Redner(in): Johannes Rau
Datum: 15. September 2000

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/09/20000915_Rede.html


Deutsche Einigung und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille " - so oder ähnlich ist dieser Satz in den vergangenen zehn Jahren immer wieder zu hören gewesen. Stimmt er immer noch? Viele Bürgerinnen und Bürger fragen skeptisch, ob wir die europäische Einigung wirklich brauchen und wie weit sie gehen soll. Zugleich zweifeln sie, ob sie auf die Entwicklung wesentlichen Einfluss nehmen können. Zweifel und Skepsis nehmen in dem Maße zu, in dem mehr Zuständigkeiten auf die europäischen Institutionen übergehen. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam haben die Einigung vorangebracht: Gemeinsame Währung, gemeinsame Außengrenzen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sind die großen Stationen auf diesem Weg. War die europäische Einigung früher ein fernes Projekt, so wird sie immer stärker unmittelbar und alltäglich erlebbar. Damit werden Klarheit über die Ziele und Transparenz der Entscheidungen immer wichtiger.

Braucht Deutschland die weitere europäische Einigung? Diese Frage ist nicht so banal, wie sie manchem erscheinen mag. Sie muss immer wieder neu gestellt, vor allem aber mit guten Argumenten so beantwortet werden, dass alle interessierten Bürgerinnen und Bürger den Sinn und den Nutzen der europäischen Einigung erkennen können. Deshalb sollten wir uns einige grundlegende Tatsachen immer wieder vor Augen führen:

Natürlich führt der europäische Einigungsprozess dazu, dass jeder Mitgliedstaat auf einen Teil nationaler Souveränität zugunsten gemeinschaftlichen Handelns verzichten muss. Dieser Prozess vollzieht sich seit über vierzig Jahren. Das ist aber nur die halbe Wirklichkeit. Zur anderen Hälfte gehört, dass die Globalisierung die Souveränität der Nationalstaaten gravierend aushöhlt und dass das in einem demokratisch unkontrollierten Prozess geschieht. Die politische Union Europas ist auch darauf die Antwort, weil sie Souveränität, demokratisch bestimmte Macht, wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung längst verloren haben. Der europäische Einigungsprozess bietet die Chance, die Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten klarer zu verteilen und gegeneinander abzugrenzen, in einer offenen, demokratischen Debatte und nicht in einem undurchsichtigen und schleichenden Prozess.

II. Deutschland braucht und will die europäische Einigung - daran kann und darf es in unserem eigenen Interesse keinen Zweifel geben. Darum ist es so wichtig, welche Antworten wir auf die Fragen geben: Welche Form der europäischen Einigung wollen wir? Wie soll der Prozess weitergehen? Auf welches Ziel steuern wir zu? Wir müssen uns auch die Frage stellen: Haben wir in der Vergangenheit ausreichend über den richtigen Weg und über die besten Lösungen gestritten oder blieb die Diskussion zu häufig in oberflächlichem Geplänkel oder eurokratischen Diskursen stecken?

Blicken wir zurück: Um die großen europapolitischen Entscheidungen der zurückliegenden Jahre ist mit Engagement, manchmal mit Erbitterung gerungen worden. Zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam oder zur Einführung des Euro gab es Kontroversen und unterschiedliche Akzente nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der Parteien. Es gab eine kritische öffentliche Debatte, die sich nicht etwa bloß auf den hinteren Seiten der Zeitung wiedergefunden hat. Jede wichtige Weichenstellung ist schließlich in Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit beschlossen worden. Das war so trotz berechtigter Bedenken, und das geschah nicht immer und nicht bei allen mit heller Begeisterung. Anders konnte das auch gar nicht sein, weil es immer Kompromisse geben muss, wenn sich Staaten mit so unterschiedlicher kultureller, historischer und politischer Tradition auf einen gemeinsamen Weg machen. In anderen Mitgliedstaaten gibt es Kritik an Entscheidungen, die dadurch geprägt sind, dass Deutschland bestimmte Forderungen durchgesetzt hat. Auch das gehört zur ganzen Wirklichkeit.

III. Seit einigen Monaten wird wieder intensiv über das europäische Einigungswerk diskutiert, aus gutem Grund: Wir stehen vor Entscheidungen, die das Gesicht des vereinten Europa entscheidend prägen werden. Dazu gehört, dass der Euro in den Portemonnaies der Bürgerinnen und Bürger die nationalen Währungen Europas schon bald ersetzen wird. Vor allem gehört dazu aber die anstehende Erweiterung der Europäischen Union, die ja - und das sollten wir nicht vergessen - eine Folge jener weltgeschichtlichen Entwicklung ist, die uns Deutschen die staatliche Einheit gebracht hat.

Die Erweiterung und die dafür nötigen Voraussetzungen führen uns überdeutlich vor Augen, dass die Verfahren, nach denen Europa bisher gebaut und gesteuert wurde, reformbedürftig sind. Die Methoden, mit denen 1958 sechs Staaten beschlossen, eine Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen, taugen nicht für den politischen Zusammenschluss von eines Tages mehr als zwei Dutzend Staaten.

Wir stehen an einer Wegscheide. Darum genügt es nicht, an einigen Stellschrauben von Abstimmungsverfahren zu drehen. Wir brauchen ein überzeugendes europäisches Zukunftsprojekt mit dem Mut, neue Wege zu gehen. Wir brauchen die Zustimmung aller Europäerinnen und Europäer zu einem modernen Europa, das mit seinen Traditionen, Werten und Interessen unsere eine Welt mitgestalten kann. Jede und jeder muss sich darin wiederfinden können - mit seinen Möglichkeiten und Chancen, mit seinen Traditionen und Überzeugungen. Wir brauchen ein verständliches und überzeugendes Projekt, nicht sieben Verträge mit dreizehn Nachträgen und fünfundzwanzig Veränderungen, durch deren Paragraphendschungel sich nur noch hochspezialisierte Experten lavieren können.

Wir brauchen eine europäische Verfassung.

IV. Ich habe im November des vergangenen Jahres in einem Artikel für eine föderale Verfassung Europas geworben. Joschka Fischer hat mit seiner Rede an der Humboldt-Universität im Mai für dieses Anliegen neue Aufmerksamkeit gefunden. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hat sich im Juni vor dem Deutschen Bundestag unmissverständlich für eine europäische Verfassung ausgesprochen. Das waren Signale, über die ich mich besonders gefreut habe.

Gemeinsam mit dem italienischen Staatspräsidenten Ciampi habe ich die Schirmherrschaft für eine Konferenz europäischer Forschungsinstitute im November 2000 in Mailand übernommen, bei der die notwendigen Bestandteile einer europäischen Verfassung erörtert werden sollen: die Grundrechtscharta, ein europäischer Kompetenzkatalog in klarer Abgrenzung zu nationalen und regionalen Kompetenzen und europäische Institutionen, die demokratische Legitimation und politische Handlungsfähigkeit miteinander verbinden.

Welchem Bauplan sollte ein so konstruiertes Europa folgen? Es handelt sich um eine europäische Föderation. Kaum ein Begriff ist in Europa so umstritten wie der des Föderalismus. Dabei ruft er ganz gegensätzliche Befürchtungen hervor: Verstehen die einen darunter einen Bundesstaat mit übermächtigem Zentrum, so sehen die anderen die Gefahr, dass die staatliche Handlungsfähigkeit verloren geht, weil zu viele Entscheidungsstrukturen miteinander konkurrieren. Ich werde nicht aufhören, auf eines aufmerksam zu machen: Ziel eines föderalen Systems ist es, Macht zu verteilen, nicht sie zu konzentrieren. Die vertikale Gewaltenteilung - die Verlagerung der Macht auf unterschiedliche Entscheidungsebenen - findet ihre Begründung vor allem in der Rücksichtnahme auf nationale, regionale und lokale Eigenheiten.

Eine europäische föderale Ordnung kann daher nur das Ziel haben, den kulturellen Reichtum und die historisch gewachsenen unterschiedlichen Identitäten aller Teile unseres Kontinents zu bewahren. Nur wenn wir sicherstellen, dass sie nicht den Zwängen einheitlicher Regelungen unterworfen werden, können wir die Zustimmung unserer Bürger für Europa bekommen - oder da zurückgewinnen, wo Skepsis gewachsen ist. Ein föderales Europa kann und darf nicht bedeuten, dass die bewährten Verfassungen seiner Mitgliedsstaaten durch ein einheitliches Modell ersetzt werden.

Der erste Teil einer europäischen Verfassung ist auf gutem Wege: Die Staats- und Regierungschefs werden auf ihrem nächsten Treffen in Nizza eine Charta der Grundrechte beraten. In ihr sollen jene Werte und Überzeugungen festgeschrieben werden, die allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam sind. Der vorliegende Entwurf macht deutlich, dass dabei nicht nur die klassischen Bürger- und Freiheitsrechte festgeschrieben werden, sondern auch soziale Grundrechte, wie sie in den Ländern Europas Solidarität und Gerechtigkeit lebendig werden lassen. Dabei werden die sehr unterschiedlichen Rechtsquellen zu berücksichtigen sein, aus denen sich soziale Rechte in den Mitgliedsstaaten ergeben. Es muss klar sein, dass europäische Grundrechte nur die Entscheidungen europäischer Institutionen und deren Umsetzung binden. Diese Charta muss eines Tages den ersten Teil einer Verfassung bilden.

Die politische Einigung, die auf dem Gipfel von Nizza über die Charta hoffentlich erzielt wird, muss der Auslöser für eine breit angelegte öffentliche Diskussion über die beiden anderen Teile der Verfassung sein. Feste Regeln und ein Zieldatum sollten dafür sorgen, dass die Debatte nicht der Beliebigkeit oder der selektiven Aufmerksamkeit überlassen bleibt.

Worum muss es im zweiten Teil der Verfassung gehen? Wir müssen präzise festlegen und abgrenzen, wer in Europa für welche Entscheidungen zuständig ist. Dabei sollten wir uns von einem bewährten Grundgedanken leiten lassen: Eine höhere Ebene darf sich nur dann mit einer Angelegenheit befassen, wenn sie auf einer unteren Ebene nicht besser geregelt werden kann. Nicht jede kommunale Zuständigkeit bedarf der Landtagsberatung, nicht jede Landesangelegenheit gehört in den Bundestag, nicht jede Frage, die im britischen Unterhaus, dem Deutschen Bundestag oder dem portugiesischen Parlament besser erledigt werden kann, bedarf europäischer Aufmerksamkeit. Ein Katalog klarer Zuständigkeiten, in verständlicher und eindeutiger Sprache gehalten, machte jedem Bürger, jeder Kommune oder jeder Region auch klar, wofür die Europäische Unionnichtzuständig und damit nicht verantwortlich ist.

Drittens: Die europäischen Institutionen müssen klarer als heute den Anforderungen der Gewaltenteilung entsprechen und zugleich sicherstellen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas durch Wahl und Vertretung Einfluss auf jene Entscheidungen nehmen können, die ihr Leben prägen. Ich bleibe dabei: Jede Föderation mit so vielen Mitgliedsstaaten unterschiedlicher Größe und Bevölkerungszahl braucht ein doppeltes System der Repräsentation: eines, in dem jeder Bürger mit einer Stimme zählt, und ein zweites, in dem jeder Mitgliedsstaat unabhängig von seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl mit seiner Stimme zur Geltung kommt.

V. Die drei Abschnitte der Verfassung - Grundrechtskatalog, Zuständigkeitsregelungen und Verhältnis der Institutionen - geben einem Europa Gestalt, wie wir es uns für morgen wünschen können: ein Zusammenschluss von Staaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Handeln Souveränität und praktische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Ein solches Europa wird die internationalen Beziehungen nach unseren Vorstellungen mitgestalten können. Im Zeitalter der Globalisierung werden sich die europäischen Völker als Staatsbürgernationen in einer solchen Föderation besser wiederfinden als im hilflosen Verharren in nationaler Nostalgie oder gar in nationalistischen Reflexen.

Wir können ein solches Europa bauen, ein Europa, das unser aller Vorteil befördert und in dem niemand seine Besonderheiten preiszugeben braucht. Für ein solches Europa lohnt es sich zu arbeiten! Deshalb muss die Diskussion über die Zukunft des europäischen Einigungswerkes neu belebt werden. Das europäische Einigungswerk braucht produktiven Streit. Es braucht die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, damit die Zustimmung der europäischen Öffentlichkeit wächst.