Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 17. März 2016

Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 17. März bei der Eröffnung des 11th Global Summit of National Ethics/Bioethics Committees eine Rede gehalten: "Welche Entwicklungen wir mit unserem Menschenbild vereinbaren können, diese Frage wird mit den wachsenden wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten noch dringlicher. Und diese Frage, sie geht uns alle an."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/03/160317-Ethikrat.html


Bevor ich mit meiner Rede beginne, will ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal darauf lenken, womit Ihr Kongress begonnen hat. Er hat mit Musik begonnen. Und vielleicht darf ich Ihnen das wünschen als ein gutes Zeichen, als ein gutes Omen für Ihre Tagung, ja, für Ihre gesamte Arbeit. Ich habe es in diesem Moment als ein Symbol empfunden, dass mitten in den Brüchen und Ambivalenzen dieser Zeit, dass in Zuständen von Disparatheit und Verwirrung, wir danach suchen sollen, eine Melodie des Lebens zu entdecken. Und Ethiker sind immer aufgefordert, in den Brüchen, auch in Grenzsituationen, Maßstäbe zu entwickeln, die anderen Leuten helfen, ihr Leben und das Leben der Gesellschaften, in denen sie leben, zu gestalten. So suchen wir eine Melodie, die dem Leben verpflichtet ist.

Jetzt aber zu dieser Tagung, und ich beginne mit einem Zitat: "Es gibt kein größeres Einzelinteresse, als die allgemeinen Interessen zu den eigenen zu machen." Mit diesem Leitprinzip des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz möchte ich Sie begrüßen. Denn es fügt sich, dass wir hier im Leibniz-Saal versammelt sind und Deutschland dieses Jahr gleich ein doppeltes Leibniz-Jubiläum feiert: den 370. Geburtstag und den 300. Todestag des großen Gelehrten.

Leibniz folgte als Forscher, als Förderer von Forschung und als politischer Berater einer Überzeugung, die auch Ihre Arbeit, meine Damen und Herren, prägt: dass das persönliche Streben der Forscher nach neuen Erkenntnissen und das Wohl der Menschheit untrennbar zusammengehören. Und an diesem Ort Ihrer Zusammenkunft, hier in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ist Leibniz ‘ Anspruch besonders präsent, dem Gemeinwohl, dem "commune bonum" zu dienen. Denn er war es, der die Gründung dieser Forschungsstätte betrieb und der dann auch ihr erster Präsident wurde. Und schon damals spielte übrigens der Gedanke eines internationalen Austauschs eine zentrale Rolle.

Vom Gedanken des grenzüberschreitenden Dialogs ist auch Ihre Arbeit für eine ethische Wissenschaft und ist auch diese Zusammenkunft inspiriert. Erkenntnisgewinn und Wohlfahrtsgewinn zusammenzudenken und zwar über territoriale und kulturelle Grenzen hinweg, dieser Anspruch einer verantwortungsbewussten, einer ethisch fundierten Wissenschaft ist heutzutage wichtiger und aktueller denn je. Denn mittlerweile ist die Forschung ja buchstäblich bis zum Kern des Menschen vorgedrungen.

Durch Erfolge der Wissenschaft werden wir immer stärker zu Mitgestaltern der Evolution. Damit wächst natürlich zugleich auch unsere Verantwortung für die gesamte Schöpfung. Das Wort "Schöpfung" bekommt doch einen ganz neuen Klang angesichts der rasanten Entwicklung in den sogenannten Lebenswissenschaften, etwa wenn über neue technische Zugriffe auf das Gehirn oder über neue Methoden der Gentechnik berichtet wird. Mit derlei Forschung verbinden sich große Erwartungen und auch große Bedenken. Sie wissen das besser als ich. Und es scheint, als nähmen die Ambivalenzen und Dilemmata weiter zu: Da ist einerseits die Hoffnung auf Heilung schwerstkranker Menschen, auf Erfolge auch im Kampf gegen den Hunger in der Welt, überhaupt auf weniger Leid und Mühsal für die Menschheit. Andererseits gibt es die Sorge vor verhängnisvollen Fehlentwicklungen, etwa der Aushöhlung der Menschenwürde oder der Verletzung grundlegender Menschenrechte durch gezielte Eingriffe in das menschliche Erbgut. Auch bei Eingriffen in das Gehirn stellen sich Fragen der Autonomie, der Individualität und Identität. Oder denken wir etwa an die Gefahren durch die Forschung an Mikroorganismen. Vielleicht könnten neu gezüchtete Krankheitserreger zur Kriegsführung oder für Terroranschläge benutzt werden.

Es geht also um Chancen und Risiken moderner Forschung, die zunehmend nach internationalen Antworten verlangen auch weil sich Wissenschaft und Forschung grenzüberschreitend schnell weiter verflechten. Die Aufgaben nationaler Ethikräte mögen zum Teil unterschiedlich sein, ebenso wie die lebenswissenschaftliche Forschung in Ihren jeweiligen Ländern. Doch verbreitet sich das Wissen über neue Forschungsprozesse und -ergebnisse in immer größerer Geschwindigkeit. Gerade in den Lebenswissenschaften geht es dabei oft um Erkenntnisse, die von grundlegender Bedeutung für alle Menschen sind. Der Geist der UN-Nachhaltigkeitsagenda, die Überzeugung, dass alle Länder Industrieländer ebenso wie Entwicklungs- und Schwellenländer gemeinsam verpflichtet sind, ihren Beitrag für eine bessere Welt zu leisten, dieser Geist strahlt auch auf die Wissenschaftsethik aus. Denn bioethische Fragen sind Fragen nach unserem gemeinsamen Selbstverständnis, nach unserem Menschsein.

Deshalb ist es so wichtig, die internationale Debatte darüber zu verstärken, wie die ethische Fundierung mit der Globalisierung Schritt halten kann. Zu diesem grenzüberschreitenden bioethischen Diskurs leisten Sie nun mit Ihrer Konferenz einen hochwichtigen Beitrag. Denn eine Verständigung auf gemeinsame bioethische Regeln gelingt nur durch intensiven Austausch. Ich danke deshalb allen Mitwirkenden und Organisatoren für ihre engagierte Teilnahme an diesem Dialog.

Die Spannweite Ihres Programms zeigt, wie vielfältig die Herausforderungen sind, die Sie sich in der bioethischen Diskussion stellen: Mit welchen Techniken haben wir es zu tun? Welche Chancen und welche Risiken bergen sie? Und wie sind potentielle Vor- und Nachteile neuer wissenschaftlicher Verfahren gegeneinander abzuwägen? Welche Maßstäbe sollen für diese Abwägung gelten? Und wer stellt überhaupt sicher, dass Forschung ethisch verantwortlich betrieben wird? Welche Rolle sollen dabei Politik und Recht spielen?

Solche Fragestellungen zeigen zugleich, welch schwierige Aufgabe die nationalen Ethikgremien übernehmen, wenn sie Forschung bewerten oder wenn sie Leitlinien für die Gewinnung und den Umgang mit Forschungsergebnissen formulieren, deren Folgen manchmal eben noch nicht vorhersehbar sind. Trotz oder gerade wegen dieser Unwägbarkeiten können Ethikräte helfen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie wichtig eine Verständigung über Fragen der Wissenschaftsethik ist: Welche Forschungsfelder sollten gefördert werden, wo sind Grenzen zu ziehen? Setzen wir die richtigen Schwerpunkte? Kümmern wir uns ausreichend um Bereiche der Forschung, die lange Zeit vernachlässigt werden, obwohl sie überlebenswichtig sind für Millionen von Menschen, vor allem für die ärmeren?

Bessere Gesundheit und bessere Lebensbedingungen sind nicht zuletzt eine Folge der Prioritäten, auch finanzieller Prioritäten. Ethisch fundierte Forschung und Forschungspolitik bedeutet auch, die Anstrengungen zur Gesundheitsversorgung in den Entwicklungsländern weiter zu stärken. Wir sind jüngst durch Epidemien wie Ebola und Zika doch aufgefordert, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, wie dringlich gerade diese Aufgabe ist. Ich begrüße es deshalb, dass Sie hier einen Schwerpunkt Ihrer Tagung setzen.

Gemeinsam tragen Sie dazu bei, das Bewusstsein für die große Bandbreite bioethischer Fragen zu stärken. Der wissenschaftsethische Diskurs sollte in der Öffentlichkeit einen breiten Raum einnehmen: in der Schule, im Studium, in den Medien ebenso wie in den Wissenschaftsorganisationen. Denn nur wenn sich die Bürgerinnen und Bürger zunehmend besser in der Lage fühlen, zu verstehen, zu beurteilen und abzuwägen, was auf Forschungsfeldern wie den Nanowissenschaften, der Synthetischen Biologie oder Systemmedizin geschieht, dann ist eine gesellschaftliche Rückbindung von Wissenschaft möglich. Und wie könnte Wissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden ohne beständiges und die Öffentlichkeit einbeziehendes Hinterfragen, ob sie dem Menschen denn tatsächlich dient?

Darauf kann es natürlich keine pauschalen Antworten geben, auch die Bioethik kann sie nicht pauschal geben. Aber mit der wissenschaftsethischen Infrastruktur, an der national wie international gearbeitet wird, verfügen wir doch über so etwas wie ein wichtiges Navigationssystem. Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung weist die "Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte" aus dem Jahre 2005. Die Menschenrechte, davon bin ich überzeugt, bilden ein starkes und gutes Fundament für die weitere Entwicklung einer globalen Bioethik. Gewiss spielen historische, kulturelle oder religiöse Prägungen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Antworten auf die vielfältigen bioethischen Fragen zu finden. Aber Anknüpfungspunkte für die Idee der Menschenrechte gibt es in allen Kulturen. Nicht zuletzt weil die Menschenrechte Pluralität sichern, weil sie damit kulturelle Vielfalt fördern oder jedenfalls nicht behindern, haben sie internationale Anerkennung gefunden und universelle Geltung erlangt. In unserer Vielfalt eint uns Menschen doch ein wichtiges Ziel: die Würde des Menschen zu schützen und zu fördern. Hier liegt der Kern der Idee, dass alle Menschen ohne Unterschied von denselben hohen ethischen Maßstäben für die lebenswissenschaftliche Forschung profitieren sollten.

Welche Entwicklungen wir mit unserem Menschenbild vereinbaren können, diese Frage wird mit den wachsenden wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten noch dringlicher. Und diese Frage, sie geht uns alle an. Hier sind Wissenschaft, Gesellschaft und Politik gefordert. National wie international sind fortgesetzte Anstrengungen nötig, damit bioethische Reflexionen und Regelungen Schritt halten mit Wissenschaft und mit Forschung. Für diese anspruchsvolle Aufgabe wünsche ich Ihnen Kraft und Inspiration. Möge es Ihnen ergehen wie Leibniz: Kaum erwacht, da hatte er mitunter schon so viele Einfälle, dass mancher Tag nicht ausreichte, um sie alle zu durchdenken und niederzuschreiben.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierte und erfolgreiche Tagung.