Redner(in): Johannes Rau
Datum: 15. Oktober 1999

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/10/19991015_Rede.html


I. Bei Ihrem Jubiläumsakt im Frühjahr dieses Jahres haben Sie zurückgeblickt auf 100 Jahre Arbeit für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Der heutige Kongreß ist der Zukunft gewidmet.

Was müssen wir tun, damit die Vielfalt der Arten nicht weiter abnimmt, damit nachhaltiges Wirtschaften selbstverständlich wird, damit Luft, Boden und Wasser nicht länger als Zwischenlager oder Endlager für Schadstoffe mißbraucht werden?

Mit über 250.000 Mitgliedern ist der Naturschutzbund Deutschland ein gutes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement. Die Entwicklung Ihrer Organisation zeigt, wie sich das Verständnis von Natur und Umweltschutz in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat.

Ging es ursprünglich "nur" um Vogelschutz, so beschäftigt sich der NABU inzwischen mit dem gesamten Spektrum umweltpolitischer Themen.

Dazu gehören Artenschutz, Naturschutz, Gewässerschutz, Umweltschutz, sparsamer Energieverbrauch, die ländliche Entwicklung unter Umweltgesichtspunkten.

II. Erfreulich finde ich, daß sich in Ihrem Verband auch so viele junge Leute engagieren.

Dieses Engagement sehe ich auch an meiner Post. Gerade Kinder und Jugendliche schreiben aus Sorge um das Aussterben von Tieren und Pflanzen, über umweltzerstörenden Energieverbrauch, über Waldschäden und andere Themen der Natur und Umweltpolitik

III. In der öffentlichen Diskussion hat die Arbeitslosigkeit fast alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt. Aber: Die umweltpolitischen Probleme sind keineswegs zweitrangig. Umweltschutz ist kein Modethema, aber ein modernes Thema.

Wie wir mit unserer Umwelt, mit unseren Ressourcen umgehen, das betrifft und trifft nicht nur unsere Generation, sondern alle nachfolgenden Generationen.

Aber wir tragen die Verantwortung dafür, daß heute die Weichen neu und richtig gestellt werden.

IV. Wir sprechen oft und viel über Globalisierung. Zum globalen Denken gehört die Einsicht, daß wir nur diesen einen Globus haben, der uns trägt und ernährt.

Globale Umweltgefahren, wie Klimaveränderungen, Bodenerosion und Versteppung, Mangel an trinkbarem Wasser, abnehmende Vielfalt von Fauna und Flora machen besonders augenfällig, daß wir weltweit gültige Umweltstandards brauchen. Nur durch einen ökologischen Rahmen auch für die Weltwirtschaft können wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen auf Dauer erhalten.

Wer Natur und Umwelt schützen will, darf nach meiner Überzeugung nicht den Ausstieg aus der Industriegesellschaft predigen. Ökologische Erneuerung hat nichts zu tun mit Askese und Verzicht. Es geht nicht um rückwärts gewandte Idylle.

Richtig verstandene Umweltpolitik nutzt die technischen Möglichkeiten, damit wir die Belastung von Natur um Umwelt vermindern können.

V. In der Vergangenheit ist die Diskussion über Arbeit und Umwelt häufig sehr defensiv geführt worden. Es hat lange gebraucht bis zu der Erkenntnis, daß auf Dauer ökonomisch nicht vernünftig sein kann, was ökologisch nicht verantwortbar ist.

Das sind Einsichten, die sich in den vergangenen Jahren in den Programmen aller politischen Parteien gefunden haben. Ich sehe keinen Anlaß dafür, daß wir hinter diese Einsichten zurückfallen: Nicht auf dem Papier und schon gar nicht in der politischen Praxis.

Noch überwiegt in der Umweltpolitik die Reparatur. Noch brauchen wir viel zu viele Filteranlagen, weil wir zu wenig Kreislaufsysteme haben.

In den kommenden Jahren muß die Umweltpolitik eine ganz neue Qualität gewinnen:

Wir brauchen mehr technische Innovation, wir brauchen Öko-High-tech, damit wir unseren Bedarf an Energie und an Rohstoffen verringern und damit unsere Energie Schritt für Schritt aus erneuerbaren Energiequellen kommen.

Sie stehen uns nach menschlichem Ermessen unbegrenzt zur Verfügung.

VI. Ende September hat das Statistische Bundesamt seine "umweltökonomische Gesamtrechnung" vorgelegt. Sie bringt für die Jahre 1991 bis 1997 wichtige Erkenntnisse:

Wirtschaftswachstum und Umweltbeanspruchung haben sich weiter entkoppelt, aber: Die Arbeitsproduktivität ist in dieser Zeit um 15 % gestiegen, die Produktivität beim Einsatz von Energie um 8 % , und die Produktivität beim Einsatz von anderen Rohstoffen um 9 % .

Diese Zahlen kann man ganz einfach übersetzen: Wir schaffen in immer weniger Arbeitszeit immer mehr Waren und Dienstleistungen. Auch der Einsatz von Energie und Rohstoffen geht zurück, aber nur gut halb so stark.

Meine Schlußfolgerung daraus lautet: Beim Einsatz von Energie und Rohstoffen gibt es noch außerordentlich große Rationalisierungsreserven.

Die Unternehmen sollten ihre Rationalisierungsanstrengungen auf den Bedarf an Energie und Rohstoffen konzentrieren und nicht allein auf die Arbeitsplätze. Dafür muß die Politik die richtigen Signale setzen und die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge und die Erhöhung der Energiesteuern zu Beginn dieses Jahres sind richtige Schritte auf diesem Weg.

Wir müssen unsere Ziele weit stecken. Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht vom "Faktor 4" und meint damit: Wir können doppelten Wohlstand erreichen bei halbiertem Naturverbrauch. Andere sehen sogar die Möglichkeit, den Verbrauch an Energie und Rohstoffen im Laufe der kommenden Jahrzehnte um 90 % zu verringern.

In die gleiche Richtung zielen Initiativen - zum Beispiel in Japan - , die für die industrielle Produktion den Grundsatz der Null-Emission ( "zero-emission" ) verwirklichen wollen. Das wäre die perfekte Kreislaufwirtschaft. Das sind anspruchsvolle Ziele, die höchste Anforderungen stellen. Wir können sie erreichen, wenn wir wissenschaftliche Erkenntniss, technischen Einfallsreichtum und unternehmerische Risikobereitschaft zusammenbringen.

VII. Ein gutes Beispiel ist dafür ist die Sonnenenergie in ihren verschiedenen Formen.

Manche werfen unserer Gesellschaft pauschal vor, sie sei technikfeindlich. Dieser Vorwurf ist durch viele Untersuchungen widerlegt. Aber manchmal ist es schon erstaunlich: Kaum irgendwo begegnet einem soviel Skepsis, ja Technikfeindlichkeit wie bei der Diskussion über erneuerbare Energiequellen.

Da hört man, die Solarenergie sei noch nicht ausgereift, sie werde für den breiten Einsatz nie rentabel sein und bleibe für immer eine Nischentechnologie. Ich frage mich: Woher kommt dieser Kleinmut? Warum diese Verzagtheit? Warum reden so viele soviel von den Problemen und so wenig von den Chancen? Warum sehen wir nicht die große technologische Herausforderung und die Chancen für Arbeitsplätze und für den Export?

Ich halte es für richtig, daß wir heute die Brücke ins Solarzeitalter bauen. Sonst beklagen wir uns morgen wieder einmal darüber, daß andere uns in einem High-tech-Bereich, der Solartechnologie, den Rang abgelaufen haben.

Darum ist es eine hervorragende Sache, daß in den nächsten Monaten in Gelsenkirchen und in Alzenau zwei neue Solarfabriken die Produktion aufnehmen, die die Bundesrepublik Deutschland weltweit zum Solarland Nummer eins machen.

Arbeit und Umwelt gehören zusammen. Aber natürlich gibt es in vielen einzelnen Fällen auch Zielkonflikte. Darum rate ich: Umweltpolitische Organisationen wie die NABU sollten den Dialog mit Arbeitnehmerorganisationen suchen. Die ökologische Frage soll und darf nicht so beantwortet werden, daß sich dadurch soziale Fragen neu oder verschärft stellen. Ein Bündnis für ArbeitundUmwelt ist möglich.

IX. Das Thema Ökologische Steuerreform ist in der politischen Diskussion zu einem Reizwort geworden. Das ist eigentlich unverständlich. Denn alle politischen Parteien sind sich im Grundsatz einig: Das Steuersystem soll so umgestaltet werden, daß Energie teurer wird und Arbeit weniger belastet wird. Gewiß: Man soll und kann darüber streiten, wie eine solche Reform gestaltet werden soll. Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, daß die ökologische Steuerreform nur auf dem Papier gefordert wird und in der Hoffnung, daß nie tatsächlich etwas passiert.

X. Natur und Umwelt sind Themen für die ganze Gesellschaft. Wir sind verantwortlich für uns, aber auch verantwortlich für zukünftige Generationen. Darum ist es gut, daß es Menschen wie Sie gibt, die sich ganz besonders um diese Aufgaben kümmern. Sie tun das engagiert, kenntnisreich und sie ergreifen deutlich Partei. Wer Ihre Arbeit einseitig nennt, sollte nicht vergessen, daß es in unserem Land viele gibt, die ihre eigenen Interessen mindestens genauso einseitig vertreten. Ich wünsche mir, daß Ihr Zukunftskongreß den umweltpolitischen Diskussionen kräftige Anstöße gibt.