Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 6. Mai 2013

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 6. Mai 2013 anlässlich einer Ordensverleihung an engagierte Frauen und Männer aus dem Bildungsbereich eine Rede gehalten: "Wenn es um das Thema "Bildung" geht, reden alle mit: Politiker und Bildungsforscher, Ökonomen, Schauspieler, Sportler, Unternehmer und Eltern und andere mehr. Und so ergibt sich ein besonders buntes und facettenreiches Meinungsbild darüber, was schief läuft im deutschen Bildungssystem und was verbessert werden muss. Und vor allem gibt es sehr viele und auch unterschiedliche Vorstellungen davon, was unser Bildungssystem zu leisten habe. Startnachteile von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern ausgleichen und für Gerechtigkeit sorgen in unserer Gesellschaft. Andererseits auch Hochbegabte fördern. Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes sichern. Mädchen unterstützen und die Jungen nicht vergessen. Dann wollen wir begeisterte MINT-Forscher haben. Und wenn wir darüber nachdenken, was Bildung immer erreichen soll, dann kommen wir auf die Werte und Haltungen, die wir einzuüben haben. Wir wollen ja Menschen ermächtigen, Bürger zu sein. Wir wollen sie urteilsfähig machen, Persönlichkeiten herausbilden und nicht nur Fachleute. Im Raum der Bildung begegnen sich also sehr viele unterschiedliche Erwartungen. Deshalb gilt es, oft so etwas wie einen Spagat zu organisieren, um den hohen Ansprüchen zu entsprechen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/05/130506-OV-Bildung.html


Wenn es um das Thema "Bildung" geht, reden alle mit: Politiker und Bildungsforscher, Ökonomen, Schauspieler, Sportler, Unternehmer und Eltern und andere mehr. Und so ergibt sich ein besonders buntes und facettenreiches Meinungsbild darüber, was schief läuft im deutschen Bildungssystem und was verbessert werden muss. Und vor allem gibt es sehr viele und auch unterschiedliche Vorstellungen davon, was unser Bildungssystem zu leisten habe.

Startnachteile von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern ausgleichen und für Gerechtigkeit sorgen in unserer Gesellschaft. Andererseits auch Hochbegabte fördern. Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes sichern. Mädchen unterstützen und die Jungen nicht vergessen. Dann wollen wir begeisterte MINT-Forscher haben. Und wenn wir darüber nachdenken, was Bildung immer erreichen soll, dann kommen wir auf die Werte und Haltungen, die wir einzuüben haben. Wir wollen ja Menschen ermächtigen, Bürger zu sein. Wir wollen sie urteilsfähig machen, Persönlichkeiten herausbilden und nicht nur Fachleute.

Im Raum der Bildung begegnen sich also sehr viele unterschiedliche Erwartungen. Deshalb gilt es, oft so etwas wie einen Spagat zu organisieren, um den hohen Ansprüchen zu entsprechen.

Wir fragen uns manchmal: Wie können wir das eigentlich alles schaffen? Und wenn wir uns nun heute in diesem Raum umsehen, dann kommen wir auf Sie, liebe Ehrengäste. Denn Sie geben uns wunderbare Beispiele dafür, wie wir auf unterschiedlichen Gebieten, die ich eben nur kurz anreißen konnte, Erfolge haben können. Und dass Erwartungen nicht nur enttäuscht, sondern auch erfüllt werden können. Manchmal erleben wir Überraschungen: Ach, das ist möglich?

Unser Problem bei diesen positiven Überraschungen ist es, dass sie sich schlechter kommunizieren lassen als negative. Wir alle leiden darunter, dass die Negativbotschaften medial ein viel größeres Interesse erzeugen. Und ich als Bundespräsident habe nun das große Glück, dass ich aus den unterschiedlichen Bereichen des Landes unglaublich viel über ehrenamtliches Engagement erfahre und Auszeichnungen verleihen darf.

Sie sind heute unter uns mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen auf unterschiedlichen Gebieten. Nehmen wir die unter Ihnen, die junge Leute für Naturwissenschaft und Technik begeistern: Was lernt man nicht alles, wenn man eine Lautsprecherbox baut! Wie anschaulich wird Physik, wenn man selbst die Gelegenheit zum Forschen bekommt! Wie spannend kann Mathe sein, wenn ein echter Nachfahre von Adam Ries vor einem steht! Und wie viel leichter findet man den Weg in die Naturwissenschaften, wenn man schon als junger Mensch die Gelegenheit bekommen hat, in einem hoch ausgestatteten Experimentallabor wirklich dabei zu sein, zuzuschauen und mitzuwirken, wenn geforscht wird.

Oder schauen wir uns den Bereich an, von dem ich kurz sprach: Chancengerechtigkeit auch für diejenigen, die nicht so gute Voraussetzungen mitbringen. Das Wort "Chancengerechtigkeit" aus der Theorie in die Praxis bringen bedeutet zum Beispiel, in seinem eigenen Betrieb zu sagen: Ich gebe auch dem einen Ausbildungsplatz, der unter normalen Umständen wohl keine Chance hätte, einen zu bekommen und zu zeigen, was in ihm steckt. Ich freue mich über die Anwesenheit eines Handwerksmeisters! Ein anderer Bereich der Chancengleichheit: so vielen Kindern wie möglich beim Deutschlernen zu helfen. Jungen Förderschülern Zugang zu kulturellen Erfahrungen zu eröffnen, die ihnen sonst verborgen bleiben würden. Schon den Kleinsten zu zeigen, wie man durchs Lesen die Welt besser verstehen kann. Oder die etwas Größeren darin unterstützen, sich besser auszudrücken und tiefer zu verstehen durch Worte oder auch durch Tanz. Und auch: mitzuhelfen, Strukturen so zu verändern, dass eben gerade die Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten oder aus sonst abgehängten Familien die Zeit fürs Lernen bekommen, die ihnen sonst fehlen würde.

Dann ein anderes Gebiet: das Thema Inklusion. Wir haben Beispiele dafür, dass es gelingen kann, zwei ganz unterschiedliche Schultypen zusammenzuführen vorher in Parallelwelten nebeneinander existierend, jetzt zueinander gebracht. Oder wie es ist, wenn Kinder mit verschiedenen Begabungen gemeinsam Musik und Theater machen.

Es sind auf den ersten Blick also ganz unterschiedliche Wege, auf denen Sie, die wir heute auszeichnen, unterwegs sind. Aber, wenn wir es genau anschauen das am Ende dieser Wege liegende Ziel ist das Gleiche: Wir wollen jedem Kind einen guten und den eigenen Fähigkeiten gemäßen Lebensweg eröffnen. Nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für unsere Gesellschaft ist dieses Ziel von unschätzbarem Wert! Gute Bildung ist für mich das Fundament einer chancengerechten Gesellschaft. Und darum feiern und ehren wir Ihr Engagement.

Ich kann mir vorstellen: Bei diesem Engagement ist nicht immer nur Freude und Lustgewinn da. Wie in der Politik muss man dicke Bretter bohren und Menschen überzeugen, die sich eigentlich nicht überzeugen lassen wollen. Das heißt, jeder, der hier sitzt, hat auch Frustrationserfahrungen hinter sich und hat trotzdem nicht nachgelassen. Auch dieses Beharrliche und Unermüdliche im Engagement ist es, das heute mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt wird. Es ist ein Orden, der den Dank der ganzen Gesellschaft ausdrückt.

Ich bin mir sicher: Wenn ich nachher mit Ihnen ins Gespräch komme ich freue mich schon jetzt darauf dann werde ich auf Menschen treffen, die überzeugend sind und hartnäckig, vor allem aber werde ich auf Menschen treffen, die junge Menschen mögen! Wir wissen es alle, die wir mit Menschen gearbeitet haben: Das ist der Schlüssel von jedwedem Erfolg. Ich werde auf Menschen treffen mit einer bestimmten Haltung. Die zu anderen sagen: "Du kannst mehr, als Du glaubst". Auf Menschen, die anderen im besten Sinne des Wortes etwas zumuten und sie damit ermutigen, selbstbewusst und dann auch eigenverantwortlich den eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Und schließlich werde ich auf Menschen treffen mit einer ganz bestimmten Haltung gegenüber Strukturen, die sie vorfinden. Da mögen andere klagen und sicher nicht immer zu Unrecht über immer mehr schwierige Kinder und wahlweise übereifrige oder abwesende Eltern, über die Unübersichtlichkeit der Reformen, über manche Auswüchse der Bildungsbürokratie oder über zu große Klassen. Sie, liebe Ehrengäste, zeigen: Die Strukturen mögen es bisweilen erschweren, aber es ist möglich, dass Bildung gelingt. Natürlich kann keiner alles alleine erreichen. Aber wie Albert Schweitzer es so treffend formulierte: "Das wenige, das du tun kannst, ist viel."

Jetzt könnten wir es dabei belassen und sagen: Prima, auf den Einzelnen, auf sein Können und auf sein Wollen kommt es an. Das hat übrigens für die Frage nach den Gelingensbedingungen von Unterricht auch die zurzeit viel diskutierte Studie des Bildungsforschers John Hattie gezeigt. Gerade weil Bildungsgeschehen immer auch Beziehungsgeschehen ist, ist die Haltung entscheidend. Das gilt übrigens für Lehrende und Lernende in gleicher Weise und schließt gerade auch die Eltern ein. Wo Eltern dieser Aufgabe nicht gewachsen sind oder sich ihr aus völlig unterschiedlichen Gründen nicht hinreichend stellen, ganz besonders dort leisten Lehrerinnen und Lehrer Enormes, um die entstandenen Defizite auszugleichen. Der Berufsstand ist immer noch nicht ausreichend gewürdigt in unserer Gesellschaft. Für dieses Engagement bin ich im Interesse der Kinder, aber auch im Interesse einer Gesellschaft, die sich zur Chancengleichheit verpflichtet hat und immer wieder neu verpflichten muss, für dieses Engagement bin ich zutiefst dankbar.

So wichtig nun das Engagement der Einzelnen ist: Ohne gute Rahmenbedingungen wird es oft ausgebremst. Darum haben wir eben auch für bestmögliche Strukturen zu sorgen und nicht nur für die Verbesserung der einzelnen Individuen. Nehmen wir ein ganz wichtiges, ein aktuelles Beispiel besser gesagt, ein ganz wichtiges Ziel, das nun rauf und runter debattiert und ausprobiert wird: Das Thema Inklusion. Das heißt im Bildungsbereich: Wir wollen, dass möglichst alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, Kompetenzen und Bedürfnissen regelmäßig gemeinsam in die Regelschule gehen.

Da kann es aber nun gerade nicht von dem guten Willen einzelner, nach Möglichkeit höchstbegabter Lehrerinnen und Lehrer abhängen. Hier muss die Gesellschaft unterstützend tätig werden. Denn, was wir wollen, ist doch, dass jedes Kind nach seinen Möglichkeiten gefördert wird und neue Möglichkeiten eröffnet bekommt! Es sollte bei dem Thema Inklusion nicht um das Durchsetzen einer Ideologie gehen, sondern um tatsächlich vorhandene bessere Möglichkeiten derer, die es schwerer haben, die Aufgaben, die das Leben stellt, zu erfüllen. Egal, ob es gehen kann oder nicht, egal, ob seine Eltern schon hunderte von Geschichten vorgelesen haben oder ob daheim kein einziges Buch steht, egal, ob es hochbegabt ist oder eher langsam im Lernen. Wir müssen Möglichkeiten suchen, die Unterschiedlichen zusammenzuführen. Inklusion heißt: anzuerkennen, dass es normal ist, gemeinsam verschieden zu sein.

Das ist eine riesige Herausforderung für die Lehrerinnen und Lehrer. Es ist eine Revolution für unser Schulsystem, wenn Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, die wir bisher in Förderschulen gefördert haben, jetzt einen anderen Bildungsweg einschlagen sollen. Es ist ein Paradigmenwechsel für unser Bild von bestmöglicher Bildung nicht Ähnliche zusammen jeweils ähnlich zu unterrichten, sondern viele gemeinsam, aber verschieden. Das kann nur gut gehen, wenn für diese Form von Unterricht Ressourcen bereitgestellt sind und nicht die Schulen mit der normalen Ausstattung Aufgaben aufgebürdet bekommen, die so lange in Förderschulen waren.

Wir sollten nicht einfach von heute auf morgen Strukturen zerbrechen, die sich bewährt haben, sondern Menschen von dem Leitmodell überzeugen: vom Zusammenkommen der Verschiedenen in einem gemeinsamen Bildungsprozess. Und dann muss man sehen, wo das wirklich gelingt oder wo wir Menschen überlasten. Die Debatte hält an, ich bin gespannt. Eins allerdings ist klar: Wir haben im Norden Europas Länder, die uns hier eine ganze Wegstrecke voraus sind. Hier können wir noch eine Menge erreichen.

Wir haben hier auch als Gesellschaft noch eine Menge zu lernen. Wir lernen dabei eben auch, Unterschiede als etwas Gutes zu betrachten und das wertzuschätzen, was jeder Einzelne an Fähigkeiten und Begabungen mitbekommt. Und gerade weil Kinder heute mit sehr unterschiedlichem Rüstzeug ins Leben starten, gerade weil unsere Gesellschaft heterogener wird, ist eine gemeinsame Schule äußerst wichtig als "Lernwerkstatt des Zusammenhalts". Das ist ein schönes Wort. Es stammt nicht von mir, ich habe es vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann übernommen.

Allerdings wünsche ich mir, dass auch die Sorgen, die ich eben an einem Beispiel angesprochen habe, nicht einfach ungehört im Raum verhallen, sondern dass wir die mit debattieren. Menschen, die zufrieden sind, mit dem, was bisher erreicht worden ist, die mögen solche Veränderungen nicht. Die haben ein ganz bestimmtes Prinzip. Es ging doch immer gut und haben wir nicht Spitzenleistungen hervorgebracht? Und sie meinen, dass das, was wir vorhaben, nicht geht. Diese Einstellung gefällt mir nur sehr wenig. Nur mein mecklenburgisches Naturell kann dem etwas abgewinnen, denn da heißt es: "Lift allen, speen oll. Es bleibt alles beim Alten". Wir sind nicht alle Menschen, die gerne aufbrechen, sich neue Ziele stellen, sondern wir sind auch Menschen, die konservativ sind und bewahren wollen, was wir an Gutem geschaffen haben. Das wollen wir auch tun. Aber jetzt wollen wir ein neues Modell, weil unsere Gesellschaft vielfältiger ist und die Vielfalt soll als Wert tiefer ins Bewusstsein der Gesellschaft eindringen. Das ist ein Anspruch und Sie im Bereich Bildung, Sie haben daran zu arbeiten.

Und damit bin ich wieder bei Ihnen, liebe Ehrengäste. Ich freue mich, dass Sie Ihre Erfahrungen nachher noch im Gespräch und draußen an den Ständen ein wenig vorstellen. Dann wünsche ich mir noch, dass der Orden, den wir Ihnen heute geben, nicht bei Ihnen im Schrank verschwindet, sondern dass Sie ihn gelegentlich auch tragen. Dass andere Leute sehen: Es ist aufgefallen, beim Staatsoberhaupt und bei den Menschen, die in dieser Republik gestalten, dass Sie sich in herausragender Weise engagiert haben. Dass Sie an einer wundervollen Aufgabe mitwirken: Wissen, Fähigkeiten und Haltung zu vermitteln, anderen Selbstbewusstsein zu vermitteln und die Verantwortung als Lebensprinzip zu ermöglichen. Damit gestalten Sie unsere Zukunft mit und dass ist das, wofür ich Ihnen heute von Herzen danke.

Die frei gehaltene Rede ist redaktionell bearbeitet wiedergegeben.