Redner(in): Johannes Rau
Datum: 23. Juli 1999

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/07/19990723_Rede.html


Vor wenigen Wochen, vom 18. bis 20. Juni, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der G- 7- bzw. G-8 -Staaten in Köln. Damals hat wahrscheinlich niemand daran gedacht, daß das wohl erste europäische Gipfeltreffen 1200 Jahre früher stattgefunden hat, ebenfalls im heutigen Deutschland, nicht am Rhein, aber im heutigen Nordrhein-Westfalen, hier in Paderborn.

Das Treffen zwischen Karl, den man später den "Grossen" nannte, und Papst Leo III. war ein veritabler G-2 Gipfel. Denn es waren die beiden westlichen Großmächte, die weltliche und die geistliche, die sich im Jahr 799 hier trafen. Von diesem Paderborner Gipfel ging aus, was man nur von wenigen Gipfeln sagen kann, tatsächlich eine neue Epoche der Weltgeschichte.

II. Im Karlsepos, das kurz nach 800 entstanden ist, heißt es über die Zusammenkunft in der Paderborner Pfalz: Der König, der Vater Europas, und Leo, der oberste Hirte auf Erden, sind zusammengekommen und führen Gespräche über mancherlei Dinge."

Was für ein Satz! Es lohnt, ihn näher anzuschauen, nicht nur weil er herrlich zwischen Überhöhung und Untertreibung wechselt, sondern auch, weil jeder Satzteil etwas über die historische Bedeutung des Ereignisses sagt. In einem einzigen Satz wird hier zusammengefaßt, wofür man heute viele Leitartikel schreiben und Brennpunkte senden würde. Der König, der Vater Europas ": Der unbekannte Autor des Epos nennt Karl nicht nurpater europae, er gibt ihm immer wieder ähnlich klingende Auszeichnungen mit, wie zum Beispiel" der verehrungswürdige Leuchtturm Europas " ( Europae veneranda pharus ) .

Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Begriff Europa, obwohl seit der Antike bekannt, damals nur ganz selten gebraucht wurde.

Es scheint, als ob es in der Karolingerzeit, wenigstens für eine kurze Spanne, eine Vorstellung von Europa in den Köpfen zumindest der Gelehrten gegeben habe. Sie wird später nie mehr ganz verschwinden, aber Karl blieb der einzige mittelalterliche Herrscher, dem die Zeitgenossen den Titel "Vater Europas" zusprachen.

Wenn das Reich Karls militärisch und politisch auch nicht lange Bestand hatte, so hatte doch das, was er und seine Berater, Gelehrten, Künstler und Missionare in der sogenannten karolingischen Renaissance auf den Weg brachten, weitreichende und tiefgreifende Folgen. Die Erneuerung von Bildung und Spiritualität, von Baukunst und Verwaltung, der intellektuelle Austausch zwischen den europäischen Völkern: all das begann hier.

Was Karl in einem Satz als die Aufgaben des Staatslenkers zusammenfaßt, gilt noch heute: "Irriges bessern, Unnützes beseitigen und Richtiges bekräftigen" ( in derAdmonitio generalisvon 789 ) .

III. Jean Monnet, der große Europäer, hat über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, später einmal gesagt: Wenn ich es noch einmal zu machen hätte, würde ich mit der Kultur beginnen ".

Karl hatte genau das getan. Zwar nicht nur - er war schließlich auch Kriegsherr, Eroberer und harter Verwaltungschef - aber mit besonderer Kraft und Weitsicht.

Die einflußreichsten Impulse gab er im Bereich der Kultur. Es gelang ihm, erstrangige Gelehrte für seine Sache, für sein Erneuerungsprojekt zu interessieren. So wurde der Hof nicht nur Verwaltungszentrale, sondern der zentrale Denk- und Diskussionsplatz des Reiches. Heute sprächen wir von einer internationalen Akademie mit fellows aus vielen Ländern: Angelsachsen, Langobarden, Iren, Westgoten und natürlich Franken.

Der wissenschaftliche und der literarische Austausch dienten aber nicht nur der Erbauung der Teilnehmer. Karls Interesse war es, die Erkenntnisse und Einsichten praktisch fruchtbar zu machen. Einige Beispiele dafür: Bücher wurden in Auftrag gegeben, liturgische und pädagogische Reformprogramme beschlossen, kirchliche und höfische Bauvorhaben geplant und überwacht. Es handelte sich um ein umfassendes, reichsweites kulturelles Reformprojekt, das ohne Beispiel war und an dem sich die besten Köpfe beteiligten.

IV. Nun aber zurück zu dem zitierten Satz aus dem Karlsepos. Der zweite Gipfel-Teilnehmer wird vorgestellt als "Leo, der oberste Hirte auf Erden". Es liegt hier eine subtile Differenzierung vor, die den noch größeren Einflußraum des Papstes beschreibt.

Karl, der Vater Europas, trifft Leo, das Haupt des Erdkreises.

Gewiss war das Papsttum immer wieder angegriffen worden, weltlich und geistlich. Gewiss hatte es immer mit dem Anspruch von Byzanz zu kämpfen. Und gewiss suchte Leo gerade deshalb Schutz und Unterstützung durch Karl. Trotz aller politischen Schwierigkeiten war dieIdeeder globalen geistlichen Verantwortung des römischen Bischofs aber ungebrochen lebendig.

Diese Idee, im Papstamt verkörpert, brauchte Karl für den Bau seines Reiches. Er hatte, darüber sind sich die Historiker heute wohl einig, die tiefe Überzeugung, daß eine Herrschaft eine Idee braucht, die über sie selber hinausweist. Das Christentum machte in Europa so etwas wie ein innerlich angenommenes, Stämme übergreifendes Reich erst möglich. Die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott half Stück für Stück den Gentilismus, das Clan- und Stammesdenken zu überwinden.

Die Personalität des Menschen und die individuelle Verantwortung jedes einzelnen vor Gott waren die geistigen Wurzeln für die Entwicklung des europäischen Individuums, für das immer neu auszutarierende, aber fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen, zwischen Selbstentfaltung und Gemeinwohl.

Schließlich wurden auch die Wurzeln gelegt für ein Verhältnis von Kirche und Staat, das andere Religionen so nicht kennen: das Christentum erkennt einen von ihm unterschiedenen Staat, der die öffentliche Ordnung aufrechterhält, nicht nur an - es setzt ihn sogar voraus. Damit sind hier, auch wenn es wegen der großen Nähe von Kaisertum und Papsttum noch nicht sichtbar wird, die geistigen Grundlagen für einen Staat geschaffen, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen leben können.

Der Abstand von 1200 Jahren verbietet es, direkte Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Ich glaube aber, daß die Ausstellung, mit der dieses Ereignis hier in Paderborn gewürdigt wird, zeigt, wie fruchtbar das Verhältnis von geistlicher Kraft und politischer Macht gestaltet sein kann, welche staunenerregenden kulturellen und zivilisatorischen Leistungen hier erbracht worden sind.

Wenn wir heute daran gehen, ein einiges Europa zu schaffen, dann gründen wir diesen Bau, ob uns das bewußt ist oder nicht, immer noch auf dem Fundament, das Karl und Leo, das die Gelehrten und Missionare, die Beamten und Künstler der damaligen Zeit gelegt haben.

Es war ein langer Zivilisationsprozeß, der nicht zuletzt damit begann, daß die Vertreter so unterschiedlicher Völker wie der Angelsachsen und der Franken, der Langobarden und der Westgoten regelrecht dafür trainierten, daß sie einander verstehen und über allen Unterschieden das Gemeinsame finden konnten. So beschreibt es der spätere Abt Liudger von Werden im Bericht über seine "international" geprägte Studienzeit. Mit der Bereitschaft und dem praktischen Versuch, andere Menschen und andere Kulturen zu verstehen, beginnt jeder interkulturelle Dialog - und den brauchen wir in unserer Gesellschaft, die von mehr als einer Kultur geprägt wird.

VI. Karl und Leo, so haben wir gehört,"trafen sich und sprachen über mancherlei Dinge".

Wenn heute bei einem Gipfeltreffen die Pressemitteilung so knapp ausfiele, nährte das den Verdacht, daß überhaupt nichts herausgekommen sei.

Sie sehen daran: es sind nicht die großen Worte über ein Ereignis, die etwas über seine Bedeutung sagen. Entscheidend ist nicht der Wirbel, den es um ein Gespräch gibt. Entscheidend ist, daß man klare Ziele hat, daß die Gesprächspartner vertragsfähig sind und daß das, was besprochen und vereinbart ist, auch tatsächlich gemacht wird.

Dann gelingt mitunter auch das, was sich so einfach anhört und doch so schwer zu machen ist: "Irriges bessern, Unnützes beseitigen und Richtiges bekräftigen".