Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 26. Juli 2013

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 26. Juli bei der Eröffnung der Ausstellung "Credo Christianisierung Europas im Mittelalter" eine Rede gehalten: "Wenn wir uns mit dem Mittelalter beschäftigen, schauen wir durchaus in einen fernen Spiegel, wie es die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman einst so treffend genannt hat. Was wir sehen, mag uns erstaunen oder auch erschrecken, erfreuen oder ärgern: Wir sehen ein Stück von uns selbst, wir sehen, ob wir wollen oder nicht, wie wir wurden, was wir sind."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/07/130726-Ausstellungseroeffnung-Credo-Paderborn.html


So sehr wir sie auch oft wieder herbeiträumen oder sie uns wünschen, so sehr wir sie uns auch gerne in Büchern oder Filmen widerspiegeln lassen, eigentlich wissen wir es alle: Es gibt sie gar nicht die "gute alte Zeit". Wie nah oder wie fern wir auch immer in die Vergangenheit schauen: Die Redewendung "Früher war alles besser" erweist sich, auch wenn wir nur halbgenau hinschauen, immer als eine Täuschung.

Früher war auf keinen Fall alles besser und die gute alte Zeit hat es nie gegeben. Das ist eine ernüchternde Erkenntnis historischer Forschung und historischen Wissens und diese Erkenntnis wird auch in Paderborn nicht anders sein, wenn wir die Exponate und die damit verbundenen Forschungen und Entdeckungen zur Kenntnis nehmen und uns auch durchaus von ihnen überraschen lassen. Die Geschichte hält keinen Zufluchtsraum für rückwärtsgewandte Träumereien bereit.

Aber auch das Umgekehrte gilt. Es war früher auch keineswegs alles schlechter. Es ist ja verwunderlich, dass das Wort "mittelalterlich", das immerhin einen historischen Abschnitt von gut eintausend Jahren benennt, bei uns immer irgendwie negativ besetzt ist. Wenn wir etwas "mittelalterlich" nennen, dann meinen wir damit oft finster, rückständig, unaufgeklärt, borniert, gewalttätig, kriegerisch oder denken an unzivilisierte und in vieler Hinsicht rauere Sitten.

Dass das alles so nicht stimmt, dass das Mittelalter vielmehr auch von großer Gelehrsamkeit, von hoher Empfindsamkeit, von vornehmer Gesinnung und Gesittung, von leidenschaftlichem und friedlichem Disput, von erstaunlicher Weltläufigkeit, von Welterfahrung und herausragender Kunst und Wissenschaft geprägt war, das könnte sich nach so viel neueren Publikationen und Ausstellungen eigentlich herumgesprochen haben. Nicht zuletzt übrigens, weil Sie hier daran mitgewirkt haben. Mit den beiden großen, schon erwähnten, Ausstellungen hier in Paderborn: über Karl den Großen und über die Ereignisse von Canossa.

Das Mittelalter, das europäische, das christliche Mittelalter, ist nun also zum dritten Mal Gegenstand einer großen Ausstellung hier in Paderborn und auch diese Ausstellung wird gewiss wieder ein großer Publikumserfolg werden.

Und das ist auch richtig so. Denn einer der größten Irrtümer über das Mittelalter kann auf diese Weise korrigiert werden, der Irrtum nämlich, wir hätten das Mittelalter hinter uns gelassen, es sei eine abgeschlossene Epoche der Geschichte, die nur von sozusagen musealem Interesse sei.

Wenn wir uns nämlich mit dem europäischen, dem christlichen Mittelalter beschäftigen, erfahren wir sehr viel über uns selbst, über unsere Herkunft, über unsere Wurzeln, über Prägungen und Formungen, die bis heute wirkmächtig sind.

Unsere Art zu lehren und zu lernen ist einst von den Klosterschulen der Benediktiner und von den Kathedralschulen und frühen Universitäten eingeführt worden. Unsere Art und Weise, über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, von Kirche und Staat nachzudenken, ist von Canossa tief geprägt. Den persönlichen Glauben verstehen wir seit der spätmittelalterlichen "devotio moderna" und seit Martin Luther als Gewissensentscheidung und als Sache des Einzelnen vor seinem Gott.

Das Mittelalter bietet Anschauungsunterricht für gesellschaftliche Konflikte und deren Lösungen. Es zeigt den Zauber früher Internationalität, eines lebendigen und prägenden kulturellen Austausches von Skandinavien bis Sizilien. Es zeigt aber auch, wie eng großes, weltumspannendes Denken und Begrenztheit, auch kleinlichste Intoleranz beieinander sein können. Es zeigt, wie schnell feinste Sensibilität von schrecklichster Grausamkeit abgelöst werden kann. Sind das Themen des Mittelalters? Oder haben wir Älteren davon nicht genug Zeugnis nehmen können? Es zeigt auch, wie Aufklärung, Gelehrsamkeit und Wissen Seite an Seite mit finsterem Aberglauben, mörderischem Vorurteil und gnadenloser Unterdrückung existieren können.

Wenn wir uns mit dem Mittelalter beschäftigen, schauen wir durchaus in einen fernen Spiegel, wie es die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman einst so treffend genannt hat. Was wir sehen, mag uns erstaunen oder auch erschrecken, erfreuen oder ärgern: Wir sehen ein Stück von uns selbst, wir sehen, ob wir wollen oder nicht, wie wir wurden, was wir sind.

Noch immer kann das Mittelalter auch unsere Phantasie beschäftigen, noch immer beschäftigen uns seine uneingelösten Versprechen. Wenn sich heute ein Papst nach dem Heiligen Franziskus benennt, dann haben wir diese einmalige mittelalterliche Persönlichkeit aus Assisi in Umbrien vor Augen, die von einer Reform der Kirche aus Armut und Demut träumte und die das Lob der Schöpfung singen konnte, wie man es doch eigentlich aktueller kaum denken kann. Credo ", der Titel dieser Ausstellung, das ist das christliche Glaubensbekenntnis. Auf welche Weise die Menschen im Mittelalter ihren Glauben gelebt, welche Mühen sie auf sich genommen und welche Genugtuung, ja welches Glück sie daraus gezogen haben, das zeigt die Ausstellung, die wir heute eröffnen. Sie zeigt auch, wie sehr die Christianisierung Europa geprägt hat und neben anderem auch bis heute prägt. Ich denke an gemeinsame Werte wie die Solidarität mit dem Nächsten und die Achtung vor der Schöpfung. Ich denke auch an das Aussehen der gestalteten Kulturlandschaften, an das Antlitz unserer Städte, an das Wirken der Klöster und an die himmelstrebende Architektur vieler, bis heute erhaltener Kirchen.

Wie das tausendjährige Mittelalter begann, wie Europa christlich geprägt wurde, das ist auch eine Geschichte von Überzeugung und von Gewalt, von Macht und von Demut, von Krieg und von Kultur, von Gottverlassenheit und Gottvertrauen, von bisweilen ungläubiger Skepsis und von unbeirrbarer Glaubenssicherheit. All das gehört zu unserem Erbe, auch wenn wir heute gerne hätten, dass manches oder sogar vieles anders verlaufen wäre.

Was uns die Vergangenheit auf jeden Fall lehrt: Uns verbindet in Europa sehr viel mehr als nur etwa eine gemeinsame Währung. Uns verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Uns verbinden lange geistige Auseinandersetzungen um das Wesen des Menschen, um das richtige Zusammenleben, um die Bedeutung von Religion. Von dieser Geschichte sind wir alle zutiefst geprägt, jeder einzelne, aber auch jede Stadt, jede Region, jedes Land. Wir gehören in Europa zusammen. Wie vielfältig auch immer sich die verschiedenen Gesellschaften entwickelt haben: Wir verstehen auch unsere nationalen Geschichten besser, wenn wir begreifen, dass sie alle eingebettet sind in eine große europäische Geschichte.

Und es ist nicht an uns, über diese Geschichte zu richten. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, zu lernen und zu begreifen, uns zu informieren und uns inspirieren zu lassen. Wer es besser machen will als unsere Väter und Mütter das konnten, als unsere Vorfahren und Ahnen, der fange heute damit an. Die Geschichte zeigt uns, woher wir kommen. Wir aber sind frei, verantwortlich zu entscheiden, wohin wir gehen wollen.

Unsere Aufgabe ist sozusagen: die gute neue Zeit.