Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 2. November 2015

Untertitel: Bundespräsident Gauck hat am 2. November das Bellevue Forum "Sterbende begleiten Ehrenamtliches Engagement in der Hospiz- und Palliativversorgung" in Schloss Bellevue eröffnet: Die Humanität einer Gesellschaft erweist sich darin, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Ich spreche ganz bewusst von der Humanität einer Gesellschaft, denn die Sorge für die Mitmenschen ist nicht allein eine Aufgabe für den Staat, für öffentliche Institutionen und deren 'Profis', sondern für uns alle."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/11/151102-Palliativ-Bellevue-Forum.html


Die Humanität einer Gesellschaft erweist sich darin, wie sie mit den Schwächsten umgeht.

Ich spreche ganz bewusst von der Humanität einer Gesellschaft, denn die Sorge für die Mitmenschen, sie ist ja nicht nur Aufgabe für den Staat, für öffentliche Institutionen, für deren "Profis", sondern sie ist eine Aufgabe für uns alle. Jeder von uns kann zum "Nächsten" werden, wir wissen es alle, zum Nächsten, der die Hilfe seiner Mitmenschen braucht. Und jeder von uns ist ein "Nächster", der seinen Mitmenschen Hilfe leisten kann.

Sie, liebe Gäste, tun das in bewundernswerter Weise. Und Sie tun das auf einem Feld, um das viele von uns immer noch einen Bogen machen. Dafür, dass Sie das tun, möchte ich Ihnen von Herzen danken, und deshalb habe ich Sie heute eingeladen.

Das Bewusstsein dafür, dass wir als Mitmenschen in existenzieller Weise aufeinander angewiesen sind, dass der Staat nicht alles allein kann und vielleicht auch nicht alles können sollte, dieses Bewusstsein ist in unserer modernen, arbeitsteiligen und vielfach abgesicherten Welt mitunter verschüttet. Und es ist ja auch gut, dass es Experten und Arbeitsteilungen und staatliche Regelungen und Garantien gibt. Aber es gibt eben auch Situationen, in denen wir ganz unvermittelt erfahren, dass der Mensch den Menschen braucht; in denen wir nur noch sagen können: "Es ist gut, dass Du da bist."

Zu diesen Situationen gehört der Umgang mit schwerer Krankheit, mit Leid und mit Sterben. Für viele von uns ist das Thema mit einem Tabu belegt. Tod und Sterben, das scheint uns, die in der Mitte des Lebens stehen, weit weg zu sein. Wir weichen dem Gedanken daran gern aus: Wer möchte schon an eine Situation denken, in der er schwach und hilflos und auf die Unterstützung anderer angewiesen ist? Wer möchte schon gern an eine Situation denken, in der er vielleicht nicht mehr Herr seiner Sinne und seines freien Willens ist? Wer möchte schon daran denken, wie es war, als liebe Angehörige gestorben sind, vielleicht sogar unter Qualen?

Kein Wunder, dass vielen von uns der Gedanke an das eigene Sterben unangenehm ist, dass wir uns, wenn denn das Ende schon unvermeidbar erscheint, einen schnellen und schmerzlosen Tod wünschen. Ja, und dass manche sich auch vorstellen können, den nahenden Tod zu beschleunigen und dabei auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Sie, meine Damen und Herren, Sie geben eine andere Antwort. Sie begleiten Sterbende und ihre Angehörigen in Palliativstationen, in Hospizen oder wo es möglich ist auch zu Hause, in ihrem vertrauten Umfeld. Sie leisten damit einen der größten ja, ich nenne es jetzt einfach so einen der größten Liebesdienste, die ein Mensch einem anderen Menschen tun kann. Darin sind Sie alle uns und unserer Gesellschaft ein Vorbild.

Ich bin dankbar, dass die Hospizbewegung auch bei uns in Deutschland immer weitere Verbreitung findet. Ich bin froh, dass sie zunehmend nicht mehr als Gegenmodell zur Intensivmedizin diskutiert wird, sondern als eine sinnvolle Ergänzung. Und ich könnte, was ich empfinde, nicht besser sagen als mein Vorgänger Horst Köhler, der 2005 einmal so gesprochen hat: "Nicht durch die Hand eines anderen Menschen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen."

Dieser Satz ist mehr als ein moralischer Appell. Er beschreibt auch eine empirische Tatsache: Durch Ihren Dienst, liebe Engagierte, geben Sie Menschen in der letzten Phase ihres Lebens Geborgenheit. Damit nehmen Sie ihnen einen Teil der Angst, aus der sonst in vielen Fällen der Ruf nach Sterbehilfe erwächst. Sie leben eine Alternative vor. Auch deshalb ist es wichtig, dass Ihr Engagement weiter bekannt gemacht wird.

Es ist gut, dass die Politik Ihren Dienst besser unterstützen will. Und ich bin dankbar, dass die Debatten über Palliativmedizin und über Suizidbeihilfe im Deutschen Bundestag mit so großer Nachdenklichkeit und soviel Verantwortungsbewusstsein geführt werden.

Heute möchte ich Ihnen die Gelegenheit zur Debatte geben, und ich möchte dabei etwas von Ihnen lernen:

Ich möchte zum Beispiel von Ihnen erfahren, was Sie persönlich dazu bewogen hat, sich auf diesem schwierigen Feld zu engagieren und was andere daraus lernen können.

Auch interessiert mich, wie sich Ihr Leben durch Ihren Dienst an den Sterbenden verändert hat und wie Sie mit den Grenzen umgehen, an die Sie in Ihrer Arbeit ganz gewiss stoßen werden.

Auch würde ich gerne etwas erfahren über die Hindernisse, denen Sie auf Ihrem Weg begegnet sind, und wie wir die Hospizversorgung in unserem Land verbessern können.

Ich danke nun all denen, die heute Morgen mit ihren Impulsen und ihren Erfahrungen unser Nachdenken befördern. Ich freue mich, dass mit Herrn Bundesminister a. D. Müntefering, mit Professor Dabrock und Professor Radbruch sowie mit Frau Dr. Schneider und Frau Weißbach so versierte Diskutanten auf dem Podium sitzen werden.