Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 6. Juli 2013

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/07/130706-Finnland-Turku.html


Rede von Bundespräsident Joachim Gauck während seines Offiziellen Besuchs der Republik Finnland bei einem Mittagessen auf Einladung des Stadtrats von Turku:

In historischen Mauern über Gegenwart und Zukunft sprechen: Dieser Programmpunkt hat einen besonderen Charme. Fast glaube ich, unsere Gastgeber haben den Besuch unter ein heimliches Motto gestellt: Finnland von seinen schönsten Seiten erleben. Jedenfalls haben Sie es Daniela Schadt und mir sehr leicht gemacht, unterschiedliche Regionen Ihres Landes kennen und lieben zu lernen mit musikalischem Hochgenuss in der Oper, mit einer zauberhaften Sommerresidenz und nun mit diesem Mittagessen in der ehemaligen Hauptstadt. Ganz herzliches Dankeschön!

Als ich die Geschichte der Burg Turku gehört habe, dachte ich: Diese Anlage ist so widerstands- und wandlungsfähig wie Finnland insgesamt. Wenn auch die Zeiten stürmisch und die Machtverhältnisse schwierig waren, so haben die Finnen doch immer wieder bewiesen, dass sie eine bestimmte Gratwanderung sehr gut meistern: den eigenen Werten treu zu bleiben und zugleich offen zu sein für Veränderung. Das galt schon für den Reformator Michael Agricola. Das galt später für so manche Frauen und Männer, die in Zeiten des Kalten Krieges zwischen Sozialstaat und Marktwirtschaft keinen unüberwindlichen Gegensatz sahen. Und das gilt auch heute, wo Finnland zu den Stabilitätsankern Europas bei allem Wandel und allen Wetterlagen gehört.

Ein Stabilitätsanker scheint mir ein passendes Bild hier im Ostseeraum. Als Rostocker erfüllt es mich mit großer Dankbarkeit, das Wiederaufleben alter Beziehungen und Stärken in einem ungeteilten Nordeuropa zu beobachten. Lassen Sie uns alles daran setzen, diesen Prozess voranzutreiben! Vor einigen Tagen hat Finnland von Russland den Vorsitz im Ostseerat übernommen. Die Stadt Turku ist bestens auf diese Aufgabe vorbereitet. Möge die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit der Ostseeanrainer dank dieser Entschlossenheit bald noch breiter und tiefer werden.

Es gibt noch etwas, das wir Deutschen an Finnland besonders schätzen: das große Engagement für die Europäische Union. Ich glaube, dass unsere beiden Länder ein ähnliches Verständnis von europäischer Politik verbindet. Darüber haben wir heute ausführlich gesprochen. Wir beweisen Solidarität mit denjenigen Mitgliedstaaten, die sich in Schwierigkeiten befinden. Wir schauen bei drängenden Problemen etwa der erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit nicht weg. Zugleich sind wir uns einig, dass wesentliche Probleme nur von diesen Ländern selbst gelöst werden können. Vor allem sind Reformen nötig, um die Ökonomien in Europa zu stärken und allen Bürgerinnen und Bürgern gute Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Ganze Generationen zur Passivität zu verdammen das kann sich Europa nicht leisten. Dabei wissen wir: Verbesserung zum Besseren ist möglich! Finnen und Deutsche mussten vergleichbare Situationen schon selber bewältigen: Finnland in seiner schweren Wirtschaftskrise Anfang der 90er Jahre und Deutschland im vergangenen Jahrzehnt, als es sogar als "kranker Mann Europas" galt. Die nötigen Veränderungen waren gesellschaftlich umstritten, die Kompromisse teilweise schmerzhaft, aber sie waren unverzichtbar, um das Tal der Krise zu verlassen. Ich wünsche mir, dass wir über solche Erfahrungen viel öfter in Europa sprechen.

Außerdem wünsche ich mir weitere Anstrengungen, um die demokratische Legitimation der Europäischen Union zu stärken. Ein Europa der Bürger bedeutet weit mehr als ein juristisches oder institutionelles Konstrukt. Die Menschen müssen das Projekt "Europa" als ihr eigenes empfinden, sich nicht nur als Betroffene, sondern als Zuständige und als Gestalter erleben. Die Identifikation mit der großartigen Idee des vereinten Europa braucht eine Revitalisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ein gemeinsames Gründungsmotiv, das uns lange bewegt hat, den Frieden. Später gab es ein Erweiterungsmotiv, das zunächst in Südeuropa und dann in Ost- und Mitteleuropa nicht nur vom Wohlstandsversprechen geprägt wurde, sondern auch ein klares Bekenntnis zum freiheitlich-demokratischen Wertekanon war. Heute vor allem für die junge Generation ist Europa selbstverständlicher Alltag geworden, nichts, das lange ersehnt, erkämpft oder mühsam erarbeitet werden musste. Eine wunderbare Voraussetzung! Allerdings auch eine Gefahr, denn das Alltägliche verleitet zur bequemen Konsumentenhaltung, bisweilen zum Verdruss. Für die Politik heißt das: Wir dürfen nicht müde werden, dass Gemeinschaftsprinzip in Europa immer wieder als kostbare Errungenschaft hervorzuheben, so wie jede einzelne europäische Freundschaft kostbar für uns ist.

Diese Überzeugungsarbeit gelingt selten durch schöne Reden, eher durch gezielte Taten. Zum Beispiel, wenn ein Abenteuerspielplatz in Turku eine deutsch-finnische Brücke der Freundschaft erhält und schon Zehnjährige ein Gefühl dafür entwickeln können, dass uns etwas verbindet. Daniela Schadt hat der symbolische Spatenstich heute sehr gefallen, wie ich gehört habe, und wir brauchen solche Erlebnisse. Europa ist jeden kleinen und manchen großen Brückenschlag wert!

Lassen Sie uns in diesem Sinne das Glas erheben: auf das Wohl von Staatspräsident Niinistö und seiner Frau, auf das Wohl des Stadtratsvorsitzenden von Turku, auf die Ostseeanrainer Finnland und Deutschland, und auf eine gute Zukunft unserer Länder in einem freiheitlichen Europa!