Redner(in): Johannes Rau
Datum: 1. Juli 1999

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/07/19990701_Rede.html


I. Ich danke für die guten Wünsche, die ich heute von dieser Stelle aus mit auf den Weg bekommen habe.

Ich empfinde sie ebenso als Ansporn und Ermutigung wie die große Mehrheit der vielen tausend Briefe, die mich seit dem 23. Mai erreicht haben.

Ich freue mich über das große Vertrauen, das viele in mich setzen. Das ist mir genauso ernsthafte Verpflichtung wie ich für die kommenden Jahre kritische Wegbegleitung erbitte.

Mein besonderer Dank gilt heute dem Mann, dessen Mitbewerber ich vor fünf Jahren war und dem ich heute nachfolge: Professor Dr. Roman Herzog.

Lieber Herr Herzog, fünf Jahre haben Sie unser Land in aller Welt repräsentiert. Sie haben das auf Ihre unverwechselbare Weise und mit Ihrem Temperament getan: mit klarer Sprache, direkt, ohne Schnörkel und unverblümt.

Jeder konnte spüren, was Ihnen wichtig war und auch, daß Sie sich selber nicht für am wichtigsten halten.

Dazu haben Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Selbstironie beigetragen - Eigenschaften, die deutschen Hochschullehrern, zumal der Jurisprudenz, durchaus nicht allgemein nachgesagt werden.

Was Sie zur jüngeren deutschen und europäischen Geschichte gesagt haben und daß Sie zur richtigen Zeit und am richtigen Ort auch geschwiegen haben, das hat das Vertrauen in unser Land gestärkt. Dafür danke ich Ihnen.

Vor Ihnen liegen jetzt Jahre, in denen Sie sich wieder der Wissenschaft widmen wollen.

Da darf man gespannt sein:

Welche Konsequenzen werden die praktischen Erfahrungen des Bundespräsidenten Roman Herzog für den Grundgesetz-Kommentar des Staatsrechtlers Professor Dr. Roman Herzog haben?

Sie haben zuletzt 1986 den Artikel 54 unseres Grundgesetzes kommentiert, der die Aufgaben des Bundespräsidenten beschreibt. Ob wir mit einer baldigen Neukommentierung im Lichte eigener Erfahrungen rechnen dürfen?

Herzlichen Dank sage ich auch Ihnen, liebe Frau Herzog. Ihnen ist es neben all den Aufgaben als Frau des Bundespräsidenten mit großem Einsatz gelungen, öffentliche Aufmerksamkeit zu wecken für eine Krankheit, die viele vorher nicht gekannt hatten, und dadurch vielen kranken Menschen zu helfen.

Ganz besonders grüße ich von dieser Stelle aus auch zwei meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten: Richard von Weizsäcker, dem ich seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden bin, und meinen bergischen Landsmann Walter Scheel, der in der kommenden Woche seinen achtzigsten Geburtstag feiern kann.

II. Heute in sechs Monaten schreiben wir den 1. Januar 2000. Das Jahr 2000 gewinnt in manchen öffentlichen Diskussionen einen Stellenwert, der ans Unwirkliche grenzt. Das gilt in anderer Weise auch für den Gebrauch des Begriffs Globalisierung.

Wenn von Globalisierung die Rede ist, dann klingt das manchmal wie die Verheißung eines neuen goldenen Zeitalters, manchmal aber auch, als würden alle Übel der Welt auf einen Begriff gebracht.

Beides scheint mir falsch zu sein. Die Globalisierung bietet uns Deutschen und aller Welt große Chancen - wenn wir sie recht verstehen und richtig gestalten.

Tatsächlich ist Globalisierung ja nichts anderes als die Einsicht, daß wir in unserer "einen Welt" stärker denn je voneinander abhängig sind und aufeinander angewiesen.

Kein Land kann heute mehr sicher sein, daß eigene Fehler oder Fehler anderer ohne Folgen bleiben, nur deshalb, weil es weit genug entfernt liegt, weil es wirtschaftlich leistungsfähiger, politisch einflußreicher oder militärisch stärker ist als andere.

Weil uns das, was andere tun, selber mittelbar oder unmittelbar betrifft, kann es uns heute weniger denn je gleichgültig lassen, was in der Welt geschieht.

Freilich: Nicht jedes Land hat politisch und auch nicht jedes Unternehmen hat wirtschaftlich das gleiche Gewicht.

Einige können stärker dazu beitragen, daß alle Vorteile oder Nachteile haben.

Man braucht kein Kenner der "Chaostheorie" zu sein, um zu wissen, daß kleinste Veränderungen an einer Stelle ganz unvermutete und oft große Folgen an anderer Stelle haben.

Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Bedeutung. Sie stellt an uns alle die Frage neu nach dem richtigen Verhältnis zwischen privat bestimmtem wirtschaftlichen Handeln und demokratisch bestimmtem öffentlichen Handeln. Verantwortliche Politik muß dieses Verhältnis neu ordnen und die Frage beantworten, welche öffentlichen Aufgaben regional, welche national und welche nur international erfolgreich gelöst werden können.

Dabei will, soweit ich sehe, niemand alte Schlachten schlagen. Daß der Markt als Mechanismus zur Koordination und Organisation des Wirtschaftslebens allen anderen Prinzipien überlegen ist, wird nirgendwo mehr und von niemandem mehr ernsthaft bestritten.

Ganz unterschiedliche Auffassungen gibt es aber darüber, was der Markt kann, welchen Rahmen er braucht und welche Grenzen ihm politisch gesetzt werden müssen.

Genau darum - um nicht weniger und um nicht mehr - geht der wesentliche gesellschaftspolitische Streit nicht nur bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.

Darüber streiten Wissenschaftler und Politiker, Gewerkschafter, Unternehmer und Intellektuelle in Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika genauso wie in Japan und Großbritannien.

III. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den politischen Parteien Antworten darauf, wie privates Wirtschaften und öffentliche Verantwortung in Zeiten der Globalisierung im Interesse aller in ein neues Gleichgewicht gebracht werden können.

Die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bei uns zu Hause und im Weltmaßstab gelöst werden soll, muß in ungezählten praktischen Fällen immer wieder neu beantwortet werden.

Maßstäbe dafür bieten weder die Betriebswirtschaftslehre noch die Volkswirtschaftslehre. Es kommt darauf an, welches Bild vom Menschen und welches Bild vom Zusammenleben der Menschen wir haben.

Das ist eine Frage, die jeden einzelnen angeht und die - bewußt oder unbewußt - unser Handeln prägt.

Die Politik darf dieser Frage nicht ausweichen, weder durch Flucht in weltfremde Ideologien noch durch das Verstecken hinter angeblichen Sachzwängen.

In der Politik geht es nicht um letzte Wahrheiten, sondern um richtige Lösungen. Der politische Streit sollte jeweils um die Frage gehen, welcher Vorschlag der beste ist im Interesse aller oder im Interesse der vielen.

Nur dann kann etwas von dem aufscheinen, was Hannah Arendt in die Worte gefaßt hat: "Politik ist angewandte Liebe zur Welt."

Die politisch Verantwortlichen müssen die Bürgerinnen und Bürger ernstnehmen.

Wir dürfen sie weder in Angst und Schrecken versetzen noch in falscher Sicherheit wiegen.

Sie wollen wissen, woran sie sind. Sie haben Anspruch darauf zu erfahren, was die Politik will und worin sich die politischen Parteien unterscheiden.

In der Demokratie ist es unerläßlich, daß die politischen Parteien deutlich machen:

Es gibt Wege in die Zukunft, auch ganz unterschiedliche Wege, jenseits von Beliebigkeit und Prinzipienreiterei.

In der Demokratie geht es nur in extremen Ausnahmefällen um "alles oder nichts".

Darum ist es bei aller Grundsatztreue besser, kleine Schritte wirklich zu gehen, als darüber zu klagen, daß die Menschen sich für den großen Wurf nicht begeistern können.

Das bedeutet nicht, auf weitgesteckte Ziele zu verzichten. Im Gegenteil: Weil der Weg zu einem politischen Ziel oft über viele Ecken und Umwege führt, sind Weitsicht und Vorausdenken besonders wichtig.

Stärker denn je müssen wir daran denken, welche Folgen politische Entscheidungen von heute für das Leben künftiger Generationen haben.

Es gibt einen Egoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft, den ich für nicht erlaubt halte, für den wir alle aber Beispiele kennen.

Wenn wir die Chancen der Globalisierung nutzen wollen, dann muß die Politik sie aktiv gestalten. Das gilt für die soziale und für die ökologische Dimension wirtschaftlichen Handelns genauso wie für die Gestaltung des technischen Fortschritts.

Diesen Rahmen kann am besten eine demokratische und soziale Rechtsordnung setzen, die über den Nationalstaat hinausreicht. Wir müssen die politischen Konsequenzen aus der wirtschaftlichen Globalisierung ziehen.

IV. Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt es, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist in erster Linie Aufgabe von Unternehmen.

Die Politik muß den richtigen Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben - für Angebot und Nachfrage.

Neue Arbeitsplätze entstehen nicht auf Knopfdruck, und es gibt für sie kein Patentrezept. Wir brauchen ein Bündel von Initiativen, damit alle, die arbeiten können, ihren Lebensunterhalt auch tatsächlich selber erarbeiten können.

Wir brauchen mehr Gründungen, mehr Spitzentechnik, mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Wir brauchen intelligente Arbeitszeitregeln, die auch längere Betriebszeiten mit kürzeren Arbeitszeiten verbinden.

Wir brauchen geringere Lohnnebenkosten und weniger Überstunden.

Keine Diskussion um das "Ende der Arbeitsgesellschaft" darf und kann verdecken, daß es für die allermeisten Menschen - aus finanziellen, aber auch aus sozialen Gründen - keine Alternative zur Erwerbsarbeit gibt.

Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, wie wir die Arbeit so organisieren und so fortentwickeln, daß die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirtschaftens in Übereinstimmung kommen. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar einen Wert.

In ihr - und das gibt ihr einen weiteren Wert - entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum hat Hans Küng recht, wenn er sagt: "Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verloren." Darum ist es alles andere als eine akademische Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbstwertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Arbeit nur und bloß einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis so weit wie möglich gedrückt werden muß - so wichtig der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozeß auch ist - , der hantiert mit sozialem Sprengstoff, der rüttelt an den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation - ob ihm das bewußt ist oder nicht.

Es mag sein, daß wir auf lange Sicht eine neue Einstellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinkender Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit finden für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtliches Wirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städte und die Bewahrung und Förderung von Kultur und Kunst, mehr Zeit auch für Eigenarbeit.

Das wäre auch eine Gesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalt haben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft, in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höheren Stellenwert hätten.

Wer mich kennt, weiß, daß ich dabei auch an die sinnstiftende Arbeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften denke.

V. Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach dem Fall der Mauer sind wir noch immer auf der Suche nach einer neuen Ordnung, in Europa und weltweit.

Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr, die sich feindlich gegenüberstanden. Wir haben aber noch nicht die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung schaffen können, die notwendig wäre, damit Krieg jedenfalls in Europa kein Mittel der Politik mehr ist.

Von einer neuen Weltfriedensordnung, die das Leitbild der globalen nachhaltigen Entwicklung aufnimmt, sind wir noch weit entfernt.

Vor vierzehn Wochen begann in Jugoslawien, was kaum jemand am Ende dieses Jahrhunderts noch für möglich und nötig gehalten hatte. Die NATO setzte zum ersten Mal seit ihrer Gründung vor fünfzig Jahren militärische Mittel in Europa ein, die Bundeswehr nahm an den Kampfeinsätzen teil. Seit zwei Wochen schweigen die Waffen. Deutsche Soldaten wurden im Kosovo als Befreier begrüßt.

Ich bin froh darüber, daß die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, die ich am 23. Mai geäußert hatte, in Erfüllung gegangen ist und daß es jetzt um dauerhafte Stabilität in Südosteuropa geht. Jetzt wird sich zeigen, daß der Friede der Ernstfall ist.

Über die rechtlichen, politischen, militärischen und moralischen Maßstäbe für die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am Militäreinsatz gegen Serbien gab es eine ungewöhnlich ernsthafte Diskussion, in der dem jeweils Andersdenkenden weder Moral noch Vernunft bestritten worden sind.

Ich gehöre zu denen, die mit zerrissenem Herzen gesagt haben: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn mitten in Europa Terror und Vertreibung Platz greifen. In einem solchen extremen Ausnahmefall ist auch der Einsatz militärischer Gewalt gerechtfertigt.

Das ist eine außergewöhnliche Belastung für die betroffenen Soldaten und für die politische und militärische Führung. Wie diese Verantwortung wahrgenommen wurde und wird, das hat das Ansehen unseres Landes in der Welt gemehrt.

Ich grüße die deutschen Soldaten und die Angehörigen der Hilfsorganisationen, die jetzt im Kosovo dafür arbeiten, daß Menschenwürde und Menschenrecht überall und für alle gelten, für Kosovaren und Serben, für Christen und Muslime.

Was können und was müssen wir für die künftige Politik lernen aus der heutigen Situation im ehemaligen Jugoslawien?

Für mich lautet die wichtigste Lehre:

Wir müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternative zu vermeiden suchen,

daß wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen oder

daß wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft.

Eine solche Politik für das friedliche Zusammenleben der Menschen in ganz Europa muß

Ich habe am 23. Mai an das Wort von Willy Brandt erinnert, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen.

Wer hätte 1969 gedacht, daß wir uns heute darüber freuen können, mit allen unseren Nachbarn in einem Zustand zu leben, wie er meinen Vorstellungen von wirklicher Nachbarschaft entspricht!

Diese Entwicklung ist wahrlich nicht allein deutsches Verdienst. Wir haben allen Grund, vielen dafür zu danken.

Wir tun das am besten dadurch, daß wir weiter eine treibende Kraft im europäischen Einigungsprozeß sind.

Gute Nachbarschaft, das ist heute europäische Innenpolitik. Gute Nachbarschaft brauchen wir aber auch im eigenen Land zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft oder unterschiedlicher kultureller Traditionen und Glaubensüberzeugungen. Toleranz, meine Damen und Herren, ist kein Schwächeanfall der Demokratie, sondern ihr Lebensinhalt.

VI. Mein Vorgänger hat dazu beigetragen, daß die Bildungspolitik wieder zu einem Thema geworden ist. Ich will das aufnehmen, und ich kann dabei an vieles anknüpfen aus meiner früheren Arbeit.

In der bildungspolitischen Diskussion geht es um ganz unterschiedliche Themen:

All das ist wichtig, und ich verstehe gut, mit welchem Engagement darüber diskutiert und gestritten wird.

Über all diesen wichtigen Fragen von Organisation und materiellen Ressourcen sollten wir aber das Wesentliche nicht aus dem Blick verlieren.

Was sollen unsere Kinder lernen? Wie können wir die jungen Menschen heute am besten darauf vorbereiten und dazu befähigen, die Welt von morgen mitzugestalten und sich in ihr zurechtzufinden?

Welches Wissen brauchen sie?

Welche Fertigkeiten müssen sie beherrschen?

Welche Einsichten und welche Orientierungsmaßstäbe brauchen sie für ein erfülltes Leben?

Das sind Fragen, die noch zu selten gestellt werden, vielleicht auch deshalb, weil sie schwer zu beantworten sind.

Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aussehen wird. Wir wissen nur, daß vieles ganz anders sein wird als heute. Wir wissen aber nicht, was die Welt von morgen den Menschen abverlangen wird.

Manche glauben, es seien vor allem technische und naturwissenschaftliche Kenntnisse.

Dafür gibt es gute Argumente.

Andere fordern statt dessen eine Renaissance der Geisteswissenschaften und der Sozialwissenschaften.

Sie weisen darauf hin - und ich glaube, daß sie damit Recht haben - , daß Bildung etwas anderes ist als Fachwissen allein und daß Informationen allein noch nicht Einsicht vermitteln.

Wenn das richtig ist, dann sollten wir mehr über die Ziele sprechen, die wir in unseren Schulen erreichen wollen, und erst danach über die Instrumente, die dafür am besten geeignet sind.

Wir sollten an dem Konsens festhalten oder ihn neu begründen, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik Deutschland nur dann im Interesse aller erfolgreich sein kann, wenn wir in die Bildung, in die Ausbildung und Qualifikation der Menschen investieren.

Investitionen in die Köpfe bringen dann die höchsten Erträge, wenn nicht auf kurze Sicht gerechnet und nicht nur auf bestimmte Segmente gesetzt wird.

So wie vor zwanzig Jahren niemand in der Lage war, den genauen Bedarf an Ingenieuren oder Softwareentwicklern im Jahr 1998 vorauszusagen, so wenig ist es heute möglich, vergleichbare Prognosen für das Jahr 2010 zu machen.

Wir wissen nur eines: Die intellektuellen Anforderungen, die fachlichen und die überfachlichen, werden nicht geringer werden, sondern weiter zunehmen.

Auf diese absehbaren Veränderungen müssen wir die jungen Menschen von heute in unseren Schulen vorbereiten.

Bildung und Wissen ist aber mehr als Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Wissen läßt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit. Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, hat einmal zu Recht gefragt, was uns denn Wissensriesen hülfen, wenn sie die Gemüter von Zwergen hätten.

VII. Je schnellebiger die Zeiten, um so wichtiger werden Orientierung und die Fähigkeit zu unterscheiden zwischen dem, was früher war und heute überholt ist, und dem, was heute wie gestern gilt, weil es zeitlos ist.

Wenn wir Werte und Tugenden einklagen oder den Mangel an Werten und Tugenden beklagen, dann leiden solche Diskussionen nach meiner Erfahrung häufig an zu hoher Abstraktion. Wo es um Prinzipien oder um noch Höheres geht, neigen wir dazu zu vergessen, wie wir leben, was uns prägt, was uns ermutigt oder entmutigt.

Eine Gesellschaft, in der es chic ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts den Wert, macht in Wirklichkeit Verluste.

Erhobene Zeigefinger und Moralpredigten können fehlende Vorbilder nicht ersetzen. Wenn wir unser Zusammenleben so gestalten, daß die Ehrlichen den Eindruck bekommen, die Dummen zu sein, dann ist es müßig, den Werteverlust auf Akademieveranstaltungen zu beklagen.

Wir sollten auch nicht von Werteverlust sprechen, wenn nicht Werte verloren gehen, sondern wenn sich nur die für uns gewohnte Form ändert, wie sie gelebt werden.

Wir sollten das, was gesellschaftlich zu ordnen und zu regeln ist, so ordnen und regeln, daß wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fördern. Eine Gesellschaft, in der alle nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgen, mag auf Sicht erfolgreich sein, aber überlebensfähig ist sie nicht.

Eine Gesellschaft ist ja etwas anderes als die zufällige Ansammlung von Individuen, die ihrer Wege gehen. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität - das sind Haltungen und Verhaltensweisen, die das Fundament jeder Gesellschaft sind und kein schmückendes Beiwerk.

Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität sind nicht käuflich, sondern unbezahlbar und weder durch Gesetz noch durch Verordnung zu erzwingen. Sie müssen praktisch gelebt werden.

Das soll niemanden hindern an Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Lebensweg einer wachsenden Zahl von Menschen in unserem Land nicht mehr vom stummen Zwang der Verhältnisse bestimmt worden. Sie konnten die Chance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist ein großer Fortschritt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit ist etwas ganz anderes als eine Ego-Gesellschaft, die in die Selbstisolierung führt.

Die Menschen wollen etwas leisten, und die Gesellschaft sollte Leistungen fordern und fördern. Aber man darf Menschen nicht überfordern.

Das gilt in besonderer Weise für alle, die aus unterschiedlichen Gründen nichts, noch nichts, nur wenig oder nichts mehr leisten können. Kinder und Alte gehören ebenso dazu wie geistig und körperlich behinderte Menschen.

Wenn wir von Leistung sprechen, sollten wir auch die nicht vergessen, die oft ganz viel leisten, deren Leistung aber in keiner Bilanz erscheint und nicht in den Größen des Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt werden kann.

Jede Gesellschaft braucht möglichst viele, die leistungsfähig und leistungswillig sind. Jede Gesellschaft braucht auch besondere Leistungsträger. Wenn wir der Vielfalt der tatsächlichen Leistungen gerecht werden wollen, brauchen wir einen breit angelegten Leistungsbegriff.

Dann wird deutlich:

Erfolgreiche Existenzgründer sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie ehrenamtliche Jugendtrainer.

Chefärzte sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie Krankenschwestern.

Innovative Forscher sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie engagierte Betriebsräte.

Künstler und Schriftsteller, die unseren Blick schärfen und unseren Horizont erweitern, sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie Wissenschaftler, die unsere medizinischen und technischen Möglichkeiten erweitern.

VIII. Manche von Ihnen werden wissen, daß ich als junger Mensch Anfang der fünfziger Jahre in die Politik gegangen bin, weil ich mich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollte. Gemeinsam mit Gustav Heinemann und Helene Wessel, mit Diether Posser, Erhard Eppler und vielen anderen war ich damals in der Gesamtdeutschen Volkspartei.

Dieses Thema hat mich mein ganzes Leben lang nicht losgelassen und mich weit über die politischen Aufgaben hinaus begleitet.

Ich habe es darum als besonderes Glück empfunden, daß ich an dem Tag, als die Mauer fiel, am 9. November 1989, in Berlin und in Leipzig war.

Ich habe am Abend des 9. November und in den beiden Tagen danach ganz unmittelbar miterleben können: Das ungläubige Staunen, die unbeschreibliche Freude der Menschen über die neu gewonnene Freiheit, für die viele von ihnen, Woche für Woche, auf die Straße gegangen waren.

Nach meiner Erfahrung tut es auch der Politik gut, wenn wir Verantwortlichen das Staunen nicht verlernen.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich ungeheuer viel verändert. Die Menschen in Brandenburg und in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern haben Grund, stolz zu sein auf große Erfolge beim Aufbau.

Nicht jedes offenkundige Defizit und nicht jeder Mangel, nicht jedes große Problem, vor dem wir immer noch stehen, kann man als fehlende innere Einheit im vereinten Deutschland bezeichnen.

Das ist ein Begriff, der zu Mißverständnissen verleiten kann.

Unsere Aufgabe ist es nicht, daß die sechzehn Länder der Bundesrepublik Deutschland sich möglichst schnell möglichst ähnlich werden. Sie sollen sich nicht nach einer zentral vorgegebenen Norm entwickeln.

Wir sollten vielmehr den Föderalismus lebendig erhalten und weiter stärken, weil aus der Vielfalt eine Stärke erwächst, von der alle Länder profitieren können.

Worum es geht, das sind gleiche Lebenschancen für alle Frauen und Männer - unabhängig davon, ob sie im Norden oder Süden, im Westen oder Osten Deutschlands aufwachsen und leben.

In unserer modernen Gesellschaft sind gleiche Lebenschancen für alle der Kern der Freiheitsfrage.

Die kulturellen, die landsmannschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern sollen bleiben, weil die Vielfalt uns reicher macht; aber die in vierzig Jahren gewachsenen Nachteile der neuen Länder müssen ausgeglichen und überwunden werden.

Wir brauchen im vereinten Deutschland genauso wie im europäischen Einigungsprozeß die Vielfalt in der Einheit. Aber nicht alle Unterschiede, die in vierzig Jahren gewachsen sind, sind Beispiele für wünschenswerte Vielfalt.

Dabei sollten wir auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht vergessen, daß die Deutschen in der DDR ohne eigenes Verschulden die weitaus schwerere Last und die schwereren Lasten aus der deutschen Geschichte zu tragen hatten.

Sie waren nicht dümmer und nicht fauler als die Deutschen im Westen, aber unter den gegebenen Bedingungen konnten ihre Leistungsfähigkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht die gleichen Früchte tragen.

IX. Vor wenigen Wochen haben wir an den 50. Jahrestag unseres Grundgesetzes erinnert.

Wir sagen zu Recht, daß es die beste Verfassung ist, die die Deutschen sich je gegeben haben. Das gilt aber nur, wenn wir dies Grundgesetz jeden Tag neu mit Leben erfüllen.

Es ist Wegweiser und Maßstab für das politische Handeln aller.

In den vergangenen Jahren sind wichtige Teile des Grundgesetzes verändert worden, weil sich die gesellschaftliche Wirklichkeit geändert hatte. Vielen sind diese Änderungen schwer gefallen und manchen sind sie zu weit gegangen.

Um so weniger dürfen wir vergessen, daß es viele Felder gibt, in denen wir die Wirklichkeit noch entschlossener verändern müssen, damit sie sich dem annähert, was wir im Grundgesetz als unsere Ziele festgeschrieben haben:

Die tatsächliche gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern gehört genauso dazu wie der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen und auch der Auftrag, unsere Gesellschaft als soziale Demokratie zu gestalten.

Gustav Heinemann hat immer noch Recht, daß das Grundgesetz ein großes Angebot und keine Fessel ist.

Ich wünsche mir, daß wir Deutsche unsere Zukunft in Europa und in der einen Welt gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern zuversichtlich und mutig gestalten - nicht kleinmütig und auch nicht übermütig.

Das wird gelingen, wenn wir Selbstvertrauen und Verantwortung zusammenbringen, und wenn alle die eigenen Chancen so nutzen, daß auch das allgemeine Wohl gemehrt wird.

Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenten eine doppelte Aufgabe:

Er muß für die Deutschen sprechen, und er muß Minderheiten zur Sprache verhelfen.

Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun.

Jeder soll wissen, daß ich Zuversicht und Kraft aus dem christlichen Glauben schöpfe und daß ich Respekt vor allen habe, die ihr Leben auf andere Fundamente gründen.

Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt.

Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissen sind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt.

Ich will zur Öffentlichkeit verhelfen, was in die gesellschaftliche Debatte gehört.

Ich will alle ermutigen, in Betrieben und Verwaltungen, in Hochschulen und Parteien, in Akademien und Bürgerinitiativen, in den Medien und in den Verbänden, die an der Zukunft unseres Landes arbeiten.

Jeder hat seine besonderen Fähigkeiten und Gaben in das Amt einzubringen versucht und doch waren sie Repräsentanten des ganzen Deutschland.

Jeder meiner Vorgänger hat in seiner Zeit dem Amt des Bundespräsidenten eine eigene Prägung gegeben.

Das war so bei Theodor Heuss und bei Heinrich Lübke, bei Gustav Heinemann und bei Walter Scheel, bei Karl Carstens, bei Richard von Weizsäcker und bei Ihnen, lieber Herr Bundespräsident Herzog.

X.