Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 8. November 2012
Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 8. November zu Ehren des Präsidenten der Republik Finnland, Sauli Niinistö, ein Abendessen gegeben. In seiner Tischrede sagte der Bundespräsident: "Ein Grund, weswegen ich mich Finnland verbunden fühle, ist die Ostsee. Wie Sie, Herr Präsident, wurde ich an der Ostsee geboren und ihr Klima hat mich geprägt nicht nur, was das Wetter betrifft: Die Ostsee führte uns in der DDR und wohl auch Ihnen als freie Bürger in Finnland das politische Klima vor Augen, das in der Region herrschte: die scharf bewachte Grenze an der Ostseeküste hat ja unser aller Freiheit beschnitten."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/11/121108-Abendessen-Finnland.html
Herzlich willkommen in Schloss Bellevue! Dieser Abend ist für uns besonders schön. Denn wenn Deutsche an Finnen denken, dann haben sie eine Fülle von geistigen Bildern vor sich. Manchmal sind die etwas schlicht. Wir denken dann an Nadelwälder. Bei anderen schon geschmückter - wegen der Vielzahl von Tausenden von Seen, wie ein Mosaik aus grünen und blauen Steinen, das ist dann schon eine etwas poetischere Vision. Weniger romantisch veranlagte Menschen denken vielleicht eher an moderne Bildungskonzepte. Denn die Ergebnisse der Forscher haben uns gelehrt: Pisa liegt in Finnland!
Vielleicht wussten das auch schon die ersten Deutschen in Helsinki. Es gab früher ja viele Deutschsprachige in allen Ländern des Ostseeraums. In Helsinki gab es im 19. Jahrhundert einen Lesering von zwölf Familien. Diese hatten sich vorgenommen, dass jedes Mitglied einmal im Jahr ein Buch erwirbt. Das war damals offensichtlich eine Leistung. Dieses Buch wurde dann all den anderen ausgeliehen. So entstand der Grundstock für die Institution, die nun seit über 130 Jahren besteht: die Deutsche Bibliothek Helsinki. Ich weiß das so genau, weil ich zum Jubiläum im vergangenen Jahr dort war. Bibliotheken sind ja so etwas wie Sinnbilder dafür, dass wir manches, was in unseren Gesellschaften geschieht, selbst bestimmen können. Freiheitliches Gedankengut haben wir ja, bevor es der Staat und seine Institutionen haben. Selbstbestimmt denkende und handelnde Menschen gibt es länger als es freiheitliche Demokratien gibt. Und wie sind sie zu selbstbestimmt Handelnden geworden? Durch lebenslanges Lernen, Studieren und eben Lesen!
Dann gibt es natürlich noch einen ganz persönlichen Grund, weswegen mich Finnland besonders interessiert, wie die skandinavischen Nachbarn auch. Ich bin ein Kind der Ostsee. Ich bin in Kriegszeiten dort an der Ostsee geboren. Wie Sie, Herr Präsident, bin ich also Osteseeanrainer. Das Klima und auch die Mentalität der Menschen dort haben mich geprägt, das Wetter auch, ich muss es zugeben. Die Ostsee damals, als wir jünger waren, das war schon etwas anderes. Das Land in dem ich lebte, hieß nicht Deutschland, sondern DDR. Sie als freier Bürger in Finnland kannten auch andere Zeiten als die der Kalte Krieg hatte das politische Klima auf seine ganz eigene Weise geprägt. Scharf bewachte Grenzen, das kannten wir, gerade auch an der Ostseeküste. All das hat unsere Freiheit beschnitten. So musste ich damals als junger Mann, wenn ich mit meinen kleinen Kindern auf der Mole in Warnemünde spazieren ging, meinen eigenen Kindern erklären, warum sie niemals auf die Fährschiffe steigen könnten, die an uns vorbeifuhren Richtung Skandinavien. Ich konnte es ihnen wohl nicht richtig erklären, diese Unmöglichkeit, einfach aufzubrechen und über die Ostsee zu fahren, wie es unsere Vorfahren getan hatten. Trotzdem verband sich mit dem Blick nach Norden immer auch eine Vision von Freiheit. Jedenfalls, als wir sie nicht hatten, hatten wir zwar einen Traum von ihr, aber kein Gefühl für sie. Viele Menschen aus den Ostseeanrainerstaaten, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen und in den baltischen Staaten, wissen genau, wovon ich rede. Wir sehnten uns nicht nur nach fernen Welten, die wir nicht erreichten, sondern auch nach Verhältnissen, die wir noch nicht erringen konnten.
Die finnischen und die ostdeutschen Ostseeanrainer waren damals schon Nachbarn. Richtig kennenlernen konnten wir uns aber erst, nachdem die Mauer gefallen ist. Sagen wir es mal genauer: nachdem die Menschen 1989 aufgestanden sind und danach die Mauer fiel.
Freiheit und Selbstbestimmung wurden dann für uns Ostdeutsche eine Sache, die wir von unseren westdeutschen Bürgern und Mitbürgern genauso lernten, wie von unseren skandinavischen Nachbarn. Ich denke dankbar an manche Aktion von Kooperation. Es war schön, etwas völlig Neues auszuprobieren, etwas, das für unsere skandinavischen Nachbarn gar nicht mehr so neu war.
Dieser Schritt in die Freiheit war die Voraussetzung dafür, dass unsere Länder heute engere Partner als je zuvor sind: Finnland ist seit 1995 Mitglied der Europäischen Union. Wie weit unsere Partnerschaft heute reicht, das spüren wir täglich, wenn wir unser Geld in Händen halten. Aber wir spüren es auch darüber hinaus, denn unsere Länder arbeiten gemeinsam daran, dass der Euro auch in Zukunft so stabil bleibt wie bisher. Finnen und Deutsche zeigen dabei große Solidarität. Ich bin dankbar dafür. Gleichzeitig setzen wir uns für Reformen ein, die Europa als Ganzes wettbewerbsfähig machen sollen. Dort, wo es wettbewerbsfähig ist, soll es so bleiben, dort wo es nicht so ist, soll es wachsen. In der Diskussion mit unseren Nachbarn fühlen wir Deutsche uns mit den Finnen eng verbunden. Finnen und Deutsche wollen gemeinsam, dass sich solide Haushalte und Strukturreformen in Europa durchsetzen. Ganz unterschiedliche, große wie kleine Länder in allen Himmelsrichtungen unseres Kontinents, fordern die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Ordnung ein, ohne die das Wirtschaften mit einer gemeinsamen Währung eben nicht funktionieren kann.
Deshalb wünsche ich mir: Lassen Sie uns in diesem Sinne weiter gut zusammenarbeiten, damit wir auf diese und andere große Fragen unserer Zeit kluge Antworten finden und selbstverständlich voneinander lernen können!
Vom anderen lernen das sollten wir zum Beispiel bei Fragen von Teilhabe und Chancengleichheit: Finnland war das erste Land in Europa und eines der ersten weltweit, in dem Frauen wählen durften. Das ist mehr als bemerkenswert nicht nur, wenn man bedenkt, dass Finnland 1906 noch ein Großfürstentum im Russischen Reich war. Heute staunen wir darüber, wie erfolgreich finnische Mädchen und Jungen in den Schulen gefördert werden. Was die Zeit nach der Schule betrifft, so haben wir in Deutschland erfolgreiche Ergebnisse erzielt. Und unser System der dualen Berufsausbildung findet weltweit Anerkennung. Gerade Sie, Herr Präsident, sind an unseren Erfahrungen in diesem Punkt besonders interessiert. Darüber freue ich mich ebenfalls!
Ich finde, meine Damen und Herren, das alles sind gute Gründe, das Glas zu heben. Lassen Sie uns also trinken: Auf das Wohl von Präsident Niinistö , auf die Ostseeanrainer Finnland und Deutschland und auf eine gute Zukunft unserer Länder in einem freiheitlichen Europa!