehr zu denken, wenn die gleiche Untersuchung zeigt, daß Kinder am Tag nur noch zehn Minuten lesen. Da muß gegengesteuert werden: Kinder sollten zuallererst Realitätserfahrungen außerhalb von Computern und Fernsehen machen. Sie müssen auch weiterhin die Welt mit ihren Händen begreifen, um sie verstehen zu lernen. Und sie müssen sich diese Welt in konstruktiver Auseinandersetzung mit anderen Menschen aneignen.
Übersehen wir auch nicht: Die Medienindustrie hat die Kinder längst als Konsumenten entdeckt und übt damit auf Kinder und Erzieher einen zusätzlichen Druck aus. Schon jetzt gibt es viel zu viele kleine Narzißten unter unseren Kindern, deren Träume nur noch aus Konsumwünschen bestehen und die so sehr Mittelpunkt ihrer eigenen Welt sind, daß sie den Wert des Gegenübers nicht mehr erkennen und sich nicht mehr in eine Gemeinschaft einfügen können.
Ich möchte hier nicht mißverstanden werden: Ein kluger und kreativer Umgang mit den neuen Medien wird unser Leben überaus bereichern. Die neue Medienwelt wird auch vieles erleichtern. Aber wir müssen uns und unsere Kinder davor schützen, im Konsumrausch und Infoschrott zu ersticken. Also brauchen wir zweierlei Fähigkeiten: einerseits die Fähigkeit, Computer und virtuelle Bilder ganz selbstverständlich als Hilfsmittel zu benutzen, und anderseits die Fähigkeit, eine vernünftige Distanz zu ihnen zu wahren. Es mag durchaus sein, daß das biblische "Machet sie euch untertan" heute nicht mehr für Natur und Umwelt gelten kann. Aber für die neuen Medien gilt es allemal.
Darin steckt eine große Aufgabe für Eltern und Lehrer. Auch sie müssen darauf vorbereitet werden. Wir brauchen dafür Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung, noch viel mehr freiwilliges und belohntes Engagement.
III. Die Aufgaben für Eltern und Lehrer beschränken sich allerdings nicht darauf, Kinder mit den neuen Medien vertraut zu machen. Junge Menschen an eine sich immer schneller verändernde Lebenswirklichkeit heranzuführen, heißt zugleich, ihnen Orientierung zu geben, damit sie sowohl eigenständig als auch gemeinschaftsfähig werden. Hier geht es um einen hohen Anspruch an Eltern und Pädagogen, nämlich darum, unsere Kinder für die Freiheit im Informationszeitalter zu erziehen.
Nun gab es in unserem Land lange Zeit Vorbehalte gegen den Begriff "Erziehung". Manche glaubten gar, daß Erziehung und Freiheit im Widerspruch zueinander stünden. Ich meine, diese Vorbehalte sind längst überholt. Gerade in einer Zeit großen inneren und äußeren Wandels gibt es ein besonders hohes Bedürfnis nach Anleitung und Orientierung.
Dann müssen sich Eltern und Lehrer aber auch zu ihrer Erziehungsaufgabe bekennen. Wir geben den jungen Lehrern die falschen Signale, wenn ihnen nur die wissenschaftlichen Leistungen in Studium und Praxis hoch angerechnet werden, pädagogische Kärrnerarbeit dagegen eher mit einem Achselzucken quittiert wird. Nach meinem Eindruck brauchen junge Lehrer nicht mehr Fachwissen - das bekommen sie in reichem Maße mit - , sondern mehr Zeit für Pädagogik und erzieherische Anleitung.
Wir dürfen die Verantwortung dafür nicht abschieben und darauf vertrauen, daß schon andere das schwierige Geschäft mit der Erziehung übernehmen werden. Dahinter steckt oft die bequeme Ansicht, junge Menschen würden schon irgendwie erzogen - von Gleichaltrigen, von den Medien usw. Wahr ist: Die Felder, die wir freiwillig räumen, werden schnell von anderen besetzt, und das nicht immer in unserem Sinn. Aber gerade deshalb müssen wir uns doch fragen: wollen wir das Festlegen moralischer Standards den Jugendcliquen auf der Straße, dem Fernsehen oder dem Internet überlassen? Oder sind Eltern und Lehrer in Zukunft nicht doch wieder mehr bereit, die Unterscheidung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von Tugend und Untugend wieder zum Kern ihrer Verantwortlichkeit zu machen?
Wenn es um Erziehungsfragen geht, sind zu allererst natürlich die Eltern angesprochen. Unser Jahrhundert kennt ja viele Versuche, die Erziehungsaufgabe aus der Obhut der Eltern in die Hand des Staates zu verlegen. Die Ergebnisse waren nicht ermutigend. Primäre Erziehungsinstanz ist und bleibt deswegen die Familie. Gerade die ersten Lebensjahre - das zeigen viele Untersuchungen - sind für die emotionale und intellektuelle Entwicklung des Kindes entscheidend. Bei allen Einflüssen, die Kinder heutzutage ausgesetzt sind, sind die Eltern also immer die ersten und damit auch die wichtigsten Bezugspersonen. Diese Verpflichtung darf man ihnen nicht abnehmen.
Aber: Staat und Gesellschaft müssen sie hierbei nach Kräften unterstützen. Und übrigens: Wir sollten diese Debatte nicht auf ihre materiellen Aspekte reduzieren - so wichtig sie auch sein mögen. Wer Kinder nur noch als Kostenfaktor betrachtet, ist selber mit emotionaler Armut geschlagen!
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Unsere Lebensoptionen sind nicht unbegrenzt. Das ist eine unbequeme Einsicht, gerade in einer Zeit, die Selbstverwirklichung predigt. Dennoch ist es ganz einfach eine praktische Erfahrung, daß sich individualistische Selbstverwirklichungskonzepte der Eltern kaum mit überzeugenden Modellen für kindgerechte Erziehung verbinden lassen. Hier müssen auf beiden Seiten der Rechnung Abstriche gemacht werden, so wie das immer der Fall war. Ich weiß, daß hier das Wünschbare oft nur schwer mit der Realität in Einklang zu bringen ist. Die Zahl alleinerziehender Eltern wächst. Viele Familien stehen unter wirtschaftlichem und beruflichem Druck, ihr Zeitbudget ist knapp und das finanzielle Budget nicht selten auch. Und bei aller öffentlichen Familienförderung erleben Eltern und Kinder in unserer Gesellschaft noch immer viele Widerstände, bisweilen gar Zumutungen.
Hier sind natürlich in erster Linie Politik und Wirtschaft gefordert, nicht nur im Interesse der Familien, sondern durchaus auch im eigenen Interesse. Denn täuschen wir uns nicht: Eine gute Erziehung unserer Kinder in funktionierenden Familien trägt wahrscheinlich mehr zum inneren Frieden unseres Landes bei als Polizei und Gesetze.
Die gesellschaftliche Verantwortung beschränkt sich übrigens nicht auf Kindergeldzahlungen, Anrechnung von Erziehungszeiten oder Unterhaltung von Kindertagesstätten. Es geht um viel mehr. Es geht darum, daß sich Beruf und Familie besser als bisher verknüpfen lassen müssen. Es gibt heute schon zahlreiche Arbeitszeitmodelle, die durchaus zu einer Renaissance des "Zuhauses" führen könnten. Modelle, bei denen die Trennung zwischen Lebens- und Arbeitswelt zumindest teilweise aufgehoben wird, und die Kinderbetreuung einfacher und intensiver machen.
Hier bietet gerade das Informationszeitalter ungeahnte Chancen. In vielen Unternehmen und Institutionen werden längst gute Erfahrungen mit der Telearbeit gemacht, bei der die Mitarbeiter ihr Büro nur noch zu gelegentlichen Besprechungen benutzen und die meiste Zeit zuhause, in der Nähe ihrer Familie, arbeiten. Wir brauchen viel mehr solcher Ansätze.
Zu den gesellschaftlichen Aufgaben gehört es aber auch, daß sich die Eltern selbst möglichen Widersprüchlichkeiten in ihrem eigenen Leben stellen und bisweilen auch Lebenslügen ausräumen. Wir müssen uns eingestehen: Nach der Auflösung der alten Rollenmuster ist nicht selten ein Vakuum entstanden.
Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, die alten Rollenbilder wieder aufleben zu lassen und die frühere Hausfrauen- und Mutterrolle einzuklagen; die Verabschiedung von solchen Rollenzwängen ist ja eine der großen und bleibenden Leistungen unseres Jahrhunderts. Aber es sollte inzwischen auch klar sein: Wer alles will, bekommt am Ende gar nichts. Wer möglichst viele Wege gleichzeitig beschreitet - Beruf, Freizeit, Egotrip und Familie - darf sich nicht wundern, wenn diese Wege am Ende nicht mehr zusammenführen.
Wenn sich auch die starren Rollenzuweisungen in unserer Gesellschaft auflösen, so wird und muß es auch weiterhin Rollen in der Familie geben. Eltern müssen Kindern Grenzen setzen. Das schließt auch Sanktionen ein, wenn Kinder diese Grenzen übertreten. Kinder müssen durchaus auch erkennen, daß ihnen manches noch nicht möglich ist und vielleicht nie möglich sein wird. Die emanzipatorischen Erziehungsmodelle der Vergangenheit haben allzuoft den Fehler begangen, den Weg mit dem Ziel zu verwechseln. Kinder lernen Autonomie und Selbständigkeit auch, indem sie Widerstände und Führung im guten Sinne erfahren.
Als Erwachsener darf ich dem Kind durchaus auch deutlich machen: Ich weiß mehr als Du und sage Dir deshalb auch manchmal, wo es langgeht. Nur wenn ich als Erwachsener bereit bin, Richtungen vorzugeben, nur wenn ich mit Zielen erziehe und diese nicht aus den Augen verliere, wenn ich also - mit anderen Worten - verläßlich bleibe, dann erlebe ich auch, daß ich von meinen Kindern immer wieder gefragt und als Vorbild ernst genommen werde, übrigens auch als Vorbild im Erkennen und Eingestehen falscher Positionen - da fällt keinem Vater und keiner Mutter eine Perle aus der Krone.
Hier haben wir letztlich den Schlüssel für jede verantwortliche und erfolgreiche Erziehung: So wichtig es ist, miteinander zu reden, zu lesen und übrigens auch miteinander zu streiten - Moral läßt sich nicht allein durch Worte lehren. Sie lehrt sich selbst durch gelebtes und anerkanntes Vorbild. Im Erziehungsauftrag der Eltern steckt immer die Pflicht zum vorbildlichen Handeln. Kein Vater und keine Mutter darf sich dieser Pflicht entziehen. Wenn die Eltern die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht mehr so genau nehmen - wie sollen es dann die Kinder tun?
IV. Die Instanzen des staatlichen Bildungswesens dürfen die Eltern da nicht allein lassen: Kindergarten und Schule sind weder Verwahranstalten, noch ausschließlich Orte der Wissensvermittlung. Sie haben auch einen Erziehungsauftrag, nicht als Ersatz für die elterliche Erziehung, sondern als ihre Ergänzung.
Mehr noch als die Familie ist die Schule ein Abbild der Gesellschaft im Kleinen. Für viele Jugendliche ist sie inzwischen der einzige Ort, an dem sie regelmäßig mit Jugendlichen aus anderen sozialen und kulturellen Milieus zusammentreffen. Nur hier können sie sich direkt mit anderen Überzeugungen und Lebensstilen auseinandersetzen.
Wenn unsere Schulen die neuen Herausforderungen ernst nehmen, wird sich auch an ihren Strukturen vieles ändern müssen: Unseren Schülern wird noch immer zu viel theoretisches Wissen, aber zu wenig Berührung mit der Welt außerhalb der Schule vermittelt. Gewiß: Die Schule darf die Lebenswirklichkeit nicht einfach verdoppeln. Aber Bildung kann auch nicht länger eine große Sonderveranstaltung sein, die gewissermaßen vom Leben abgekoppelt ist. Und: Die Schule der Zukunft muß die Qualität des Lernens in den Mittelpunkt stellen, nicht die Quantität des Wissens.
Was gehört zu dieser neuen Qualität des Lernens?
Erstens: Mehr als bisher geht es um die Methoden der Wissensvermittlung und -aneignung. Schüler müssen lernen: Wie wähle ich Informationen aus, wie organisiere und beurteile ich sie, wie komme ich zu Entscheidungen und Lösungen?
Zweitens: Ein solches Lernen ist zwangsläufig ein soziales Lernen. Es schließt Methoden ein, die Arbeit zu teilen und in Diskussionen wieder zusammenzufügen. Es vermittelt, Verantwortung für eine Sache oder eine Problemlösung zu übernehmen; es lehrt, anderen zu helfen und sich selbst helfen zu lassen. Es zwingt die Schüler, eigene Positionen und Ergebnisse in der Auseinandersetzung einer Gruppe durchzusetzen und zugleich zu relativieren. Und es bringt letztlich die Erkenntnis, daß Probleme und Lösungswege nicht an Fächergrenzen enden.
Drittens: Die Schule sollte auch ein Ort sein, an dem Leidenschaft für die Demokratie und den Wert der Freiheit vermittelt wird. Soziale Tugenden dürfen nicht relativiert werden, sie müssen gelehrt werden. Vertrauen in die Institutionen unserer Demokratie läßt sich weder erpredigen noch erzwingen. Die Schüler müssen schon in der Schule erfahren, daß Demokratie vom Engagement ihrer Bürger lebt, von der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Sie müssen spüren, daß Engagement und Gemeinsinn belohnt werden, sie müssen lernen, wie man mit Freiheit umgeht. Dafür reicht es nicht, daß man sie nur als passive Wissensrezipienten behandelt.
Und es lohnt sich im übrigen auch nicht, sie über das Maß ihrer Leistungen im Unklaren zu lassen. Wer meint, Leistungsunterschiede unter den Teppich kehren zu können, um damit Lebenschancen gleichermäßiger zu verteilen, der begeht Beihilfe zum Selbstbetrug. Im Informationszeitalter werden Leistungsvergleiche übrigens selbstverständlich sein, nicht nur zwischen Menschen, sondern vor allem auch zwischen Institutionen. Davor sollten wir auch überhaupt keine Scheu haben und stattdessen endlich ehrliche Systeme der Qualitätsmessung und -sicherung entwickeln.
Ich habe den Eindruck, daß vielerorts ein Umdenken schon begonnen hat. Ja ich glaube sogar, daß wir im Moment an unseren Schulen einen Aufbruch von unten erleben. Es ist viel in Bewegung. Schulen, Eltern und Lehrer, die etwas verändern wollen, schließen sich zusammen. Solche Initiativen verdienen Ermutigung. Denn wir stehen erst am Anfang notwendiger Bildungsreformen. Ich verbinde damit vor allem die Hoffnung, daß wir auf diese Weise wirksamere Reformen in Gang setzen als die bisherigen, die wir ja allesamt als Dekrete einer Bürokratie erlebt haben. Ich habe es schon oft gesagt und sage es noch einmal: Wir brauchen schulische Experimente und Modelle, die in ihrer Gesamtheit den unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lerntypen unserer Kinder gerecht werden. Es sind viele Arten von Schulen denkbar, die das lehren, was im Leben vorkommt, und zugleich das, was im Leben vorkommen sollte.
V. Wir haben in unserem Leben nur eine kurze Zeitspanne, in der wir aufwachsen. Diese Zeit müssen wir mit vielen Erlebnissen füllen, gerade auch mit Erfahrungen jenseits der künstlichen Welten moderner Medien. Und die größte Vielfalt ergibt sich eben aus der aktiven und engagierten Teilnahme am wirklichen Leben vor der Haustür.
Damit bin ich bei meinem letzten Punkt.
Fast alle erzieherischen Grundsätze führen letztlich ins Nichts, wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen die Chance auf eine schöpferische Teilnahme an unserer Gesellschaft verweigern. Wenn wir sie dadurch ausschließen, daß sie keine Arbeits- oder Ausbildungsstellen finden. Wenn wir sie dadurch frustrieren, daß überall - zumindestens aus ihrem Blickwinkel - nur alte Menschen in Verantwortungs- und Entscheidungspositionen stehen ( wobei man nicht allzu alt sein muß, um in den Augen von Kindern als alt zu gelten. ) Wenn wir sie entmutigen, weil sich die Politik und ihre Sprache von der Lebenssituation unserer Kinder allzusehr entfernt. Kinder und Jugendliche werden nur dann selbstbewußt, wenn sie merken, daß sie als Individuen wahrgenommen und ernst genommen werden. Wenn sie das Gefühl haben, für andere wichtig zu sein.
Eines sollte jedenfalls klar sein: Über die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet die Gegenwart unserer Kinder. Sagen wir also ja zur Erziehung. Geben wir gute Beispiele, jeder in seinem persönlichen Bereich. Lehren wir unsere Kinder das Leben, und wofür es sich zu leben lohnt. Zeigen wir ihnen auch, daß es sich lohnt, erwachsen zu werden. Machen wir ihnen aber vor allem eines deutlich: Unsere Hoffnung liegt auf euch. Unsere Hoffnung, nicht unsere Verzweiflung.