Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 11. März 2016
Untertitel: Bundespräsident Joachim Gauck hat am 11. März beim Abendessen zur Eröffnung des Bergedorfer Gesprächskreises der Körber-Stiftung eine Ansprache gehalten: "Eines scheint mir jedenfalls klar: Die größte Konstante in Europa ist der Wandel. Er ist und darauf wollen wir auch in Zukunft vertrauen gestaltbar. In diesem Wissen gilt es jetzt gerade jetzt , einzutreten für ein sich erneuerndes Europa."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/03/160311-Bergedorfer-Gespraechskreis.html
Europa am Scheideweg ": Die Körber-Stiftung hat der Versuchung widerstanden, eine der gerade gängigen Überschriften zu wählen, etwa:" Europa vor der Zerreißprobe ". Oder gar:" Europa vor dem Ende ". Wer stattdessen von einem Scheideweg spricht, hat ein anderes Bild vor Augen das Bild handelnder Akteure, die an eine Gabelung kommen, die also eine Wahl haben, welche Richtung sie einschlagen. Dieser Ansatz gefällt mir. Denn er spricht Europa nicht von vornherein Optionen ab.
Danke, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bergedorfer Gesprächskreises, dass Sie mich in Ihr Gespräch einbeziehen ein Gespräch, das kritisch, aber eben nicht defätistisch zu werden verspricht. Es freut mich sehr, dass wir zum Auftakt Ihrer Veranstaltung zu einem Abendessen zusammenkommen.
Sie haben die Flüchtlingskrise auf Ihre Agenda gesetzt und stellen gleich zu Beginn Ihres Programms die Frage der Fragen: Ist dies die "Krise der Krisen" in Europa? Wer die Bilder der erschöpften Flüchtlinge und Migranten sieht, wer sieht, dass weiterhin Zehntausende aus bombardierten syrischen Orten fliehen, oder wer hört, dass neuerlich Zehntausende in Libyen auf eine Überfahrt warten, der will wahrscheinlich sofort mit Ja antworten. Selbst diejenigen, die mit etwas Abstand auf unseren Kontinent blicken sei es, weil sie in Neu Delhi, Damaskus oder Addis Abeba geboren wurden, wie einige von Ihnen hier im Saal, oder weil sie etwa als Historiker professionelle Distanz zur Tagespolitik üben auch sie werden wohl zu dem Befund kommen: Die Flüchtlingskrise hat zwar ihre eigenen, meist außerhalb Europas liegenden Ursachen. Aber die Folgen von Bürgerkriegen, Verfolgung und auch von Armut und Hoffnungslosigkeit konfrontieren Europa mit einer Migration lange nicht erlebten Ausmaßes. Dadurch verschärfen sich die Spannungen, mit denen sich die Europäische Union bereits seit einigen Jahren konfrontiert sieht.
Viele Bürgerinnen und Bürger sorgen sich wegen der Gewalt an der Peripherie des Kontinents, wegen des möglichen Austritts Großbritanniens, wegen der nicht vollständig gelösten Eurokrise und, in einigen Ländern, wegen der sozialen Ungleichheit und hohen Jugendarbeitslosigkeit. Nun kommt bei nicht wenigen die Furcht vor dem Fremden und vor dem Verdrängen der eigenen Kultur hinzu. Die Angst vor dem Import globaler Krisen und damit verbunden vor sozialem Abstieg. Bei manchen Menschen führt die Vielzahl der ungelösten Fragen zu dem Wunsch, Probleme lieber wieder national denn im Staatenverbund zu lösen. Sie suchen nach klaren und einfachen Antworten, auch nach starker Führung.
In zahlreichen Ländern Europas erleben wir ein Erstarken des Nationalismus, eine Zunahme von Fremdenhass. Populistische Kräfte, rechte wie linke, entstehen neu oder wachsen. Sie wirken attraktiv selbst für Teile der bürgerlichen Mitte, solange sich diese Bürgerinnen und Bürger nicht mehr von den traditionellen Parteien, nicht mehr von ihren Regierungen und auch nicht mehr von den europäischen Institutionen gehört und verstanden fühlen. Auch in Deutschland beunruhigt uns diese Entwicklung.
Europa ohne Grenzen das hatte jahrzehntelang den Klang von Freiheit und Fortschritt, von persönlichen Chancen und Prosperität. Europa ohne Grenzen weckt heute bei vielen Menschen ganz andere Empfindungen: Angst vor Verlust Verlust von kultureller Identität, Verlust von Sicherheit, Verlust von Wohlstand. Angst vor Überforderung des Sozialstaates und Belastung der Demokratie."Die Europäer" so sagte es kürzlich der bulgarische Soziologe Ivan Krastev "fühlen sich nicht von einer Million Flüchtlingen überwältigt, die um Asyl gebeten haben, sondern von der Aussicht auf eine Zukunft, in der die Grenzen der Europäischen Union ständig von Flüchtlingen oder Migranten bestürmt werden."
Genau das macht die tragische Dimension der Flüchtlingskrise aus. Der Wunsch zu helfen, der Wunsch, in einem humanen Land, einem humanen Europa zu leben, kollidiert mit einer anderen, menschlich sehr nachvollziehbaren Reaktion der Sorge um Identität und Wohlstand, um Sicherheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Und diese Sorge ist in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vor zwei Wochen fand hier ein Bellevue Forum zur Flüchtlingskrise in Europa statt. Dabei wurde deutlich, wie stark Haltungen und Mentalitäten von Gesellschaften und Individuen durch die jeweilige Geschichte geprägt sind. Während die Frage des Zuzugs von Flüchtlingen bei den Gesellschaften im Westen Europas eher gespaltene Reaktionen hervorruft, sind in Mittelosteuropa große Mehrheiten skeptisch bis ablehnend. Zum wiederholten Male erleben wir, wie stark historische Erfahrungen berücksichtigt werden müssen, wenn Kompromisse auf europäischer Ebene erzielt werden sollen.
Allerdings sind nationale Haltungen auch veränderbar, wie das deutsche Beispiel zeigt. Noch in den frühen 1990er Jahren wandten sich viele gegen eine Anzahl von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen, die uns heute deutlich akzeptabler erscheint. Und noch vor zehn Jahren wäre eine so überwältigende Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wie im Sommer 2015 kaum vorstellbar gewesen.
Was wir erlebt haben und erleben, ist die Folge eines Mentalitätswandels, befördert durch praktische Erfahrungen, durch eine Streitkultur, nicht zuletzt durch politische und wirtschaftliche Umstände. Ich weiß natürlich: Es gibt Menschen, die dieser Mentalitätswandel auch in Deutschland noch nicht erreicht hat und vielleicht nicht erreichen wird. Es ist weiterhin nötig, gegen Fremdenhass und Gewalt mit aller Entschlossenheit vorzugehen. Aber es gibt eben auch Ermutigendes aus der jüngeren Vergangenheit zu berichten: die positive Selbsterfahrung, Beispiele des Gelingens auf so vielen Feldern der Integration. Der Maßstab dessen, was einer Gesellschaft gelingen kann, ist sie selbst. Und wir sehen: So wie ein Land und seine Menschen sich verändern, so verändern sich auch die Aufgaben, die ein Land sich zutraut, ja zumuten will und auch muss.
Eines scheint mir jedenfalls klar: Die größte Konstante in Europa ist der Wandel. Er ist und darauf wollen wir auch in Zukunft vertrauen gestaltbar. In diesem Wissen gilt es jetzt gerade jetzt, einzutreten für ein sich erneuerndes Europa.
Die Argumente dafür liegen auf der Hand. Die Gegenwart liefert uns neue Belege dafür. Kein Staat allein ist den globalen Herausforderungen gewachsen: Nicht den Marktverschiebungen nach dem rasanten Aufholprozess vieler Schwellenländer. Nicht den Herausforderungen des Klimawandels. Und auch nicht den neuen geopolitischen Konflikten, die erst die Peripherie unseres Kontinents erreichten und mit den Flüchtlingen in dessen Mitte angekommen sind.
Was mich bei allen Unwägbarkeiten der aktuellen Situation bedingt zuversichtlich stimmt, ist die Erfahrung der vergangenen Jahre. In der Krise hat sich Europa noch immer wieder zusammengerauft. Bei den Rettungspaketen für Griechenland und bei dem Versuch, einen Brexit abzuwenden ist deutlich geworden: Die Mitgliedstaaten können durchaus zusammenhalten, wenn das europäische Projekt insgesamt in Gefahr gerät. In der Not siegt der Wille zum Kompromiss. Ein Schritt zu einem solchen Kompromiss wurde zu Beginn dieser Woche hoffentlich getan. Europa braucht diesen Willen jetzt, um die akuten Probleme zu lösen, und auch, um langfristig Antworten auf große Fragen wie Fluchtursachen und Fluchtverursacher zu entwickeln.
Ich danke Ihnen für die Aktualität, die der Bergedorfer Gesprächskreis bei seiner 161. Runde unter Beweis stellt.
Und für Ihren Mut: Sie werden am Sonntag nicht nur eine, sondern sogar gleich drei Visionen für Europa diskutieren. Von der ersten bis zur letzten Zeile Ihres Programms wird klar: Sie setzen auf die Handlungsfähigkeit der Europäer. Das ist ein gutes, ein wichtiges Signal. Auch wenn wir uns in Europa derzeit oft getrieben fühlen am Ende sind wir es, die am Scheideweg die künftige Richtung bestimmen.