Redner(in): Richard von Weizsäcker
Datum: 24. Dezember 1988
Zu Weihnachten, liebe Landsleute, feiern Christen die Geburt Jesu. Sie geschah in der Heiligen Familie, und so wurde nach unserer Überlieferung Weihnachten ein Familienfest. Alle sind darauf eingestellt, auch die Nachbarn und Kollegen, die Medien und die Werbung. Aber nicht alle Menschen haben eine Familie, in deren Mitte sie feiern können. Viele sind allein und fühlen sich vielleicht zu Weihnachten besonders einsam. Gewiß - einsam sein heißt nicht in jedem Fall allein sein. Man kann sich auch in Gesellschaft anderer einsam fühlen. Oder man sucht inmitten des Lärms der Zeit Ruhe, um zu sich selbst zu finden. Heute denke ich aber an die Menschen, die allein zurückgeblieben sind, die sich vereinzelt und verloren fühlen, sinnlos oder unverstanden, ausgegrenzt, unbeteiligt und vereinsamt. Ihnen will ich mich und sollten wir uns heute gemeinsam zuwenden. Zunächst meine ich diejenigen, die ihren Ehepartner verloren haben. Beinahe jeder zehnte unter uns ist verwitwet, vor allem viele Frauen. Auch wenn sie ausreichend versorgt sind, sich um Kinder und Enkel kümmern können, sich sinnvoll beschäftigen oder reisen, stellt sich ihnen doch die Frage: Was ist ein Erlebnis wert, das ich mit niemandem teilen kann? Das vertraute Zwiegespräch bleibt ohne Antwort. Man kann sich nicht selber gute Nacht sagen.
Oder eine ganz andere Lage: Ein 43jähriger Mann ist schon lange arbeitslos. Er schreibt mir, er leide am meisten unter der Teilnahmslosigkeit, ja Gefühlskälte um ihn herum. Er verstecke sich vor anderen Menschen, weil sie sich von seinen Sorgen belästigt fühlten und ihre eigenen für viel wichtiger hielten.
Es gibt Heimkinder, die aufopferungsvoll gepflegt werden und sich dennoch isoliert fühlen. Ihnen fehlt die liebevolle Wärme der eigenen Familie. Kranke Menschen, Pflegebedürftige, Behinderte erleben oft eine Umgebung, die sie seelisch ausgrenzt.
Mancher ausländische Mitbürger hat in der alten Heimat keine Wurzeln mehr und empfindet doch deutlich, unter uns noch immer als Fremder behandelt zu sein.
Die vielen Aussiedler hören offiziell, sie seien willkommen. Aber sie müssen noch manche äußeren Hindernisse und innere Abwehr überwinden, bevor sie sich sagen können: Wir gehören dazu. Sie haben es wahrhaft nötig, daß wir uns ihnen öffnen.
Und wer nimmt sich der Obdachlosen, der Nichtseßhaften oder aber der Gefangenen an? Wer läßt sie spüren, daß auch sie Menschen unter uns sind?
Noch eine ganz andere Erfahrung möchte ich nennen, in die Menschen durch eigene Entscheidungen hineinwachsen können. Weit häufiger als früher gehen junge Frauen heute einen eigenen Berufsweg, der die Gründung einer Familie erschwert. Zunächst geht es gut. Sie sind in einem Alter, in dem das
Leben aus einem nie endenden Heute und Jetzt zu bestehen scheint. Zukünftige Probleme, so glauben sie, werden sich schon lösen lassen. Bis sie eines Tages merken, daß Gleichaltrige eine Familie gegründet haben. Sie beginnen zu vergleichen.
Dann kann es geschehen, daß die eigene Berufsleistung nicht mehr alles für sie bedeutet. Ein Konflikt zwischen Beruf und Familie wird hier deutlich, den unsere Gesellschaft bisher nicht gelöst hat. Mit seinen Folgen werden bei uns die Frauen noch immer allzuoft allein gelassen.
Wer einsam ist, hat es schwer, sich mit eigener Kraft aus seiner Lage zu befreien. Dürfen wir es denn von ihm oder ihr erwarten? Oft haben Zeitumstände und Schicksalsschläge zur Isolierung geführt. Vielfach haben Mitmenschen dazu beigetragen. Also gilt es mitzuhelfen.
Das Schicksal von Alleingelassenen lehrt uns alle zu begreifen, worum es geht: Einsamkeit zu überwinden ist eine Aufgabe, die wir nur miteinander schaffen.
Staat und Gesellschaft können viel tun. Sozialpolitik und Arbeitsmarkt sind besonders bedeutungsvoll; denn sie beeinflussen wesentlich die Chancen für das Familienleben. Sie müssen menschliche Bindungen erleichtern, nicht erschweren.
Als Bürger dürfen wir uns nicht allein auf den Staat verlassen. Gesetze und Finanzen sind wichtig, aber entscheidend ist die persönliche Zuwendung. Selbsthilfeinitiativen leisten unersetzliche Dieste, um Menschen zu helfen, die in Not geraten oder allein gelassen sind.
Neue soziale Bewegungen arbeiten manchmal recht unorthodox. Solange sie sich jedoch im Rahmen des Rechts bewegen, braucht sie niemand zu fürchten. Ob sie für die Frauen, die Umwelt oder den Frieden eintreten, sie stemmen sich gegen einen Kult der Gegenwart. Sie helfen uns, an die nächsten Generationen zu denken.
Unsere Verfassung, die sich seit bald vierzig Jahren bewährt, begründet und schützt unsere Grundrechte. Das ist gut. Wir sollten sie aber nicht so verstehen, als hätten wir nur Ansprüche zu stellen, etwas zu fordern und zu empfangen.
Was dem eigenen Leben Sinn und Erfüllung bieten kann, ist anderen etwas zu geben und füreinander einzutreten.
So gibt es eindrucksvolle Beispiele persönlicher Hilfe in der Nachbarschaft. Ältere Mitbürger arbeiten in Berlin als Paten für Aussiedler aus dem Osten und erleichtern ihnen das Einleben. Aus Stuttgart schreibt mir eine Witwe, wie sie ausländischen Mitbürgern hilft, mit dem oft kaum verständlichen Papierkrieg fertig zu werden. Junge Leute versorgen alleinstehende Senioren mit Essen; sie sprechen mit ihnen und spüren, daß sie wirklich gebraucht werden.
In der Caritas-Stiftung Liebenau am Bodensee habe ich eine bewegende Tanztherapie eines ganz schwer Behinderten im Rollstuhl mit einer Betreuerin erlebt. Der Tanz stellte dar, wie schwierig es ist, aus der Isolierung herauszutreten. Aber es kann gelingen, wenn beide daran arbeiten. Einsamkeit verwandelte sich in Zuneigung.
Einsamkeit gibt es nicht nur in der Fremde, im Einzelhaushalt oder als Folge eines schweren Schicksals. Im Laufe eines Lebens hat jeder Mensch mit der Erfahrung von Einsamkeit zu tun.
Immer wieder versuchen Menschen, sich selbst zum Maßstab aller Dinge zu machen. Damit zwingen sie sich, ohne Bezug zu einem Ganzen und allein aus sich selbst heraus den Sinn und die Orientierung für ihr Leben zu finden.
Wer sich aber selbst und allein verwirklichen will, der baut sich nur ein eigenes Gefängnis.
Wir sind nicht Herren der Natur, sondern nur ihr Teil. Was uns not tut, ist, aus uns herauszugehen, unsere Mauern zu übersteigen, hinüberzugehen zu dem anderen. Es dient dem Nächsten und damit uns selbst. Beides gehört zusammen.
Weihnachten, das Familienfest, kann uns dafür die Augen öffnen, mehr als jeder andere Tag im Jahr.
Christen feiern zu Weihnachten die Geburt des Erlösers. Die Menschen suchen Erlösung aus ihrer Einsamkeit. Wir wollen uns gegenseitig dabei helfen; dann werden wir den Sinn des Weihnachtsfestes besser verstehen.
Meine Frau und ich grüßen Sie alle und wünschen Ihnen eine segensreiche Weihnachtszeit.