Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 18. Oktober 2012
Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 18. Oktober 2012 beim Antrittsbesuch beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Ansprache gehalten.
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/10/121018-Bundesverfassungsgericht.html
Herzlichen Dank für die überaus freundliche Begrüßung. Es ist eine schöne Tradition, dass sich nach Amtswechseln die Verfassungsorgane auch persönlich kennenlernen. Nicht nur deshalb bin ich heute gerne nach Karlsruhe gekommen. Natürlich kannte ich im Grundsatz schon früher die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts. Aber im Vorfeld des Besuches hat die politische Situation, die ganz aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mir sehr nachdrücklich bewusst gemacht: Ohne Bundesverfassungsgericht wäre unsere Verfassungsordnung unvollkommen.
So komme ich zu Ihnen mit großer Freude und tiefer Wertschätzung.
Ich selbst bin in einem Gesellschaftssystem groß geworden, in dem die Verfassung zwar einige Grundrechte und staatliche Garantien enthielt. Aber in der DDR konnten die Bürger ihre Rechte gegenüber der Staatsmacht nicht durchsetzen. Es gab keine Instanz, vor der Bürger gegen den sozialistischen Staat klagen konnten.
Deshalb wusste schon die Demokratiebewegung von 1989: Unabhängige Gerichte allein dem Recht verpflichtet, keiner Staatsführung, auch keiner Ideologie oder Idee sind unverzichtbarer Teil eines Rechtsstaates. Für diese Unabhängigkeit und den Rechtsstaat insgesamt ist aber auch ein zweites Element ganz wesentlich, wichtiger vielleicht als ein fein ziseliertes Rechtsschutzsystem: Ich möchte es einmal mit "Haltung" charakterisieren. Es sind dies die Rechtstreue der Bürger und die Rechtstreue der Rechtsanwender der Richter, der Staatsanwälte, der Rechtsanwälte und der Verwaltungsbeamten. Es ist ihr Ethos, das geltende Recht richtig anzuwenden. Das ist deshalb so wichtig zu erwähnen, weil wir in Deutschland eine zweifache Geschichte des Rechtsverlustes zu konstatieren haben. Wir haben in Deutschland erlebt, wie Juristen zu Handlangern der herrschenden Macht wurden wie Recht pervertiert wurde. Und noch etwas will ich hier benennen: Menschen aus Staaten, in denen das Rechtsbewusstsein weniger stark ausgeprägt ist, fragen nicht umsonst: Warum werden in Deutschland Ge- und Verbote befolgt?
Vielleicht liegt eine Antwort auf diese Frage darin, dass der Rechtsstaat in Deutschland älter als die Demokratie ist. In der alten Bundesrepublik sicher in einem längeren Prozess ist richterliche Kontrolle in über 60 Jahren selbstverständlich geworden. So krönt das Bundesverfassungsgericht unseren Rechtsstaat. Es hat mit seiner Rechtsprechung das Versprechen des Grundgesetzes und seiner grundrechtlichen Gewährleistungen eindrucksvoll erfüllt. Wer wie die Ostdeutschen und die Osteuropäer einmal alles verloren hat, was die Subjekthaftigkeit eines Staatsbürgers garantiert, die Freiheit, die Demokratie, die Rechtssicherheit, wer all das verloren hat, der weiß all die rechtsstaatlichen Garantien zu schätzen, die unsere Verfassung enthält. Und deshalb werde ich überall, wo es erforderlich ist, daran erinnern, welch hoher Wert es ist, sein Recht auch gegen den Staat vor Gericht geltend machen zu können.
Von Gustav Radbruch stammt der Satz: "Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert."
In diesem Sinne war und ist das Bundesverfassungsgericht stilbildend und in vielem Vorbild für andere Verfassungsgerichte: Die Freiheits- und Gleichheitsrechte binden nicht nur Exekutive und Judikative, sondern sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Maßstab für die Gesetzgebung. Mit dieser Rechtsprechung stellt das Gericht den Menschen in den Mittelpunkt und nicht mehr den Staat oder die Klasse, wie es oft genug verhängnisvoll in Deutschland geschehen ist. Das Gericht hat so das Staatsverständnis der Bundesrepublik maßgeblich mitgeprägt. Es hatte entscheidenden Einfluss darauf, dass Rechtsstaatsbewusstsein und die Rechtstreue in Deutschland im Bewusstsein der Bürger fest verankert sind.
Wessen Aufgabe es ist, die anderen Verfassungsorgane, Verwaltung und Gerichte zu kontrollieren, der zieht zwangsläufig Kritik auf sich. So konstant die Zustimmung und das Vertrauen der Deutschen in ihr Bundesverfassungsgericht ist, so konstant tritt Kritik an ihm auf teilweise in harscher Form geäußert. Aber Kritik können Sie da bin ich sicher aushalten.
Nicht nur in der gegenwärtigen Krise empfindet die Politik Karlsruher "Einmischungen" bisweilen als überflüssige Last. Auch in Nachbarstaaten ist man z. T. erstaunt über die Rolle der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit. Das ändert nichts daran: Ihre Entscheidungen werden aufmerksam gelesen, in Berlin, im ganzen Land, bei unseren Nachbarn, in Brüssel, in Luxemburg und Straßburg; übrigens auch in anderen Erdteilen.
Ich habe an anderer Stelle gesagt, wird dürfen nicht als Präzeptoren von ganz Europa auftreten. Das gilt natürlich auch für das Bundesverfassungsgericht. Aber wir dürfen unsere Erfahrungen auch nicht leugnen. Wir können unsere Erfahrung mit Demokratie, mit Debatte, mit einem Rechtsstaat durchaus europaweit zeigen und sagen: So kann es gehen. Und zu den positiven Leistungen zählen gerade auch das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung.
Denn selbst ablehnende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen eine wichtige Funktion: Befriedung! Karlsruhe vergibt eine Art "Gütesiegel"."Wenn das Bundesverfassungsgericht nichts auszusetzen hat, dann muss es in Ordnung sein." So war es meinem Eindruck nach auch nach Ihrer Entscheidung zum ESM.
Bei meiner Vorbereitung ist mir auch klar geworden, dass das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident eine institutionelle Nähe aufweisen. Unsere Unabhängigkeit hat so meine ich eine besondere Verantwortung zur Folge: Sie garantieren in besonderem Maße die Freiheit der Bürger einerseits und das Gleichgewicht der Gewalten andererseits etwa wenn Ihre Rechtssprechung für wichtige staatliche Entscheidungen stärkere parlamentarischen Mitwirkung verlangt. Meine Aufgabe sehe ich darin, das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen zu stärken, in ihre Prozesse und Entscheidungen. Dem dient mein Besuch hier und heute.
Ihnen allen - den Richterinnen und Richtern möchte ich nochmals für die herzliche Aufnahme danken. Einen speziellen Dank sage ich den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses und allen, die unsere Verfassungsrichter in ihrer so wichtigen Arbeit unterstützen. Ich freue mich auf die Gespräche und viele neue Erkenntnisse. Vielen Dank!