Redner(in): Johannes Rau
Datum: 13. Oktober 2000
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/10/20001013_Rede2.html
Redevon Bundespräsident Johannes Raubei der Verleihung desHans-Böckler-Preises 2000am 13. Oktober 2000 in Potsdam
I. Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den Medien gibt es Konjunkturzyklen:
Vor kurzem noch beherrschte die Preisentwicklung bei Benzin und Heizöl die Schlagzeilen.
Ich habe Verständnis für die Sorgen von vielen, die es trifft, dass der Ölpreis sich in den vergangenen zwölf Monaten verdoppelt hat. Für Hysterie oder Panik gab und gibt es aber keinen Grund.
Wir dürfen nicht der alten deutschen Neigung frönen, uns selber in die Depression zu reden. Dazu besteht kein Anlass.
Ich sage das nicht, weil ich glaube, dass wir Grund hätten, uns zurückzulehnen und uns selber auf die Schulter zu klopfen.
Ich sage das, weil wir uns selber schaden, wenn wir die vielen positiven Signale in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt aus dem Blick verlieren.
Dann schaden wir der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Abbau der Arbeitslosigkeit, weil Wirtschaftspolitik bekanntlich zu 50 % Psychologie ist.
II. Hinter der Freude, dem Ärger oder der Sorge über jeweils aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen führen wir aber seit einigen Jahren eine andere Debatte, bei der es um grundsätzlichere Fragen geht.
Nicht nur in Deutschland gibt es - ein zum Teil klar ausgesprochenes, zum Teil aber auch diffuses - Unbehagen darüber, dass wirtschaftliche Interessen immer stärkeren Raum einnehmen und dass die Logik der Wirtschaft in immer mehr Felder der Gesellschaft vordringt. Es gibt ein Unbehagen darüber, dass von nicht wenigen behauptet wird, es sei für die Gesellschaft sogar von Vorteil, wenn die Logik des Wettbewerbs in allen Bereichen der Gesellschaft gelte.
Verstärkt wird dieses Unbehagen durch die wachsende Globalisierung der Wirtschaft, die keine Grenzen mehr kennt, aber auch keinen Rahmen, keine Begrenzungen wirtschaftlichen Handelns mehr anzuerkennen scheint.
Lassen Sie mich dazu folgendes zitieren: "Das größte Problem unserer Generation besteht darin, dass unsere Erfolge auf wirtschaftlicher Ebene den Erfolg auf der politischen Ebene dermaßen übertreffen, dass Wirtschaft und Politik nicht miteinander Schritthalten können. Ökonomisch ist die Welt eine umfassende Handlungseinheit. Politisch ist sie zerstückelt geblieben."
Diese Aussage stammt nicht von Kritikern der Globalisierung, sondern aus der renommierten Wirtschaftszeitung "Economist". Das Zitat stammt aus einem Artikel, der im Jahr 1930 erschienen ist, kurz nach der Weltwirtschaftskrise.
Was heute als "Globalisierung" bezeichnet wird, ist also nicht so neu, wie manche glauben. Umwälzende technische Veränderungen, die stark gewachsene Bedeutung der Finanzmärkte und der Wegfall der Blockkonfrontation zwischen Ost und West haben aber zu einer Dynamik von neuer Qualität geführt, deren Ende nicht abzusehen ist.
III. Darum stellt sich heute die Frage noch drängender, was wir dafür tun können und müssen, dass die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft gesichert bleibt und wie wir verhindern können, dass die Logik des Marktes auch jene Bereiche der Gesellschaft durchdringt, in der sie keine Geltung beanspruchen kann.
Es ist gut und richtig, dass wir die Bedingungen für erfolgreiches Wirtschaften so günstig wie möglich gestalten - auf der Angebotsseite und auf der Nachfrageseite.
Genauso wichtig nehmen müssen wir aber die Frage, wie wir die Werte in unserer Gesellschaft sichern und wirkungsmächtig erhalten können, die nicht an der Börse gehandelt werden.
Jeder von uns weiß, dass es viele Dinge im Leben gibt, die man nicht kaufen kann, ohne die uns aber viel fehlte.
Das gilt für jeden Einzelnen von uns. Das gilt aber auch für die gesamte Gesellschaft.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, das sind Werte, die wirtschaftlichem Handeln vorgegeben werden müssen, weil der Markt sie nicht verwirklichen kann. Gleichzeitig ist die Marktwirtschaft aber auch notwendiger Bestandteil unserer freiheitlichen politischen Ordnung.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität - diese Grundwerte gründen auf einem Menschenbild, das sich aus den abendländisch-christlichen Traditionen und aus der Aufklärung speist. Beide haben unsere europäische Kultur tief geprägt und ich sehe keinen Grund dafür, dass wir diese Kultur aufgeben sollten.
IV. Art. 14, Abs. 2 unseres Grundgesetzes lautet: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Darum sagt unser Grundgesetz auch, dass die Bundesrepublik Deutschland ein "demokratischer und sozialer Rechtsstaat" ist.
Das Grundgesetz verpflichtet uns dazu, Gerechtigkeit zu üben, sozialen Ausgleich zu suchen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Die Gesellschaft soll und darf nicht auseinanderfallen in solche, die im Lichte und in solche, die im Schatten stehen.
Für mich lautet das, was man "Sozialstaatsauftrag" nennt, in wenigen Worten:
Gleiche Lebenschancen für alle.
Nicht: Gleiche Lebenswege.
Nicht: Gleiches Leben.
Nein, es geht nicht darum, die Unterschiede zwischen den Menschen zu leugnen. Aber es geht darum, dass Unterschiede, die es gibt, nicht zu krasser sozialer Ungleichheit führen.
Jede und jeder muss die gleichen Chancen haben, seine Anlagen zu entfalten und das eigene Leben zu gestalten.
Der Staat des Grundgesetzes hat eine doppelte Aufgabe: Zum einen muss er die notwendigen Freiräume für jeden Einzelnen schaffen und sichern, zum anderen muss er natürliche und soziale Benachteiligungen auszugleichen suchen, soweit das menschenmöglich ist.
Der Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes hat für staatliches Handeln die gleiche grundlegende Bedeutung wie das Gewaltmonopol des Rechtsstaates.
Nur wenn der demokratische Staat für soziale Gerechtigkeit sorgt, kann er auch den inneren Frieden bewahren.
V. In unseren modernen Gesellschaften geht es sehr häufig unübersichtlich und kompliziert zu. Das gilt auch für staatliches Handeln, für den Rechtsstaat genauso wie für den Sozialstaat.
Das ist einer der Gründe, warum es seit vielen Jahren Diskussionen darüber gibt, in welcher Weise der Sozialstaat besser und gerechter organisiert werden kann.
Nach meiner festen Überzeugung darf es aber nicht darum gehen, den Sozialstaat - offen oder versteckt - in Frage zu stellen. Auch das geschieht ja.
Alle Erfahrung spricht aber dafür, dass die Wege und die Maßnahmen, mit denen soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden können, nicht ein für alle Mal feststehen.
Die Diskussion über den Sozialstaat und die sozialpolitischen Debatten leiden nach meinem Eindruck häufig darunter, dass nicht deutlich unterschieden wird zwischen Zielen und Instrumenten, dass Maßstäbe und Maßnahmen nicht deutlich auseinander gehalten werden.
Darum ist es gut, wenn wir uns immer wieder einmal ganz einfache Sachverhalte klarmachen, die Orientierung geben können und sollten.
Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit werden nicht dann am besten erfüllt, wenn möglichst viel Geld für soziale Aufgaben ausgegeben wird.
Richtig wäre diese Sicht nur dann, wenn wir den Sozialstaat als Reparaturbetrieb der Gesellschaft missverstünden.
Aber auch hier muss doch gelten, dass Vorsorgen besser ist als Heilen!
Armut zu bekämpfen ist mindestens genauso wichtig wie Armen zu helfen.
Not zu vermeiden ist mindestens genauso wichtig wie Not zu lindern.
Staatliches Handeln, das den Sozialstaatsauftrag ernst nimmt, muss das Ziel haben, dass es möglichst wenig Arbeitslose gibt und nicht möglichst viel Arbeitslosengeld, dass es möglichst wenig Sozialhilfeempfänger gibt und nicht möglichst viel Sozialhilfe, dass es möglichst wenige gibt, die Wohngeld nötig haben und nicht möglichst viel Wohngeld.
Wer den Sozialstaatsauftrag ernst nimmt, muss dafür sorgen, dass die Ausgaben für Arbeitslosigkeit sinken, weil die Zahl der Arbeitslosen abnimmt und nicht weil das Arbeitslosengeld gekürzt wird.
Er muss dafür sorgen, dass die Sozialhilfeausgaben sinken, weil die Zahl derer sinkt, die darauf angewiesen sind und nicht, weil die Sozialhilfe gekürzt wird.
Er muss dafür sorgen, dass die Ausgaben für Wohngeld zurückgehen, weil die Zahl derer zurückgeht, die darauf angewiesen sind und nicht, weil das Wohngeld gekürzt wird.
Der Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes gilt nicht nur für die Sozialpolitik. Er gilt für alle Felder staatlichen Handelns.
Dazu gehören die Bildungspolitik und der Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur genauso wie die Steuerpolitik und die Familienpolitik.
Darum rate ich dazu, dass wir uns in der Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates zunächst mit dem beschäftigen, was wir wollen und welche Maßstäbe gelten sollen.
Nur wenn Klarheit darüber besteht, kann man sinnvoll über ganz konkrete Instrumente, über Maßnahmen und Wege sprechen.
VI. Wer die Zukunft bestimmen will, darf nicht nur dem angeblichen Verlust von Werten nachtrauern. Er muss vielmehr unter veränderten Bedingungen versuchen, das, was er für richtig hält, immer neu mit Leben zu erfüllen. Das betrifft vor allem die Fragen, die mit der sozialen Gerechtigkeit und mit der Qualität unseres Lebens zu tun haben.
Wenn wir formulieren, nach welchen Ideen wir leben wollen, welche Ziele wir uns setzen, welche Orientierung wir uns selber und anderen geben wollen, dann begegnen wir immer häufiger dem Vorwurf, weltfremden Idealen oder gar Ideologien anzuhängen.
Viele sagen, mit dem Jahre 1989 sei das Jahrhundert der Ideologien zu Ende gegangen.
Das sehe ich nicht so, denn diese Aussage ist selber ein Stück Ideologie. Ja, vielerorts haben sich ein Denken und eine Haltung etabliert, die man durchaus als neue Ideologie kennzeichnen kann.
Ich meine den Anspruch, alle Lebensbeziehungen, alle Interessen der Gesellschaften und Staaten den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen.
Gewiss: Für die wirtschaftliche Welt ist der Markt unverzichtbar. Und innerhalb des Rahmens der sozialen Marktwirtschaft hat er uns insgesamt großen Wohlstand gebracht. Aber nun scheint der unbeschränkte, globalisierte Markt weiter zu greifen und mehr erfassen zu wollen als die Wirtschaftswelt.
Seine Herrschaft scheint alles in Frage zu stellen, was bisher Gewicht und Bedeutung hatte: Kulturelle und regionale Identität, nationale Souveränität, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und Wertorientierungen.
Die Ökonomie, der Wettbewerb scheint das einzige Koordinatensystem zu sein, das über Wert und Unwert von Ideen und Plänen, von Projekten und Orten bestimmt.
Es wird manchmal so getan, als gebe es keine anderen tauglichen Maßstäbe mehr für das Zusammenleben der Menschen als die ökonomische Rationalität. Dieses Denken und eine Praxis, die sich daran orientiert, trägt Züge einer Ideologie, die Demokratie und soziale Stabilität gefährdet.
Besonders gefährlich sind Ideologien, die sich als solche nicht wahrhaben wollen.
VII. Aller Ideologie, auch der der Herrschaft des bindungslosen Marktes, liegt - bewusst oder unbewusst - ein Menschenbild zugrunde. Immer wieder wird ein neuer Typ Mensch propagiert.
Auch die Ideologie, die eine Modernisierung um fast jeden Preis durchzusetzen versucht, schafft das Bild eines neuen Menschen. Es ist der Mensch, der den Gesetzen des Marktes perfekt angepasst ist. Es wird davon gesprochen, dass die Menschen sich selbst neu definieren sollen. Sie sollen sich jetzt und in Zukunft verstehen als "Ich-Unternehmer" oder als "Ich-AG".
Die dazu gehörigen neuen Werte heißen "Flexibilität","Mobilität", und "Durchsetzungsfähigkeit". Individuelle "Wettbewerbsfähigkeit" soll am besten vom Grundschulalter an gelernt werden. So positiv diese Worte klingen - haben sie nicht auch etwas vom Orwellschen "Neu-Sprech" an sich?
Tatsächlich bringen uns die neuen Entwicklungen eine Menge Freiheiten und Möglichkeiten: Die lebenslange Beschäftigung an ein- und demselben Arbeitsplatz, die lebenslange Ausübung eines vor Jahrzehnten gelernten Berufs sind ja nicht aus sich heraus erstrebenswerte Ideale.
Wer öfter wechselt, sieht mehr vom Leben und von der Welt, bekommt mehr Erfahrungen, kann das hier gelernte dort in anderen Zusammenhängen neu einsetzen. Es wächst die Bereitschaft, sich fortzubilden, in neue Bereiche einzusteigen, ja, ein Leben lang hinzuzulernen.
Man möchte ja auch nicht mehr ein- für allemal festgelegt sein.
Der umfassende Einsatz moderner Kommunikationstechnik wird es vielleicht auch möglich machen, dass immer mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten können.
Die Kehrseite der gegenwärtigen Entwicklung beschreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Buch ' Der flexible Mensch ' . Bei ihm kann man nachlesen, was diese neue Freiheit - die für viele ja keine Freiheit, sondern ein Zwang ist - kostet: Sie bedeutet den weitgehenden Verzicht auf ökonomische und soziale Sicherheiten:
Unternehmen zerfallen oder fusionieren, Jobs tauchen auf und verschwinden, wenig Stabilität also, viel Kurzfristigkeit.
Das schafft ein Leben, das aus Episoden, ja aus Fragmenten besteht: ein Leben mit wenig Kontinuität. Das erschwert menschliche Bindungen, die von Vertrauen, Verpflichtung und Verlässlichkeit leben, und das kann dauerhafte Beziehungen sehr schwer machen.
Wer Flexibilität zum einzigen Maßstab macht, der muss wissen, dass dann wichtige Wärmeströme unserer Gesellschaft ausgeschaltet werden.
Wenn wir zu modernen Nomaden werden sollen: Wie soll sich dann bürgerschaftliches Engagement entwickeln, das gerade heutzutage so stark gefordert wird?
Wie soll sich einer für seinen Stadtteil, seinen Verein, die Schule seiner Kinder engagieren, wenn er weiß, dass er in zwei Jahren wohl wieder umziehen muss?
Wie werden wir motiviert zu bürgerschaftlichem Engagement, wenn wir vor allem mit dem Kurswert unserer Ich-AG beschäftigt sind?
Wer wird bereit sein zur aktiven Nachbarschaftshilfe, zur Pflege der Städte, zur Bewahrung und Förderung von Kultur und Kunst, wenn er immer auf der Durchreise ist?
Es ist schon paradox: Zum Teil sind es dieselben Stimmen, die den neuen, flexiblen Menschen propagieren und die gleichzeitig danach rufen, den sogenannten Werteverfall aufzuhalten.
Es sind oft die gleichen, die am liebsten alles privatisieren und dem Individuum zumuten wollen und gleichzeitig die Fragmentierung der Gesellschaft beklagen.
Man spürt doch, dass die Gesellschaft nur zusammengehalten werden kann, wenn es bei allem Denken in den Kategorien von wirtschaftlichem Erfolg und Effizienz auch Mitmenschlichkeit, Beständigkeit, Treue, Verlässlichkeit und freiwilliges bürgerliches Engagement gibt, wenn die Balance gehalten wird zwischen freier Selbstentfaltung des Einzelnen und der Bereitschaft zur Solidarität.
Tatsächlich sind diese traditionellen Werte nicht nur im Bereich von Familie und Freundschaft unverzichtbar, nicht nur im Bereich der lokalen und kommunalen Beziehungen, sondern auch im Wirtschaftsleben selbst. Gerade hier müssen zum Beispiel Vertragstreue, menschlicher Anstand und Verlässlichkeit regieren - wenn nicht der eine des anderen Wolf werden soll. Diese Überlegung steckt doch auch hinter der Idee von dersozialenMarktwirtschaft.
Dazu braucht es Erziehung und Charakterbildung. Dazu braucht es Werte und Tugenden, die der Markt nicht produzieren, ohne die er aber nicht funktionieren kann. Und wir brauchen und wir wollen ja einen funktionierenden Markt als Gestaltungsprinzip der Wirtschaft.
Dazu kommt, dass es in einer Gesellschaft, dienurnoch durch das Marktprinzip bestimmt wäre, keinen Platz gäbe - sagen wir es einmal in der entsprechenden Sprache - für die "Unproduktiven" und für die "Konsumschwachen".
Eine Gesellschaft, die sich nur noch nach den Gesetzen des Marktes formiert, würde das Überleben des Stärkeren oder des Anpassungsfähigeren zum obersten Grundsatz erheben. Das klingt vielleicht hart - aber wir sollten uns die Konsequenzen von Einstellungen ruhig deutlich machen.
In unserer Gesellschaft müssen auch künftig die Behinderten und unheilbar Kranken, die Armen und die weniger Intelligenten, die Schwachen und Hilflosen einen Platz haben - keinen geduldeten, sondern einen selbstverständlichen, mit gleicher Würde und gleichen Rechten wie alle.
VIII. Wenn sich ein Gemeinwesen nicht völlig den Gesetzen des Marktes ausliefern will, dann muss es sich trauen und zutrauen, die Sinnressourcen zu schützen, die sich aus anderen Quellen speisen.
Ein Beispiel ist die Diskussion um die Ladenöffnungszeiten, die es offenbar in jedem Sommer geben muss. Grundsätzlich halte ich es durchaus für richtig, über mögliche Änderungen beim Ladenschluss zu sprechen.
Wir sollten aber wissen: Nicht alles, was auf den ersten Blick "kundenfreundlich" erscheint, ist auch im weitesten Sinne "menschenfreundlich". Lebensqualität ist mehr, als rund um die Uhr einkaufen zu können.
Der Sonntag steht als Symbol dafür, dass menschliche Bedürfnisse und menschliche Beziehungen aus mehr bestehen als aus kaufen und verkaufen, als aus Arbeit und Verdienst. Es ist Aufgabe des Staates, den Sonntag, die Ruhe- und Feiertage, zu schützen und so eine Voraussetzung für humanes Leben zu schaffen.
Zu den unverzichtbaren Aufgaben des Staates gehört der Schutz der Familie. Sie ist schon heute oft ein sichtbares Opfer der allgegenwärtigen Forderung nach Mobilität und Flexibilität.
Es liegt in der paradoxen Logik der Gegenwart, dass wir zwar angeblich auf Zukunft und Wachstum ausgerichtet sind, dass sich aber gleichzeitig diejenigen, die sich trauen und zutrauen, ein Kind oder gar mehrere Kinder zu erziehen - und damit eben auch unser aller Zukunft sichern - , sich heute oft wie gesellschaftliche Außenseiter und ökonomische Idioten vorkommen müssen.
Ich brauche niemanden an die Kinder und Jugendlichen zu erinnern, die alleingelassen sind, die sozial verwahrlosen oder gar zu Straftätern werden. Wenn wir die Erziehungsbereitschaft und -verantwortung der Eltern fordern, dann müssen die Eltern auch in die Lage sein, diesem Anspruch gerecht werden zu können.
Familien brauchen Hilfe. Finanzielle Unterstützung ist wichtig, da schafft die Steuerreform Erleichterung. Familien brauchen aber auch gesellschaftliche Unterstützung: Betriebe, die sich um Familienfreundlichkeit bemühen, sollten Anreize bekommen und belohnt werden.
Die Kindergarten- und Schulöffnungszeiten könnten und müssen noch besser auf die Berufstätigkeit der Eltern abgestimmt werden, Teilzeitarbeit könnte noch stärker gefördert und Job-Sharing steuerlich reizvoller gestaltet werden.
Das Bildungssystem ist bei uns zu weiten Teilen staatlich. Wenn der Staat für eine möglichst gute Bildung seiner jungen Bürgerinnen und Bürger sorgt, dann nicht nur, um den Standortvorteil der "Deutschland-AG" zu sichern, das natürlich auch. Aber es ist zunächst eine Frage der Gerechtigkeit, jedem durch Bildung die gleichen Chancen zu geben, sich zu entfalten, seinen Platz in Gesellschaft und Arbeitsleben zu finden, für sich sorgen zu können und am kulturellen Reichtum teilzuhaben.
Die neuen Medien, vor allem das Internet, bieten ungeahnte Chancen. Auch hier muss der Staat, nicht nur in den Schulen, dafür sorgen, dass alle, die wollen, daran kompetent teilnehmen können. Eine Teilung der Gesellschaft in online- und offline-Bevölkerung kann zu einer neuen anderen Spaltung führen.
Eine besondere Aufgaben sehe ich darin, die immer schnelleren Entwicklungen bei den neuen Medien nicht an den älteren Generationen vorbeilaufen zu lassen. Aus der sich entwickelnden Internet-Welt dürfen sie nicht ausgeschlossen werden. Es muss unser gemeinsames Interesse sein, - und es ist eine Frage der Gerechtigkeit- , dass alle teilhaben können.
Manche Aufgaben des Staates sind in der globalisierten Welt gewiss neu zu definieren. Eines aber gilt unverändert: Ein Gemeinwesen, ein Staat, der sich nicht zum Ziel setzte, Gerechtigkeit zu schaffen, wie immer sie im konkreten Fall aussieht, wäre nichts anderes als eine gemeine Räuberbande, ein "latrocinium", wie es schon Augustinus im vierten Jahrhundert gesagt hat.
Aufgabe des Staates bleibt es daher, die Freiheitsrechte und die sozialen Rechte, die in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten erkämpft worden sind, zu bewahren und zu verteidigen, damit nicht schrankenlose wirtschaftliche Freiheit zu individueller Unfreiheit und zu sozialen Verwüstungen führt.
Dazu ist der Staat allerdings auch auf nicht-staatliche Institutionen angewiesen: Auf solche, die Gerechtigkeit und Solidarität fördern und die sich um Hilfe für Schwächere kümmern. Institutionen, die nicht nur auf die Gegenwart orientiert sind, sondern auch um die Zukunft der nachfolgenden Generationen besorgt sind.
IX. Dazu gehören traditionell - ich hoffe aber auch in Zukunft - die Gewerkschaften. Gewiss sind sie auch eine Interessengemeinschaft, aber ihre Interessen orientieren sich an Werten wie der Würde des arbeitenden Menschen. Für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens sind sie unverzichtbar.
Im idealen Fall kommen in den Gewerkschaften die Erfahrungen der Basis und das politische Gespür derer zusammen, die auf allen Ebenen besondere Verantwortung tragen. Neue Entwicklungen werden sofort registriert. Gewerkschaftssekretäre, Betriebsräte und Vertrauensleute werden unmittelbar mit den dramatischen Strukturveränderungen konfrontiert - mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen durch Fusionen, durch Verlagerung, durch technisch bedingte Rationalisierung.
Darum sind viele Gewerkschafter in den vergangenen Jahren auch zu Experten für betriebliche Innovation geworden. Sie haben mit Unterstützung von außen neue Produktionskonzepte entwickelt, neue Organisationsmodelle auf die Beine gestellt, neue Vorstellungen über die Organisation der Arbeit entwickelt und mit ihren Geschäftsleitungen diskutiert.
Ich kenne viele weitsichtige Unternehmer und Manager, die das anerkennen und die wissen, dass man dieses Engagement nicht hoch genug einschätzen kann - und ich kenne viele Länder, die uns um unsere Gewerkschaften beneiden.
Wie andere große Organisationen mit langer Tradition haben auch Gewerkschaften aber mit eigenen strukturellen Problemen zu kämpfen: Oft fehlt der Nachwuchs. Was auch immer die Gründe sein mögen -hier müssen die Gewerkschaften bei sich selber etwas tun.
Junge Leute können nur gewonnen werden, wenn sie das Gefühl haben, wirklich etwas bewegen und gestalten zu können."Mitbestimmung" - so müsste ihnen vermittelt werden - ist weit mehr als ritualisierte Gremienarbeit.
Wir müssen "Mitbestimmung" in einem sehr umfassenden Sinne verstehen, nämlich als humane und demokratische Bedingung dafür, dass Menschen menschlich sein wollen und das heißt: sie wollen selber handeln und nicht nur behandelt werden.
Wenn es gelänge, diesen Grundgedanken zu vermitteln und zu verwirklichen, dann werden auch wieder mehr junge Menschen für gewerkschaftliches Engagement zu begeistern sein. Dazu brauchen die Gewerkschaften kreative Geister und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen und neue Gedanken und neue Konzepte zuzulassen. Nur dann bleiben sie einflussreich genug, die Interessen der Arbeitnehmer wirkungsvoll zu vertreten und Reformvorhaben in allen gesellschaftlichen Bereichen maßgeblich mitzugestalten.
Das wäre auch im Sinne des unvergessenen Hans Böckler, der sich wie kaum ein anderer um die Durchsetzung und die Gestaltung der Mitbestimmung in Deutschland verdient gemacht hat. Wenn wir in seinem Namen einen Preis verleihen, dann sind wir auch in der Pflicht, Erreichtes zu bewahren und neue Wege zu gehen, zum Wohl der arbeitenden Menschen in unserem Land.
X. Mit der Verleihung des Hans-Böckler-Preises ist wie immer das "Europäische Gespräch" verknüpft. Sein diesjähriges Thema "Bündnisse für Arbeit in Europa" bietet die Chance, die Erfahrungen, die unsere europäischen Nachbarn mit solchen Bündnissen gemacht haben, für unser deutsches "Bündnis für Arbeit" zu nutzen.
Europa muss auch für die Gewerkschaften das Stichwort der Stunde sein. Die europäische Einigung wird uns ohne eine starke Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht gelingen. Die Unternehmen agieren frei auf den internationalen Märkten, deshalb müssen auch die Gewerkschaften ihre Zusammenarbeit verstärken. Auf europäischer Ebene wird sich das machen lassen, da bin ich ganz sicher. Es gibt ja auch gute Ansätze. Die europäische Zusammenarbeit gibt auch den Gewerkschaften die Chance, jene Handlungsfreiheit und jene Aktionsmöglichkeiten zurückzugewinnen, die ihnen auf nationaler Ebene oft bereits abhanden gekommen sind.
Ich freue mich sehr darüber, dass Sie, verehrter Graf Davignon, den diesjährigen Hans-Böckler-Preis verliehen bekommen. Ich möchte Ihnen ganz herzlich dazu gratulieren. Sie haben diese Auszeichnung verdient. Mit Ihrer hohen fachlichen Kompetenz und Ihrem großen Engagement haben Sie maßgeblich dazu beigetragen, dass Regelungen zur Mitbestimmung auch für europäische Aktiengesellschaften gelten.
Wie Sie wissen, haben wir Deutsche mit der Mitbestimmung gute Erfahrungen gemacht. Zum "Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg hat entscheidend beigetragen, dass die Interessen der Arbeitnehmer in den Unternehmen vertreten und sie an den Entscheidungen beteiligt waren. Alle gemeinsam trugen die Verantwortung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Bei allen Unterschieden unserer Traditionen eint uns in Europa die Überzeugung, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, dass sie gleichwertig und füreinander verantwortlich sind. Das ist die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben, das die Freiheit des einzelnen mit der Bereitschaft zu solidarischem Handeln verbindet. Das müssen wir bewahren, ausbauen und zu einem Kern europäischer Identität machen.
Wir wollen Europa zu einem sozialen Europa ausbauen. Die Charta der Grundrechte soll nicht nur die klassischen Bürger- und Freiheitsrechte umfassen, sondern auch die sozialen Grundrechte, die in den Ländern Europas Solidarität und Gerechtigkeit begründen.
Klaus Murmann, der zehn Jahre an der Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände stand und deshalb als unparteiischer Zeuge zitiert werden darf, hat darauf hingewiesen, wie sehr der Kenntnisstand der Arbeitnehmer eine Hilfe für unternehmerische Entscheidungen ist. Viele Prozesse, hat er einmal gesagt, wären ohne Einbindung der Belegschaftsinteressen "viel, viel unsozialer, stockender, in jeder Hinsicht schlechter" verlaufen.