Redner(in): Johannes Rau
Datum: 20. Oktober 1999
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/10/19991020_Rede.html
Herzlichen Dank, Herr Präsident Pahl, für diese persönlichen Worte. Sie haben Recht, was die familiären Bindungen nach Bielefeld angeht, aber was sollen die Wuppertaler dann sagen, denn denen bin ich noch enger verbunden. Aber ich bin dankbar, dass Sie mir Gelegenheit geben zu einigen Bemerkungen anlässlich des 150-jährigen Bestehens Ihrer Kammer. Das ist wahrlich ein Grund zum Feiern.
Sie blicken mit Stolz zurück. Am 10. Mai 1849 war es soweit. Ein königlicher Erlaß begründete die Handelskammer in Bielefeld. Das galt nicht nur für Bielefeld, sondern zum gleichen Zeitpunkt wurde auch die Handelskammer Minden errichtet, und beide Kammern lagen in der Folgezeit im edlen Wettstreit. Zugleich gab es viele Kooperationen. So reifte der Gedanke der Fusion - aber es brauchte lange. 1932 war es dann soweit, die Mindener und die Bielefelder Kammern verschmolzen sich. Dabei musste der Staat nachhelfen. Vor allem die Mindener wehrten sich dagegen, sie fühlten sich dominiert. Das damalige Berliner Handelsministerium drängte auf eine freiwillige Verschmelzung. Den Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "Es drängte auf eine freiwillige Verschmelzung." Es gab den leisen aber nachdrücklichen Hinweis,"sonst werde der Minister eingreifen", und das beschleunigte die Entscheidungsfindung der Mindener.
So entstand eine der erfolgreichsten Kammern in Deutschland, eine der wichtigsten in diesem Land. Das liegt, Herr Pahl, Sie haben darauf hingewiesen in erster Linie an den hier ansässigen Firmen und Unternehmen und an dem Unternehmergeist, der auszeichnet. Das hat gewiss mit spezifischen Vorteilen des Mittelstandes zu tun und darum finde ich es gut, dass der DIHT seinen Jahreskongress morgen, verehrter Herr Stihl, unter dem Motto "Zukunft Mittelstand" hält.
Natürlich gibt es Anpassungszwänge im Zuge der Globalisierung, aber es ist vor allem die Flexibilität des Mittelstandes, die bewirkt hat, dass Ostwestfalen geringere Strukturkrisen erlebt hat als andere deutsche oder auch nur nordrhein-westfälische Regionen.
Und wie leistungsstark und wie anpassungsfähig die Unternehmen dieser Region sind, kann man auch daran erkennen, dass der Anteil der Firmen, die damals bei der Gründung der beiden Handelskammern dabei waren, noch heute existiert. Ich bin sicher, dass auch spätere Generationen noch viele runde Jubiläen der IHK Ostwestfalen in Bielefeld feiern können.
Nun ist ein solcher Kongress keine rückwärtsgewandte Veranstaltung."Zukunft Mittelstand", das wird morgen Ihr Thema sein, und Sie wollen morgen, wenn ich das richtig erfahren habe, das Jahr 2000 zum Jahr der mittelständischen Wirtschaft ausrufen. Ich finde, mit einem Jahr ist es eigentlich nicht getan, denn der Mittelstand ist das Rückgrat der Wirtschaft. Das wurde so oder ähnlich immer wieder gesagt und deshalb von manchen als Leerformel empfunden. Aber es lohnt sich, diesen Sachverhalt an ein paar Zahlen zu verdeutlichen: 3,2 Mio. Unternehmen in Deutschland sind kleine und mittlere Unternehmen, das sind 90,6 % aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen. Sie stellen 20 Mio. Arbeitsplätze zur Verfügung, hier arbeiten 70 % aller Arbeitnehmer und noch wichtiger: 80 % aller Lehrlinge werden in kleinen und mittleren Unternehmen ausgebildet. Das sind 1,2 Mio. Ausbildungsplätze. Und gerade jetzt, wo das neue Ausbildungsjahr beginnt, verdient das Engagement der kleinen und mittleren Unternehmen besondere Anerkennung.
Ich möchte allen herzlich danken, die ausbilden, und ganz besonders denen, die über ihren eigenen Bedarf hinaus ausbilden. Sie haben dabei auch in konjunkturell schlechten Zeiten Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt und nicht nachgelassen. Dafür gibt es gewiss zwei Gründe: Der erste ist das eigene Interesse, weil nur gut Ausgebildete den Anforderungen genügen, aber ich spüre auch viel Verantwortung für die jungen Menschen und möchte mich dafür bedanken.
Ich bin froh darüber, dass NRW und auch Ostwestfalen-Lippe besonders erfolgreich darin sind, dass der, der einen Ausbildungsplatz sucht, einen angeboten bekommt. Ich glaube, dass der Ausbildungskonsens bundesweiten Vorbildcharakter hat, und ich möchte allen dafür ausdrücklich danken und Sie zugleich bitten, in Zukunft nicht nachzulassen in der Bereitschaft zur Ausbildung.
Dieses Bestreben ist ein gutes Beispiel dafür, dass Unternehmensinteressen und Gemeinwohl durchaus zusammenpassen. Darum erschreckt es mich, wenn ich von Umfragen lese - wie erst kürzlich in der FAZ - , in denen die Deutschen den Unternehmen generell wenig Interesse am Gemeinwohl zutrauen. Bei der Reform für den Standort Deutschland ist nach diesem FAZ-Bericht die Mehrheit der Befragten überzeugt davon, dass es der Wirtschaft bei ihrem Plädoyer für Reformen ausschließlich um eigene Interessen geht. Ich finde, viele von uns kennen gute Beispiele und ich kenne sie auch, die dieses Urteil widerlegen.
Dennoch glaube ich, wir alle müssen uns fragen: Wie kann ein solches Bild entstehen? Hat es nicht vielleicht auch damit zu tun, wie wir unsere Diskussionen führen? Wenn nur noch gefühllos von Globalisierung, von Standort oder Rationalisierung gesprochen wird. Wir wissen doch, ohne unternehmerische Leistung und ohne Mut und Risikobereitschaft, kann es Erfolg, also Wohlstand und Beschäftigung für alle nicht geben. Aber es ist noch mehr: Ohne ein funktionierendes und ausreichend finanziertes Gemeinwesen ist ein unternehmerischer Erfolg nicht denkbar. Und darum wünschte ich mir, dass diese Einsicht vieler mittelständischer Betriebe für die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland noch bestimmender würde als jetzt.
Die Wirtschaftspolitik sollte die Sorgen und Nöte der mittelständischen Wirtschaft besonders ernst nehmen. Sie muss die Klage ernst nehmen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen erheblich mehr als die großen Unternehmen unter dem Dschungel der Normen leiden, unter Verwaltungsvorschriften, unter steuerlichen Regelungen und unter allzu vielen staatlichen Vorgaben. Das gilt übrigens erst recht für ausländische mittelständische Unternehmen, die sich hier engagieren wollen. Auch wenn die Kammern dankenswerterweise Hilfestellung leisten, brauchen wir ein klares und verständliches Rechtssystem.
Ich möchte auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam machen: Bei ausländischen Großkonzernen gibt es kaum Zurückhaltung vor einem Engagement in Deutschland. Das ist anders bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Sie sollten im größeren Maße profitieren vom Standort Deutschland, der sich auszeichnet durch hohes Ausbildungs- und Qualitätsniveau, durch verlässliche Tarifpartner, durch sichere Zulieferer, durch stabile Verhältnisse und effiziente Infrastruktur. Wir wollen kleine und mittlere Unternehmen für Deutschland gewinnen und unser Land für sie öffnen und für sie noch attraktiver machen.
Jedes junge Unternehmen fängt klein an und damit ist praktisch jeder Existenzgründer ein Mittelständler. Die Förderung von Existenzgründungen ist damit vor allem eine Förderung des Mittelstandes. Ich freue mich darüber, dass NRW dabei besonders erfolgreich zu sein scheint. Ich habe mir die Zahlen vorlegen lassen. Sie geben ein gutes Bild dieses Standortes, aber auch in den übrigen Ländern hat der Mut zur Selbständigkeit zugenommen. Das ist gut so und daran sollten wir weiter arbeiten.
Es gibt immer noch viele Hemmnisse, die Existenzgründungen erschweren, Hemmnisse im Bereich Risikokapital und Gründungsfinanzierung. Ganz gewiss hat sich im Vergleich zu früheren Jahren viel getan. Es gibt zahlreiche Venture-Capital-Fonds. Die Banken sind zum Glück aufgeschlossener. Sie beurteilen ein Ideenkonzept, sie verlangen nicht sofort nach nicht vorhandener Sicherheit. Darüber bin ich froh. Viele Experten sagen, das wäre nicht mehr das Hauptproblem.
Dennoch: Wir müssen weitergehen. Denn immer noch gibt es Existenzgründer, die mir schreiben und die mir ihre Odyssee von Bank zu Bank, von Sparkasse zu Sparkasse, von Finanzinstitution zu Finanzinstitution schildern. Sie klagen mir ihr Leid, dass die viel zu wenig auf das Firmenkonzept achten und viel zu sehr auf nicht vorhandene Sicherheiten. Das mögen, meine Damen und Herren, Einzelfälle sein. Dennoch plädiere ich dafür, dass die Institutionen Konzepte erarbeiten, die gerade den jungen Unternehmern, die ihre pfiffige Idee als Startkapital haben, sachgerechte Unterstützung bieten.
Die Zahl der Gründungen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist in Deutschland im internationalen Vergleich noch gering. Hier könnten Existenzgründer-Lehrstühle eine Hilfe sein, wenn sie fachübergreifend angeboten werden und wenn sie nicht nur wirtschaftswissenschaftliche, sondern auch ingenieurwissenschaftliche Akzente setzen.
Meine Damen und Herren, bevor ich in der anschließenden Diskussionsrunde, auf der Sie erörtern, wie die Zukunft des Mittelstandes aussieht, bevor ich Sie dem morgigen Kongress überlasse, erlauben Sie mir zum Schluss ein Problem anzusprechen, das zu den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte gehört.
Es geht um die überlebenden Zwangsarbeiter. Eine Antwort darauf zu finden, wie wir ihnen helfen können, liegt in unserem ureigensten Interesse. Zwangsarbeit ist ein großes Unrecht, wo immer und wann immer sie geschieht, ein Verstoß gegen Menschenrechte, ein Verstoß gegen Freiheit und Menschenwürde.
Die Verantwortung für Zwangsarbeit hat im Dritten Reich primär bei der Reichsregierung gelegen, die dadurch die Lücken stopfen wollte, die der immer größere Kriegseinsatz deutscher Männer hinterließ, aber wie wir heute wissen, haben sich auch deutsche Unternehmen durchaus aktiv daran beteiligt.
Diese Einschätzung hilft nicht den ehemaligen Zwangsarbeitern, die sich um Jahre ihres Lebens und um einen gerechten Lohn betrogen fühlten und fühlen. Die allermeisten haben inzwischen zwar Leistungen aus Deutschland, öffentliche Mittel, erhalten, sei es aus Wiedergutmachung, als humanitäre Zahlungen im Rahmen der osteuropäische Versöhnungsstiftungen. Aber vor allem in Osteuropa waren die Summen relativ bescheiden und erreichten kaum 1.000 DM pro Person.
In den deutschen und internationalen politischen Diskussionen bildet sich dabei die Überzeugung heraus, dass das nicht alles gewesen sein könne. Die Wirtschaftsbetriebe, die unmittelbare Nutznießer waren, wurden ihrer historischen und moralischen Verantwortung bisher nur in Ausnahmefällen gerecht.
Ich glaube, dass die Gespräche, die jetzt von Graf Lambsdorff auf bewundernswerte Weise für die Bundesregierung geleitet werden, auf gutem Wege sind. Der Art aber, wie diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt wird, kommt besondere Bedeutung zu. Das bedenken nicht alle, die sich öffentlich äußern, und das macht die Verhandlungsführung, die in so guten Händen ist, nicht leicht.
Es gibt noch einen Aspekt in dieser Debatte: Das ist die Beteiligung deutscher Unternehmen bei der Finanzausstattung des Entschädigungsfonds. Ich weiß, dass viele Zwangsarbeiter in mittelständischen Unternehmen eingesetzt wurden, und darum halte ich es für dringend geboten, dass jedes Unternehmen klärt, ob es Mitverantwortung trägt oder tragen sollte.
Ich kenne mittelständische Unternehmen, und ich bin ihnen dankbar, die umfangreiche Recherchen betrieben haben, um bei den bei ihnen beschäftigten Zwangsarbeitern herauszufinden, ob sie ihnen Hilfe oder Entschädigung geben können. Das finde ich vorbildlich. Das verdient unseren Respekt. Aber diesen Lösungsweg können nicht alle gehen.
Möglicherweise sind schon einige Unternehmen innerlich bereit, sich zugunsten dieses Fonds zu engagieren, aber sie warten noch, wie hoch die vereinbarte Entschädigungssumme sein wird, um endgültig Klarheit zu haben. Aber ich frage Sie: Muss bei derart zögerlichem Verhalten in der Öffentlichkeit bei uns und im Ausland nicht der Eindruck entstehen, die überwiegende Mehrheit der deutschen Unternehmen wolle sich um ihre Verantwortung drücken?
Ich bin überzeugt davon, dass das nicht der Fall ist, und darum wünschte ich uns, dass eine weit größere Anzahl von Unternehmen als bisher ihren Willen klar ausdrückte, zu ihrer Verantwortung zu stehen. Das gilt auch für den mittelständischen Bereich.
Darum appelliere ich an alle, die es angeht: Beteiligen Sie sich an der Entschädigung von Zwangsarbeitern - der Opfer wegen und auch aus der gemeinsamen Verantwortung für unsere Geschichte. Das liegt im wohlverstandenen eigenen Interesse Deutschlands, wie wir aus aller Welt erfahren.