Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 15. Januar 2014

Untertitel: Der Bundespräsident hat am 15. Januar den Stifterverband der Deutschen Wissenschaft zum Abendessen in Schloss Bellevue begrüßt. In seiner Rede sagte er: "Sie alle übernehmen Verantwortung nicht nur für einen Konzern oder eine Branche, sondern für die gesamte Gesellschaft. Und Sie tragen dazu bei, dass Wirtschaft und Wissenschaft zusammenwirken, zum Wohle unseres Landes."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140115-Stifterverband-Deutsche-Wissenschaft.html


Herzlich willkommen in Schloss Bellevue!

Um mich auf diesen Abend mit Ihnen vorzubereiten, haben mir meine Mitarbeiter die Internetseite des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft gezeigt. Dort findet sich neuerdings eine Seifenoper, genauer gesagt: "Deutschlands erste Science-Soap". Es handelt sich um Videos, die das Fraunhofer-Institut meiner Heimatstadt Rostock online gestellt hat, um junge Frauen für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. Der Titel der Serie würde auch gut ins Vorabendprogramm des deutschen Fernsehens passen. Er lautet: "Sturm des Wissens".

Es sind solche originellen Initiativen und Denkanstöße, die den Stifterverband auszeichnen. Er ist Ideenfabrik und Serviceagentur, Talentschmiede und Forschungsförderer, nicht zuletzt auch ein Forum. Vor allem aber ist sein Engagement für Bildung und Wissenschaft der beste Beweis dafür, dass deutsche Arbeitgeber mehr geben als Arbeit.

Im Stifterverband haben sich Unternehmer wie Sie hier im Saal zusammengetan, Unternehmer, die sehr wohl Gewinn machen, dabei aber das große Ganze nicht aus dem Auge verlieren wollen. Sie alle übernehmen Verantwortung nicht nur für einen Konzern oder eine Branche, sondern für die gesamte Gesellschaft. Und Sie tragen dazu bei, dass Wirtschaft und Wissenschaft zusammenwirken, zum Wohle unseres Landes.

Eine Zahl möchte ich dabei nicht verschweigen: Im Jahr 2012 haben deutsche Unternehmen 53,8 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert so viel wie nie zuvor. Ich bin mir sicher, dass Sie sich auf diesem Rekord nicht ausruhen wollen. Nun gilt es, gemeinsam das Ziel zu erreichen, konstant drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung fließen zu lassen. Eine bessere Geldanlage kann man sich kaum vorstellen.

Deshalb danke ich Ihnen für die Leidenschaft, mit der Sie bei der Sache sind!

Heute haben wir uns ein besonders dringliches Thema vorgenommen: die Digitalisierung und ihre Folgen für Forschung und Lehre. Der Hauptredner des heutigen Abends, Herr Professor Thrun, wird uns nach dem Hauptgang über Chancen und Risiken digitaler Bildungsangebote aufklären. Ich werde gewiss viel lernen über einen wichtigen Aspekt der digitalen Revolution, die unsere Gesellschaft grundlegend umwälzt.

Eines ist ja völlig klar: Durch das Internet und mobile Geräte haben wir viele Entfaltungsmöglichkeiten hinzugewonnen. Digitale Technologien erleichtern uns den Alltag, vom Einkaufen bis zur Orientierung im Straßenverkehr. Sie bieten neue Chancen für unsere Wirtschaft, aber auch für die politische Partizipation. Bürger können sich mit Hilfe des Internets schnell informieren, und sie können sich Gehör verschaffen wie nie zuvor.

Auf der anderen Seite haben die Berichte über Datensammlungen von Geheimdiensten vielen Menschen vor Augen geführt, dass Gefahren selbst dort lauern, wo Gefahrenabwehr das erklärte Ziel ist. Erst vor wenigen Wochen haben 560 Schriftsteller aus 83 Ländern einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie Staaten wie Unternehmen auffordern, das Recht der Bürger auf eine Privatsphäre im Internet zu respektieren.

Es stimmt doch leider: Die Würde des Menschen ist im Netz mitunter in Gefahr, auch dann, wenn jemand beleidigt, beschimpft und bedroht wird, weil er anders aussieht oder nicht mit der Mode geht. Das Netz ist ein Ort, an dem auch Hass gedeiht, oft im Schutz der Anonymität. Mit ein paar Mausklicks können Menschen in schwere Krisen, sogar in den Tod getrieben werden.

Die digitale Revolution zeigt ihr Doppelgesicht auch in der Welt des Wissens. Auf der einen Seite liefert die sogenannte Schwarmintelligenz oft nützliche Informationen, auf der anderen Seite besteht zum Beispiel in Online-Enzyklopädien die Gefahr, dass Fälschungen und Manipulationen unentdeckt bleiben.

Der amerikanische Philosoph David Weinberger hat beschrieben, wie Wissen im Netz entsteht und wie sich dadurch die Rolle von Forschern, Verlegern, Bibliothekaren und Journalisten verändert. Gerade im Bildungssektor eröffnen sich auch viele Chancen: Universitäten wie Stanford und Harvard zum Beispiel haben Vorlesungen ihrer Professoren online gestellt. So wird Wissen für jeden überall zugänglich. Wer sich bilden will, kann die Universität auch virtuell besuchen und muss nicht mehr unbedingt ein Zimmer auf dem Campus mieten.

Hochschulen könnten von digitalen Formen der Lehre profitieren. Und in den Schulen bieten neue Medien auch Chancen für die Integration blinder und sehbehinderter Kinder, etwa dann, wenn Laptops mit einer Braillezeile ausgestattet werden. Das Netz ermöglicht es Schülerinnen und Schülern zudem, ihr Lerntempo selbst zu bestimmen.

Gerade weil die digitale Entwicklung auch Risiken birgt, liegt mir ein Thema besonders am Herzen: die Medienerziehung. Unsere Gesellschaft braucht mündige und selbstbewusste Bürger, die verantwortungsvoll mit dem Internet und den sozialen Netzwerken umgehen können.

Deshalb müssen wir jungen Menschen vermitteln, wie sie im Internet vertrauenswürdiges Wissen finden können. Wir müssen ihnen klarmachen, dass auch im Netz nicht alles erlaubt ist. Und wir müssen sie für Gefahren sensibilisieren, damit sie verantwortungsvoll mit ihren persönlichen Daten umgehen.

Nicht zuletzt müssen wir dafür sorgen, dass es nicht zu einer digitalen Spaltung der Gesellschaft kommt. Vieles ist schon besser geworden. Mehr Menschen haben Zugang zu den neuen Medien. Aber sie nutzen das Netz unterschiedlich. Manche Schüler wachsen mit maßlosem und unreflektiertem Medienkonsum auf, während andere das Internet ganz selbstverständlich nutzen, um fürs Geschichtsreferat zu recherchieren oder mit Freunden in Kanada zu chatten.

Sie merken schon: Die Janusköpfigkeit der digitalen Revolution beschäftigt mich sehr. Und ich bin gespannt, was Sie darüber denken, als Unternehmer und als User.