Redner(in): Christian Wulff
Datum: 12. Mai 2011
Es gibt unsterbliche Merksätze in unserem deutschen Sprichwortschatz, die zwar uralt sind, aber trotzdem nicht unbedingt wahr sein müssen. Zu diesen Sätzen gehört der jedem bekannte Spruch: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr."
Oft wird und wurde er benutzt, um Kindern kräftig einzubleuen, wie wichtig die Schule ist, wie wichtig das Lernen in frühen Jahren ist - und wie unwiederholbar die Chance ist, die man in Kindheit und Jugend hat, für das Leben zu lernen.
Als Mahn- und Warnsatz mag der Spruch auch immer noch eine gewisse Berechtigung haben. Alles, was Kinder und Jugendliche motiviert zu lernen und sich anzustrengen, um im Leben gute Chancen zu haben, ist erst einmal nicht schlecht. Aber wenn dieser Satz,"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" dazu dient, den Menschen später die Hoffnung zu nehmen, sich noch einmal weiterzubilden, dann sollten wir ihn möglichst schnell und gründlich vergessen.
Es stimmt zwar, dass das junge Gehirn am aufnahmefähigsten ist und dass wir vermutlich nie mehr so schnell und so gründlich lernen wie in unseren jungen Jahren. Wir machen dort in der Tat die prägendsten und uns ein Leben lang begleitenden Erfahrungen. Und wir sammeln dort auch das meiste von dem Wissen, das uns im Leben trägt und weiterhilft.
Aber die Gehirnforschung und die Lernforschung zeigen längst, dass auch später noch ein intensives und fruchtbares Lernen möglich ist. Sie zeigen sogar, dass wir, wenn wir als Erwachsene besser Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können und Nützliches von Nutzlosem, dass wir dann möglicherweise zielorientierter und vor allem noch motivierter lernen können als in jungen Jahren.
Dass das tatsächlich so ist, das zeigen aber nicht nur die Ergebnisse neuerer Forschungen, das zeigt seit Langem in unserem Land der große Erfolg der Volkshochschulen.
Die Volkshochschulen beweisen buchstäblich tagtäglich in ihren Hunderten von Einrichtungen mit ihren Tausenden von Lehrenden und Lernenden, dass Bildung im Leben nie aufhört. Nie aufhören muss und nicht aufhören darf.
Die Volkshochschulen sind tagtäglich der lebendige Beweis dafür, dass alle Menschen, welchen Schulabschlusses, welcher Herkunft, welcher Überzeugung und welchen Alters auch immer, einen Hunger nach Bildung haben. Nach Weiterbildung und nach Fortbildung, nach sprachlicher, kreativer, sozialer Kompetenz, nach Bildung der Persönlichkeit.
Volkshochschulen sind tagtäglich der lebendige Beweis dafür, dass Menschen gerne lernen, dass sie freiwillig Anstrengungen auf sich nehmen, um ein Stück weiterzukommen - im Beruf, in wissenschaftlicher Erkenntnis, in kultureller Erfahrung, im lebenspraktischen Wissen. Niemand wird zur Volkshochschule gezwungen. Ohne Schulpflicht, ohne Lernzwang tun die Menschen aus freien Stücken etwas für sich.
Volkshochschulen sind schließlich tagtäglich der lebendige Beweis dafür, dass diejenige Bildung die beste ist, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Volkshochschulen sind selber ständig lernende Systeme, die sich immerzu weiterentwickeln. Sie sind ein Beispiel dafür, wie Angebot und Nachfrage aufeinander reagieren, weil sie sensibel registrieren, wie Wünsche und Erwartungen an Bildung sich verändern, wie Menschen selber sich verändern in ihren Lebensplanungen und in ihren Lebensorientierungen.
Kurz: Volkshochschulen sind auf der Höhe der Zeit, weil sie ganz nahe bei den Bildungswünschen der Menschen sind.
Dass Volkshochschulen in einem ständigen Prozess der Neuorientierung sind, dafür ist auch der Volkshochschultag immer wieder Beispiel. Hier werden Erfahrungen ausgetauscht, hier werden neue gesellschaftliche Strömungen untereinander diskutiert, hier werden Konzepte miteinander besprochen, hier werden gemeinsame Ziele erörtert und beschlossen.
Der Volkshochschultag ist so ein gesellschaftliches Laboratorium ganz eigener Art. Hier wird nicht abgehoben und abstrakt geplant, hier werden vielmehr die konkreten und ganz alltäglichen Erfahrungen aus den Schulen der ganzen Republik auf den Tisch gelegt und miteinander verglichen. Hier wird konkret und zielorientiert darüber gesprochen, wie man den Bildungsbedürfnissen der Menschen und den Bildungserfordernissen der Gesellschaft von heute am besten entsprechen kann.
Weil das so ist, darum kann man ohne Abstriche sagen: Die Volkshochschulen und der Volkshochschultag machen sich um unser Gemeinwesen hochverdient. Und dafür sage ich meinen herzlichen Dank.
Ich will das an einigen Punkten verdeutlichen, denn auch ein Dank sollte ja möglichst konkret sein. Erster Punkt: Volkshochschulen sind Schulen der Demokratie. Das belegt schon ihre Geschichte. Es war in der ersten deutschen Demokratie, in der Weimarer Republik, als die Volkshochschulen ihre erste Gründerzeit und ihre erste große Blüte erlebten. Demokratie und Volksbildung sind Zwillinge, und zwar vor allem aus zwei Gründen.
Erstens: In der Demokratie gelten nicht Herkunft oder Klassenzugehörigkeit, sondern in der Demokratie soll jeder nach seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen die Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben haben, an der Partizipation, wie man fachlich sagt, und das heißt: Jedermann soll Zugang zur Bildung bekommen. Und jedermann soll auch - unabhängig von seinem Schul- oder Ausbildungsabschluss - die Möglichkeit haben, sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln.
Und zweitens: Die Demokratie braucht den mündigen Bürger, und das heißt: Den gebildeten, den informierten, den aufgeklärten Bürger, der sich ein eigenes Urteil bilden, der sich, wie es Kant so gültig formuliert hat, seines eigenen Verstandes bedienen kann. Für Weiter- und Fortbildung in diesem umfassendsten Sinne stehen die Volkshochschulen. Sie vermitteln nicht nur Wissen und Inhalte, sie vermitteln auch ein soziales und politisches Verantwortungsbewusstsein.
Sie selber, die Volkshochschulen, zeigen ja mit ihrem Angebot: Dieses Gemeinwesen, diese Demokratie stellt Einrichtungen zur Verfügung, die dem Einzelnen helfen, sich zu entwickeln und einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Also ist dieses Gemeinwesen auch auf die Mithilfe und das Mitdenken, die Sorge und das Engagement der Einzelnen angewiesen, damit es selber Bestand hat und sich selber zum Nutzen aller weiterentwickeln kann.
Auch hier ganz kurz: Lebendige Volkshochschulen sind Zeichen lebendiger und gelebter Demokratie.
Ein zweiter Punkt: Volkshochschulen sind Schulen der Nähe. Sie sind Schulen der Kommune, sie versammeln die, die beieinander wohnen und miteinander leben. Deswegen sind sie lebendige Impulsgeber auch für das Leben einer Gemeinde, eines Bezirks, eines Stadtteils. An ihnen darf nicht zuerst gespart werden. Es ist in Ordnung, dass die Volkshochschulen zum Teil durch ihre Einnahmen leben - und es ist auch in Ordnung, dass die Menschen dafür zahlen, dass sie die auf sie zugeschnittenen Angebote wahrnehmen.
Aber die Kosten für die einzelnen Teilnehmer dürfen nicht so hoch werden, dass sich viele den Besuch von Kursen nicht mehr leisten können. Volkshochschulen können Projektförderung gut gebrauchen. Die ist wichtig und hilfreich. Befristete Projektförderung kann vieles in Bewegung setzen. Aber sie brauchen auch eine sichere und nachhaltige Finanzierung, die längerfristige Planung ermöglicht und längerfristige Bestandssicherung gewährleistet.
Als Schulen der Nähe und der Begegnung, als Schulen der Kommune in einem ganz besonderen Sinn, dürfen Volkshochschulen nicht zur Segregation beitragen. Gerade in den Kursen der Volkshochschule sind Begegnungen der unterschiedlichen Milieus und der unterschiedlichen Schichten möglich. Das macht ihren Charakter aus und das soll auch in Zukunft so bleiben.
Kurz: Volkshochschulen sind Schulen der Nähe, in ihnen soll sich das ganze Gemeinwesen wiederfinden können. Ihre Gemeinwohlorientierung muss immer wieder ins Bewusstsein gerückt werden.
Ein Drittes, das an das vorige anschließt: Volkshochschulen sind Schulen der Integration. Die Sprachkurse sind sicher ein zentrales Bildungsangebot. Nicht nur die Fremdsprachen, sondern gerade eben auch Deutschkurse für Ausländer und Migranten sind hier zentral wichtig.
Aber es geht beim Thema Integration über das Sprachelernen hinaus. In den Kursen zu Musik und Kunst, zu den Bereichen des naturwissenschaftlichen Wissen, gerade aber auch in den Projekten und Kursen zu Geschichte, Gesellschaft und Politik wächst hier Tag für Tag Integration, wächst hier Tag für Tag eine Gesellschaft aus den verschiedenen Herkünften zusammen.
Nicht zuletzt ist an den Volkshochschulen eine Auseinandersetzung über Religion, über Glaube und auch über politische Überzeugungen und Ziele notwendig. Integration ist kein Kaffeeklatsch und sie kommt nicht von selbst. Zu ihr gehören auch Wissen, Kenntnis vom anderen, zu ihr gehören Auseinandersetzungen und zu ihr gehören Dialog und Diskussion.
Dialog und Diskussion, die nicht den akademischen Zirkeln und den Fachkonferenzen in klimatisierten Tagungshotels überlassen werden dürfen. Sie müssen im Alltag stattfinden, zwischen genau den Menschen, die sich auch morgen und übermorgen auf der Straße begegnen und in einer Stadt miteinander wohnen. Volkshochschulen sind ein guter Ort dafür.
Wieder ganz kurz: Volkshochschulen sind Schulen der Integration. In ihnen kommt zusammen, was zusammengehört: im gemeinsamen Lernen voneinander und miteinander, in Diskussion und Dialog.
Und ein letzter Punkt, der mir ganz wichtig ist: Volkshochschulen sind Schulen für das ganze Leben. Das gilt in zweierlei Hinsicht. Zunächst: Es sind Schulen, in denen Bildung ganz weit und umfassend begriffen wird. Es geht nicht nur um Wissen und Können, es geht auch um Lebenserfahrung und Lebensgestaltung, um Selbstreflexion, um soziale und familiäre Verantwortung, um Kreativität, um kulturelle Erlebnisfähigkeit und kulturelles Ausdrucksvermögen, um geschichtliches Bewusstsein und politische Aufklärung. Bildung an Volkshochschulen hat den ganzen Menschen im Blick.
Und dann: Schulen für das ganze Leben, das meint auch: Für die Volkshochschule ist man nie zu alt. Alle werden älter, aber die Welt bleibt nicht stehen. Sie entwickelt sich Tag für Tag rasend weiter. Das Wissen und die Fertigkeiten, mit denen wir das Leben meistern, haben wir nicht mehr ein für alle Mal. Je älter unsere Gesellschaft wird, je mehr alte Menschen unser Gemeinwesen prägen, umso wichtiger wird es sein, dass sie die Möglichkeit haben, sich weiterzubilden.
Es gibt ja viele Dinge und Fertigkeiten, die Hänschen gar nicht lernen konnte, weil es sie früher oder noch vor Kurzem schlicht nicht gab. Hans ist heute sogar darauf angewiesen, das lernen zu können, was Hänschen sich vielleicht nicht einmal vorstellen konnte. Lernen im Alter, Weiterlernen, noch einmal neue Orientierung finden, mit der Zeit mitgehen können: Das sind Möglichkeiten, die die Volkshochschule bietet und die sie heute mehr denn je bieten muss.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Volkshochschulen gerade das bieten: einen Ort, an dem die Generationen zusammenkommen können. Es gibt im Übrigen immer auch Dinge, die die Jungen von den Alten lernen können. Es gibt ein bestimmtes Lebenswissen, es gibt bestimmte Orientierung und ja, auch Weisheit, die veralten nicht.
Noch einmal kurz: Volkshochschulen sind Schulen für das ganze Leben. Hier werden alle menschlichen Fähigkeiten gefördert und hier ist niemand zu alt.
Sie haben noch viel zu tun, deswegen will ich hier schließen. Ich möchte Ihnen aber noch einmal sagen, wie sehr ich Ihre Arbeit schätze, wie sehr ich das schätze, was Sie für unser Land, für Ihre Städte und für jeden einzelnen tun, der zur Volkshochschule geht. Haben Sie vielen Dank für das alles und gehen Sie von diesem Volkshochschultag gestärkt und neu motiviert an Ihre wichtige, anspruchsvolle aber sicher auch sehr erfüllende Arbeit.