Redner(in): Roman Herzog
Datum: 4. Dezember 1998
Anrede: Herr Präsident Havel,Herr Ministerpräsident Biedenkopf,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/12/19981204_Rede.html
sehr geehrte Mitglieder des Koordinierungsrates und Teilnehmer an der 1. Jahreskonferenz des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums,
es war eine lange Durststrecke bis zur deutsch-tschechischen Erklärung. Notwendig war eine ganze Serie von Anstößen, um die immer wieder festgefahrenen Verhandlungen flott zu machen, um neuen Elan in die Gespräche zu bringen, um neue Verbündete für das Vorhaben zu finden: in den Medien, in der Jugend, in anderen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen, gerade auch unter den Sudetendeutschen.
Ich denke oft zurück an die Sequenz unserer Treffen, HerrHavel, bei denen wir beide, obwohl nicht exekutiv verantwortlich, doch versucht haben, dem Prozeß voranzuhelfen. Ich denke an unsere Begegnung in Lany, die unerwartet stark in die Öffentlichkeit wirkte. Unvergessen bleiben mir auch Policka und die jungen Menschen, die uns dort den Weg in die Zukunft gewiesen haben. Und ich erinnere mich an unseren Besuch bei der gemeinsamen Historikerkommission.
Dann kam nach der Unterzeichnung der Erklärung das Werben für ihre Annahme: Ihre Rede im Deutschen Bundestag, meine auf der Prager Burg und schließlich unser Treffen in New York anläßlich der Preisverleihung des "European Statesmen Award".
Deshalb freut es mich ungemein, heute zusammen mit Ihnen Taufpate des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums zu sein, dieser neuen, in der gemeinsamen Erklärung vorgesehenen Institution, die so wichtig werden soll für die Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen.
Das Gesprächsforum besteht schon seit einigen Monaten. Aber jetzt tritt es zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Dresden, diese ureuropäische Stadt, verkörpert wie keine andere den Mut zum Wiederaufbau nach scheinbar hoffnungsloser Zerstörung, den Sieg des Geistes, der Freiheit und des Zukunftswillens über das ohnmächtige Schwanken zwischen nationaler Hybris und kleinmütigen Komplexen. Daß das Gesprächsforum diese Stadt als Ort seiner ersten Jahrestagung gewählt hat, ist für mich ein gutes Vorzeichen.
Mit der gemeinsamen Erklärung und mit dem Gesprächsforum haben wir die Chance, uns eine gemeinsame Zukunft aufzubauen unddenDialog zu führen, der mehr als 40 Jahre unmöglich war. Auf tschechischer Seite stand ihm die Erinnerung an die Zerschlagung der tschechoslowakischen Republik durch Hitlers Machtpolitik und an die Untaten der deutschen Besatzungsherrschaft entgegen, bei den Sudetendeutschen die Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung und der dabei begangenen Grausamkeiten.
Dialog bedeutet nicht Verdrängung, meine Damen und Herren, denn Verdrängung birgt das Risiko neuer Ressentiments. Dialog bedeutet den Willen zum Neubeginn, zu einer besseren Zukunft.
Am Anfang und im Mittelpunkt des Dialogs müssen Neugierde, Zweifel und Fragen stehen. Sonst wird das Urteil falsch, bleibt es Vorurteil, und auf Vorurteilen kann man keine Zukunft aufbauen. Tiefergehende Beziehungen zwischen Völkern vertragen auch keine Tabuisierungen, keine ungeklärten Fragen der Vergangenheit, die den Weg in die gemeinsame bilaterale und europäische Zukunft versperren. Wir müssen die Schützengräben des Provinzialismus verlassen. Wenn wir aber den Dialog freimütig und offen führen, und wenn wiralleam deutsch-tschechischen Verhältnis interessierten gesellschaftlichen Gruppen daran beteiligen, dann wird er ein Beitrag zur politischen Kultur der Demokratie sein. Kritische Einrede darf dabei nicht fehlen. Wobei auch im politischen Leben für mich der bessere Teil der Kritik immer die Selbstkritik ist.
Diskussion und Dialog sind der Weg, friedliche Zusammenarbeit in der Zukunft ist das Ziel. Was Dialoge in Gang bringen können, zeigen zwei richtungsweisende tschechisch-deutsche Gemeinschaftsprojekte: das deutsch-tschechische Jugendwerk, das Präsident Havel und mir so besonders am Herzen liegt, und der Bibliotheksneubau in Liberec / Reichenberg auf dem Gelände der 1938 niedergebrannten Synagoge. Ich kenne keine andere Initiative, die mit so ermutigender Symbolik die über Jahrhunderte bewährte und in nur einem einzigen schrecklichen Jahrzehnt zerstörte böhmische Symbiose zwischen Tschechen und Deutschen, Christen und Juden wiederbelebt. Und sie zeigt darüber hinaus: Wichtiger als die Entscheidungen der Politiker und noch prägender für die Menschen unserer Länder sind Initiativen, die von den Bürgern selbst getragen werden. Frischer Wind muß auch in den tschechisch-deutschen Dialog von unten kommen, nicht nur von den Regierungen und den Parlamenten. Denn die Menschen in unseren Ländern, vor allem die jungen, sind nicht weniger mutig als wir. Und ihre Visionen sind nicht weniger bedeutend, auch wenn sie nicht im Rampenlicht stehen.
Die Erinnerung an die Zeitspanne, die von Ungerechtigkeit und Revanchegeist, von Gewalt und Vergeltung gekennzeichnet ist, darf und wird die sieben langen Jahrhunderte des friedlichen Zusammenlebens in Böhmen, Mähren und Schlesien nicht vergessen machen. Das wechselseitige Geben und Nehmen, das unsere Nachbarschaft die längste Zeit ihres Bestehens hindurch auszeichnete, führte unsere Völker gemeinsam zu hoher wirtschaftlicher und kultureller Blüte, und sie wirkte über die Grenzen der von ihnen bewohnten Länder hinaus.
Heute haben wir die Chance, daran anzuknüpfen. Ich wünsche mir, daß die Geschichte dieser sieben Jahrhunderte eine Leitlinie unserer beiden Völker für die Zukunft wird. Niemand kann heute ernsthaft daran zweifeln, daß diese Zukunft nur Europa heißen kann. Deshalb begrüße ich, daß die Tschechische Republik ihren alten Anspruch erneuert, in Europa wieder präsent zu sein. Es gab in der europäischen Geschichte schon einmal eine Epoche, in der das böhmische Königreich und seine Hauptstadt Prag eine führende Rolle in Europa spielte: Die Zeit Karls des IV. , des böhmischen Königs und Kaisers des Heiligen Römischen Reichs. An der Prager Universität, der ersten, die 1348 in Mitteleuropa gegründet wurde, wurde tschechisch und deutsch gesprochen, lateinisch disputiert und abendländisch gedacht.
Meine Vision für die Zukunft ist es, diese Zeit in einer modernen Form zu erneuern und unsere Länder zu Katalysatoren des europäischen Weges zur Einheit zu machen. Dazu müssen wir das Netz der menschlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen noch enger und intensiver knüpfen, so eng und intensiv, daß es ein Muster für die Zivilgesellschaften der Zukunft sein kann.
Dazu müssen wir alle Möglichkeiten unserer partnerschaftlichen Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert ausschöpfen. Lassen Sie uns besonders über den Ausbau des Schul- , Hochschul- und Wissenschaftsaustausches sprechen. Und lassen Sie uns über etwas nachdenken, dessen Existenz von vielen selbsternannten politischen "Realisten" verneint wird, das es aber trotzdem gibt: die gemeinsame, europäische Kultur. Ich hoffe, daß Sie, Herr Präsident Havel, als jemand, der das philosophische Fundament Europas so verständlich machen kann wie kaum ein anderer, meine Einladung zu einem solchen Nachdenken im Februar nächsten Jahres annehmen können.
Unser Verhältnis wird von den Möglichkeiten bereichert, die das vereinigte Europa bietet. Der europäische Integrationsprozeß wird unweigerlich die Zusammenarbeit vertiefen und die tschechisch-deutsche Annäherung beschleunigen. Manches, was im bilateralen Verhältnis zu schwierigen Diskussionen führt, wird im europäischen Kontext leichter auflösbar. Wir würden das nicht zum ersten Mal erleben. Es gilt, die im Zusammenwachsen Europas liegende Chancen für die deutsch-tschechische Beziehung zu ergreifen.
Für eine "Europäische Union", die mehr ist als nur die Summe ihrer Mitgliedstaaten, brauchen wir den aktiven Beitrag unserer beiden Länder. Nur so wird Europa im 21. Jahrhundert entstehen und bestehen können. Das schulden wir den jungen Menschen in unseren Ländern. Aber auch sie müssen sich der Aufgabe stellen und die Gestaltung der Zukunft in Angriff nehmen. Deshalb freue ich mich, daß so viele junge Tschechen und Deutsche in diesem Saal sind und daß Sie während Ihrer Tagung gerade auch über die Zusammenarbeit und die Gestaltungsmöglichkeiten der Jugend diskutieren werden. Ist es für die jungen Leute nicht wichtiger, etwa über das Waldsterben auf beiden Seiten der Grenze zu sprechen als über Krieg und Flucht? Ist es für sie und ihre Zukunft nicht wichtiger, sich Gedanken über die Auswirkungen der Globalisierung in ihrem und unserem Land zu machen? Wäre es nicht wichtiger, gemeinsame Forschungsprojekte in Angriff zu nehmen? Gibt es zwischen jungen tschechischen Soldaten und jungen deutschen Soldaten, die im Interesse gemeinsamer Werte im früheren Jugoslawien ihren Dienst tun, heute nicht viel mehr Verbindendes als Trennendes?
Das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum ist eine konkret gewordene Zukunftsperspektive: Von ihm soll ein zukunftsweisender Impuls für die tschechisch-deutschen Beziehungen und für ein Europa der guten Nachbarschaft und Partnerschaft ausgehen. Das Forum knüpft an bewährte Muster an, die sich in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg nicht nur zwischen den Regierungen, sondern in der Mitte der Gesellschaften zwischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und Kultur gebildet haben. Daß heute zwei Briten unter uns sind, die wichtige Rollen in der Königswinterer Konferenz spielen, illustriert, was ich meine. Die heutige erste Jahrestagung sollte für uns alle Anlaß sein, im Wissen um das Gewesene verstärkt den Blick nach vorn zu richten und das gemeinsame geistige Erbe unserer beiden Länder und Völker neu zu entdecken.
Es ist Zeit für einen ernsthaften, reifen Dialog zwischen Tschechen und Deutschen. Ich bin sicher, daß das Gesprächsforum seinen Beitrag dazu leisten wird.