Redner(in): Roman Herzog
Datum: 25. Dezember 1998

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/12/19981225_Rede.html


Guten Abend, liebe Zuschauer,

hier aus Berlin, aus dem Schloß Bellevue, grüße ich alle Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch alle, die in unserem Land Heimat, Gastfreundschaft oder Zuflucht gefunden haben.

Ein Jahr liegt hinter uns, in dem uns - stärker vielleicht als sonst - das Gefühl der Veränderung erfaßt hat.

Da ist der in demokratischer Normalität vollzogene Wechsel der Bundesregierung und der jetzt konkret in Gang gekommene Regierungsumzug nach Berlin.

Da ist die mit dem neuen Jahr beginnende Europäische Währungsunion, die den Abschied von der vertrauten D-Mark einleitet.

Da sind natürlich die Turbulenzen der Weltwirtschaft, die uns alle nach den Folgen für unsere Zukunft fragen lassen.

Und vielleicht ist es ja auch das Nahen der Jahrhundertwende, die uns Bilanz ziehen läßt über dieses Jahrhundert und auch über unser ganz persönliches Leben. Weihnachten ist kein schlechter Anlaß, einmal in Ruhe nachzudenken und sich zu fragen, was wirklich wichtig ist.

Ich will mit etwas ganz einfachem anfangen:

So vieles kommt uns heute selbstverständlich vor. Aber wenn wir uns nur ein wenig aus der Entfernung betrachten, merken wir, wie wenig selbstverständlich eigentlich all das ist, von dem wir leben:

Daß wir keinen Hunger leiden, daß wir in Frieden und Freiheit leben können und daß wir in sozialer Sicherheit leben. Alle diese Dinge, die für uns selbstverständlich sind, sind eigentlich eine Staunen erregende Ausnahme in der Weltgeschichte und im Weltmaßstab.

Natürlich gibt es auch in unserer Gesellschaft große soziale Unterschiede. Wir haben allen Grund, daran zu arbeiten, daß es bei uns gerechter zugeht. Aber trotz aller Schwierigkeiten müssen wir uns sagen, daß es uns im Verhältnis zu früheren Generationen und zu vielen anderen gegenwärtigen Gesellschaften sehr gut geht.

Und wenn wir darüber einen Moment staunen, dann verfliegt vielleicht auch die seltsame Freudlosigkeit, mit der wir uns oft das Leben so schwer machen. Ich bin ganz bestimmt nicht dafür, Negatives unter den Teppich zu kehren. Aber wenn man Gründe hat, sich zu freuen, dann sollte man sich die Freude auch gönnen.

Eine Gesellschaft ist nur dann in Ordnung, wenn nicht die einen auf Kosten der anderen leben. Wer viel hat, kann teilen. Wer stark ist, kann Schwächere tragen. Wem es gut geht, der kann dafür sorgen, daß es anderen besser geht.

Ich sage das vor allem auch im Hinblick auf die kommenden Generationen. Kurz vor der Jahrhundertwende haben wir allen Grund zu überlegen, wie die Generationen künftig miteinander leben sollen.

Es gibt das schöne Wort vom Generationenvertrag. Ist es nicht erstaunlich, daß dabei immer nur über Geld geredet wird? Natürlich: Im Vordergrund steht die Frage: Wieviel muß ich in die Rentenkasse einzahlen und wieviel bekomme ich später zurück? Aber beim Vertrag zwischen den Generationen geht es doch um sehr viel mehr. Für mich steht das gegenseitige Versprechen von Zuwendung im Vordergrund, das Versprechen, füreinander Sorge zu tragen.

Wir Älteren müssen uns aber auch fragen, was wir den jungen Menschen mitgeben. Mit noch soviel Geld können wir Vorbilder nicht ersetzen. Ich frage deshalb: Gestalten wir unsere Familien so, daß sie wirklich Orte gegenseitigen Vertrauens sind? Geben wir den jungen Menschen genug Raum, ihre Zukunft selbst zu gestalten, oder leben wir auf Kosten unserer Kinder und Kindeskinder?

Unsere jungen Menschen haben nicht nur Anspruch auf Bildung, auf berufliche Qualifikation und die Chance zur Eigenverantwortung. Am wichtigsten ist, daß wir ihnen das Gefühl geben, erwünscht, gebraucht und gefordert zu sein.

Nicht nur im Verhältnis von jung und alt gibt es die Gefahr einer gespaltenen Gesellschaft. Denken Sie an die Millionen Mitbürger ausländischer Herkunft, die unter uns leben. Wissen wir wirklich voneinander, was uns bewegt?

Gerade in Zeiten globaler Umbrüche ist es wichtig zu wissen, was uns miteinander verbindet. Wir müssen deshalb mehr über die inneren Grenzen hinweg miteinander reden: Ost mit West, Jung mit Alt, Einheimische mit Fremden. Ich setze mich seit vielen Jahren für einen Dialog zwischen den Kulturen der Welt ein, weil ich glaube, daß wir nur so auf lange Sicht ein friedliches Miteinander der Menschen auf diesem Planeten sichern können. Wir brauchen dieses Gespräch aber auch innerhalb unseres Landes. Das ist anstrengend, aber es ist unverzichtbar.

Im Laufe der letzten vier Jahre habe ich in meinem Amt unser Land von vielen Seiten kennengelernt. Natürlich habe ich auch negative Seiten gesehen. Heute abend aber will ich vor allem sagen, daß ich für die Zukunft unseres Landes voller Zuversicht bin.

Deutschland hat in den vergangenen Jahren gewaltige Anstrengungen unternommen. Damit meine ich nicht nur den Aufbau in Ostdeutschland, selbst wenn dort die Veränderungen am offenkundigsten sind.

Unsere Unternehmen haben - auch im Westen Deutschlands - auf breiter Front neue Technologien und neue Strukturen eingeführt und damit den betroffenen Menschen viel abverlangt. Aber die deutsche Wirtschaft ist dadurch wieder eine der modernsten und wettbewerbsfähigsten in der Welt geworden. Denjenigen, die jetzt davon profitieren, sage ich: Nun gilt es, das soziale Versprechen unserer Marktwirtschaft einzulösen. Nun gilt es, auch an die zu denken, die einen Arbeitsplatz brauchen.

Entscheidend für die Zukunft ist, wie wir menschlich miteinander umgehen. Ich habe gesehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen, ich habe mir unzählige Aktionen, Initiativen und Projekte ansehen können. Viele haben mir darüber geschrieben. Ich habe sehen können, daß wir nicht nur eine Ellenbogengesellschaft sind, wie so oft behauptet wird. Viele sorgen dafür, daß wir auch eine Gesellschaft der gebenden Hände sind.

Aus kaum einem anderen Land kommen so viele Spenden für die Fernen und Fernsten. Kaum ein anderes Land nimmt so viel Fremde und Flüchtlinge auf wie Deutschland. Auch das stimmt mich für die Zukunft optimistisch.

Es gibt einen alten Spruch: Die ganze Dunkelheit der Welt reicht nicht aus, das Licht einer einzigen Kerze zu löschen.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen allen ein gesegnetes Fest.