Redner(in): Richard von Weizsäcker
Datum: 24. Dezember 1987
Weihnachten ist das Fest des Friedens. Als Christen sagen wir, mit der Geburt Christi ist Gott Mensch geworden. Er wendet sich den Menschen in Liebe zu. Unsere religiösen Empfindungen mögen sich voneinander unterscheiden. Gemeinsam aber ist uns die tiefe Sehnsucht nach Frieden. Und wir alle können etwas dafür tun und aufeinander zugehen, nicht nur Reagan und Gorbatschow, sondern Sie und ich in unserem Alltag. Zu Weihnachten erinnere ich mich an viele Begegnungen während des Jahres, die mich in dieser Überzeugung bestärken. Ich denke an Gespräche in Gelsenkirchen und Essen, an die Menschen im Ruhrgebiet, im Saarland und anderenorts, die um ihren Arbeitsplatz bangen. Dort müssen wir einen großen Strukturwandel schaffen. Wir können nicht jeden Wirtschaftszweig und jedes Unternehmen künstlich am Leben erhalten. Aber gerade dort, wo ein Ort bisher von einem einzigen Kohle- oder Stahlbetrieb abhängt, sind die Menschen auf Hilfe beim Aufbau neuer Beschäftigung angewiesen.
Es geht um neue Arbeitsplätze, und zwar an Ort und Stelle, nicht ganz woanders, nicht gar im Ausland.
Das ist eine Aufgabe für uns überall im Bundesgebiet. Kein Bundesland kann auf die Dauer gedeihen, wenn es anderen schlecht geht.
Wir müssen begreifen, was wir gerade den Regionen schuldig sind, die in schwerer Zeit anderen geholfen haben und die es heute selbst schwer haben.
Wer arbeiten kann und will, darf nicht auf Dauer zu unfreiwilliger Untätigkeit verurteilt bleiben.
Ich denke an die Begegnungen mit Ausländern, die seit Jahren bei uns leben. Viele von ihnen sind unruhig und besorgt um ihre Zukunft. Wir sollten auf sie zugehen. Wir sollten sie spüren lassen, daß sie zu einem Teil unserer Gemeinschaft geworden sind. Die Weihnachtsbotschaft, wie wir sie verstehen, macht vor ihnen genausowenig halt wie vor Staatsgrenzen.
Tief eingeprägt haben sich mir Begegnungen mit geistig und körperlich Behinderten in München, im Landeskrankenhaus Gütersloh, in einem Kinderheim in Papenburg und mit einem Realschulkurs aus Schleswig-Holstein, der Reliefstadtpläne für Blinde herstellt. In der Weihnachtszeit tragen Behinderte oft an ihrem Schicksal doppelt schwer, wenn sie einer gleichgültigen Umwelt begegnen.
Welchen Grund haben wir zu solcher Gedankenlosigkeit? Werden wir vielleicht mit eigenen Hemmungen gegenüber Behinderten nicht fertig?
Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.
Lassen Sie uns die Behinderten und ihre Angehörigen auf ganz natürliche Weise in unser Leben einbeziehen. Wir wollen ihnen die Gewißheit geben, daß wir zusammengehören. Damit helfen wir nicht nur ihnen, sondern auch uns selbst. Denn wir lernen im Umgang mit ihnen wieder zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben.
Frieden ist die leiseste aller Geburten, schreibt die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs. Frieden unter den Völkern kann nur gedeihen, wenn wir auch im eigenen Volk friedlich miteinander umgehen lernen.
Bei der Trauerfeier im Frankfurter Dom saß ich neben der Witwe des ermordeten Polizeibeamten Klaus Eichhöfer. Ihr Leid und ihre Tapferkeit gehen mir nicht aus dem Sinn. Wir müssen lernen, Gewalt und Haß zu überwinden. Daß dies immer wieder schwer ist, zeigt mir der Brief einer jungen Frau, die mir schrieb, sie verurteile die Morde von Frankfurt. Mitleid aber könne sie nicht empfinden. Leid verspüre sie wegen der Opfer von Ausländerfeindlichkeit und wegen der vielen hungernden Kinder in der Dritten Welt.
Ich weiß nicht, ob sie mir heute abend zuhört. Gerade an sie aber möchte ich mich wenden: Wer wollte ihre Empörung über Ausländerhaß und ihr Mitgefühl für die Hungersnot in Äthiopien nicht teilen? Wer fühlte sich in seinem Gewissen nicht aufgerufen, konkret zu helfen, um zu einer gerechteren und menschlicheren Welt beizutragen? @
Aber sind unsere Empfindungen glaubwürdig und unsere Taten hilfreich, wenn zu Hause etwas anderes gilt? Glaubt wirklich jemand, daß wir Leid in Afrika lindern können, wenn wir neues Leid bei uns selbst mitleidlos geschehen lasen?
Mütter trauern in allen Ländern auf dieselbe Weise um ihre Kinder. Menschlichkeit ist nicht teilbar. Wir können sie nur mit menschlichen Mitteln schaffen. Daher bitte ich Sie: Lassen Sie nicht ab von Ihrem Einsatz für eine humanere Welt. Aber lassen Sie sich nicht in Haß hineintreiben. Denn er führt früher oder später zu Gewalt. Gewalt macht alles nur schlimmer. Gewalt zerstört die Menschlichkeit.
Ich denke an die Begegnungen während des Jahres mit den Verantwortlichen anderer Länder. In Berlin bekundeten Präsident Mitterrand, Königin Elisabeth und Präsident Reagan ihre besondere Verbundenheit mit uns. In Moskau sprach ich mit Generalsekretär Gorbatschow über die Zukunft unseres gemeinsamen Europa.
Später im Jahr kam Erich Honecker auf Einladung der Bundesregierung. Ich begrüßte ihn als Deutschen unter Deutschen. Er sagte zu, sich dafür einzusetzen, daß die Grenze, die uns teilt, menschlicher wird.
Darauf hoffe ich und grüße alle deutschen Landsleute drüben herzlich zu Weihnachten.
Am 8. Dezember haben wir erstmals in der Geschichte zwischen Ost und West einen echten Abrüstungsschritt geschafft. Nun gilt es, ganz energisch weiterzugehen, im Sinne von Sicherheit und Zusammenarbeit.
Wir müssen unsere Freiheit und Unabhängigkeit schützen können, und ich danke unseren Soldaten, daß sie es tun. Sicherheit voreinander ist Voraussetzung für Zusammenarbeit, aber sie ist nicht ihr Inhalt.
Abschreckung darf nicht die einzige Sprache bleiben, in der sich Ost und West wirklich verstehen.
Wenn Reformbemühungen in der Sowjetunion neue Chancen eröffnen, zusammenzuarbeiten und Abgrenzungen zu überwinden, dann sollten wir uns nicht verweigern. Denn die wirklich großen Aufgaben unserer Welt können weder vom Osten noch vom Westen allein gelöst werden. Überbevölkerung und Hunger in der Welt, Ausplünderung der Natur, unbeherrschte Technik, Frieden.
Die junge Generation fühlt dies ganz stark. Die junge Katja Bogonolowa und ihre Altersgenossen haben mir bei einer Diskussion im sowjetischen Fernsehen dieselben Erwartungen nahgebracht, wie sie unsere eigene Jugend auch empfindet. Sie fragten nach den Chancen zur Öffnung der Systeme, nach dem Verhältnis der Generationen, nach glaubwürdigen Vorbildern, nach Initiativen und persönlicher Verantwortung für junge Menschen, nach den Alternativen zum Konsumdenken. Sie wollten wissen, ob wir im Westen an sie, an die Jugend im Osten Europas, glauben.
Viele nüchterne und harte Arbeit liegt vor uns. Wir wollen nicht träumen, sondern aufeinander zugehen. Die Probleme sind gewaltig. Aber "es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen", wie die Chinesen sagen.
Wo immer wir die Herausforderungen unserer Zeit mit Verstand und mit Herz annehmen, werden wir die notwendige Kraft finden.
In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest.