Redner(in): Johannes Rau
Datum: 20. Oktober 2000

Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2000/10/20001020_Rede.html


In einer vor kurzem erschienen, hochgelobten wissenschaftlichen Studie "Models of Capitalism" zeigt der Autor, dass es für wirtschaftliches Wachstum bis heute keine umfassende Erklärung, also auch keine Rezepte gibt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte: "Der Wohlstand der Nationen mag durch den Geist des Neoliberalismus befördert werden oder durch die soziale Marktwirtschaft oder durch den Weihnachtsmann: Nach Lage der Dinge sind alle drei gleichermaßen kompetent."

Ich stelle dieses Zitat meinen Gedanken über Glaube in der Wissensgesellschaft voran, weil man daran zweierlei in aller Kürze erkennen kann: In der Wissensgesellschaft gibt es offenbar, selbst bei zentralen Themen, Erklärungs- , also Wissenslücken. Wo das gilt, da greift man zurück auf Glauben, wenn ich den Weihnachtsmann einmal als entfernten säkularisierten Verwandten des Glaubens begreifen darf.

Glauben und Wissen: Ich möchte zunächst nur einigen Assoziationen nachgehen, die sich mit den beiden Begriffen verbinden und ich möchte mich mit unserer alltäglichen Vorstellung von ihnen auseinandersetzen.

Seit alters her werden "Glauben" und "Wissen" als Gegensatz gesehen. Dabei erscheint das "Glauben" dem "Wissen" gegenüber minderwertig: "Wissen ist mehr als Glauben" heißt es, und also ist es auch besser - so glauben wir wenigstens. Aber wissen wir es auch? Was man weiß, braucht man nicht zu glauben."Das ist ein anderer Satz, der noch einmal den Vorrang des Wissens vor dem Glauben ausdrückt. Hier erscheint" Wissen " wie eine Entlastung von der Anstrengung, etwas, das man eben nicht weiß oder wissen kann, glauben zu müssen. Wissen, so scheint es, ist eine Erleichterung: es nimmt mir die Bürde der Ungewissheit. Glauben dagegen scheint eine Anstrengung zu sein - denn beim Glauben muss ich ein Stück Ungewissheit immer ertragen.

So oder doch so ähnlich verstehen wir im ganz alltäglichen Sprachgebrauch die Worte "Wissen" und "Glauben" - und die Wertung ist eindeutig: Wer weiß, ist besser dran als der, der "nur" glaubt - so glauben wir zu wissen.

Glaube scheint also durch Wissen ersetzbar zu sein. Wo das Wissen wächst, scheint sich der Glaube zurückziehen zu müssen.

Wie Sie gemerkt haben, habe ich den Begriff "Glauben" bis jetzt im schlichten Sinne des "Für-Wahr-Haltens" einer Sache gebraucht.

Bevor ich zur religiösen Bedeutungen des Wortes Glauben komme, lassen Sie mich zunächst bei dieser ganz schlichten Bedeutung des Für-Wahr-Haltens bleiben.

Denn auch dieses Glauben gewinnt in der Wissensgesellschaft vielleicht eine neue Bedeutung.

II."Wissensgesellschaft" ist eines von diesen modischen Etiketten, die von Zeit zu Zeit erfunden werden, um den Zustand der Gesellschaft auf einen einprägsamen Begriff zu bringen. Manchmal sind diese Begriffe intuitiv jedermann plausibel, manchmal braucht man lange Erklärungen, um zu verstehen, was gemeint ist. Manchmal halten diese Begriffe über mehrere Jahre, manchmal tanzen sie nur einen Sommer.

Ich erinnere an die Risikogesellschaft, an die Spaßgesellschaft, an die Informationsgesellschaft, an die Bürgergesellschaft und an die Dienstleistungsgesellschaft.

All das waren oder sind wir oder sollen wir angeblich sein.

An diesen Begriffen ist immer etwas dran - immer beleuchten sie eine wesentliche Dimension der Gesellschaft. Manchmal könnte man aber genauso gut den Gegenbegriff wählen und hätte auch so eine wesentliche Dimension der Gesellschaft getroffen.

Ich will das am Beispiel der Wissensgesellschaft darzustellen versuchen. Das mag Ihnen zunächst wie ein kleiner Umweg zum eigentlichen Thema erscheinen. Mir scheint das aber einen guten Zugang zur Frage "Glauben in der Wissensgesellschaft" zu schaffen.

Ich möchte zu zeigen versuchen, wie mit der Wissensgesellschaft quasi zwangsläufig eine Unwissensgesellschaft entsteht. Wir sind deshalb gerade in der Wissensgesellschaft auf sonderbare Weisemehrauf Glauben angewiesen, als wir denken - oder glauben. Das hat gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Das hat aber auch Konsequenzen für den Glauben im strengeren, also im religiösen Sinn.

Aber der Reihe nach.

III. Dass mit dem Begriff "Wissensgesellschaft" eine zentrale Dimension der heutigen Gesellschaft getroffen ist, lässt sich im Ernst nicht bestreiten. Wissen ist und wird immer mehr zur zentralen Ressource für Fortschritt, ökonomischen Reichtum und damit Wohlstand. Insofern löst die "Wissensgesellschaft" die "Industriegesellschaft" ab.

Der Begriff Wissen bezeichnet aber auch das Ziel, nach dem wir streben: Wir erleben eine explosive Vermehrung des Wissens auf allen Gebieten und in allen Bereichen, ein Wissen, das den Eindruck erweckt, die sogenannten letzten Geheimnisse der Natur, der Schöpfung zu entschlüsseln und diese selber zu verändern.

Die Explosion des Wissens lässt sich am Beispiel des Internets gut beobachten. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel.

Wenn Sie in eine der großen Suchmaschinen im Internet den Begriff "Wissensgesellschaft" eingeben, meldet Ihr PC oder Laptop Ihnen 9.240 Treffer. Wenn Sie den Begriff "Glaube" eingeben, erhalten Sie über 355.000 Treffer. Wenn Sie beide Begriffe verknüpfen, also "Glaubes Wissensgesellschaft" eingeben, erhalten Sie immerhin noch 541 Treffer.

Seit diesen Minuten wird unter den beiden Begriffen auch die schriftliche Fassung dieser Rede, die Sie gerade hören, zu finden sein. Der Text wird genau um diese Zeit auf der Homepage des Bundespräsidenten freigeschaltet.

Ebenfalls wird die Rede live im Internet übertragen. Was ich Ihnen jetzt und hier vortrage, ist also gleichzeitig von jedem und jeder auf der Welt abrufbar, ob er oder sie in Wladiwostok wohnt oder in Chicago, ob in Kapstadt oder in Sao Paulo.

Die Angebotsfülle an Information, diese rasend schnell wachsende Möglichkeit, an Wissen zu gelangen, lässt uns von Wissensgesellschaft sprechen. Man hat den Eindruck: Das Wissen wächst jede Minute.

IV. Besser wäre zu sagen: Das abrufbare Wissen der Welt wächst jede Minute. Denn allein dadurch, dass es Wissen irgendwie und irgendwo gibt, werden noch keine Probleme gelöst. Manche entstehen dadurch erst.

Zwar gibt es einen unausdenkbar großen globalen Wissensvorrat, zwar schwirrt das Wissen der Welt in kleinen digitalen Datenpaketen auf den Bahnen des weltweiten Netzes rund um den Globus. Insofern ist das Internet eine fantastische Angelegenheit, die einen schnellen, wenig aufwendigen und demokratischen Zugang zum Wissen ermöglichen kann.

Aber die entscheidenden Fragen bleiben: Kommen wir tatsächlich an das Wissen, das wir jeweils brauchen? Und andersherum: Können wir das Wissen, das wir angeboten bekommen, wenn wir uns mit einer bestimmten Frage ins Netz gehen, überhaupt gebrauchen?

Nehmen wir an, jemand möchte sich im Internet über Paderborn informieren, weil er eine Reise unternehmen will und dort ein Hotel sucht. Ganz sicher wird ihm unter anderem diese Rede hier angeboten, die unter "Paderborner Podium" im Netz gespeichert sein wird, und in der im vorigen Satz das Wort Hotel vorkommt.

Nun kann es immer wieder vorkommen, dass man überraschend auf etwas Interessantes stößt, bei dem man dann hängen bleibt - aber in der Regel ist es doch höchst ärgerlich, wenn man auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem vieles angeboten bekommt, das man - zumindest im Moment - überhaupt nicht brauchen kann.

Deswegen gibt es inzwischen Begriffe wie "Datenmüll" oder "Informationsmüll". Es wird uns eine solche Fülle von Wissen angeboten, dass wir das meiste davon überhaupt nicht gebrauchen können.

Wie helfen sich die Menschen in dieser Situation? Wie schlagen sie Schneisen in den Wissensdschungel, der so wuchert, dass Wege durch ihn nahezu unbegehbar geworden sind?

Ich sehe drei Möglichkeiten.

V. Die erste lautet: Gegen Wissen hilft nur Bildung. Bildung bedeutet in Zukunft mehr denn je, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können. Je besser man das kann, um so leichter findet man Orientierung im Ozean des Wissens. Bildung wird in Zukunft mehr denn je heißen: Mit den Zumutungen an Wissensmöglichkeiten vernünftig umgehen zu können.

Je größer der Vorrat, je größer die Auswahl an Wissen, um so wichtiger ist Bildung, eine Bildung der Vernunft und des Charakters, die Orientierung möglich macht. Bildung von Vernunft und Charakter schafft auch Maßstäbe für das, was ich überhaupt wissen will - und worauf ich gerne verzichte. Es scheint, als ob die erste der berühmten drei Fragen Kants: "Was kann ich wissen" ? heute eher lauten müsste: "Was soll ich, was will ich überhaupt wissen?"

Dazu aber brauchen wir Orientierung und Wertsetzung, die vom Wissen allein nicht kommen kann.

VI. Jedes Wissen, jede Information ist ja eine Aufforderung, sich so oder so dazu zu verhalten. Auf die Kantische Frage: "Was kann ich wissen?" folgt ja die zweite: "Was soll ich tun?". Jedes Stück Wissen, das uns angeboten wird und das wir aufnehmen, ist zumindest eine Aufforderung, einenSinndarin zu sehen - es sei denn, es handelt sich bloß um zusammenhangloses Faktenwissen, das man beim Quiz gebrauchen kann.

Wir fühlen uns herausgefordert, in allem, was wir erfahren, einen sinnvollen Zusammenhang zu entdecken oder herzustellen. Täglich aber wird uns ein Wissen angeboten, mit dem wir in vielen Fällen wenig anfangen können, zu dem wir uns in den meisten Fällen kaum verhalten können.

Eine Form der Reaktion darauf ist es, das Wissen insgesamt zu ignorieren oder als vollkommen gleichgültig anzunehmen.

Viele sind vom Wissensansturm überfordert, vor allem von der Notwendigkeit, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen. Viele suchen deshalb vielleicht geradezu nach Erlösung - ich benutze dieses Wort bewusst - von der ständigen Zumutung, immer neu Sinn zu finden.

Ich glaube, dass genau hier eine wichtige Ursache liegt für die allgemein zu beobachtende Banalisierung, für die fast lustvolle Freude an der Sinnlosigkeit oder der Banalität.

Damit kein Missverständnis entsteht: Wer mich kennt, weiß, dass ich niemandem die Freude und auch nicht den Spaß ausreden will, auch nicht den Spaß am Unsinn.

Was wir aber gegenwärtig erleben, erscheint mir wie ein Ausweichen vor der Zumutung, im Leben sinnvolle Zusammenhänge zu entdecken. Bestimmte Angebote der Unterhaltungsindustrie signalisieren von vornherein absolute Sinnlosigkeit und werden gerade deshalb begeistert begrüßt.

Auch in sogenannten intellektuellen Kreisen gibt es eine Lust an dieser Art von entschiedenem Sinnverzicht. Gegen das Überangebot an Wissen - und damit die Überforderung an Sinnproduktion - retten viele sich in Ignoranz oder in Banalität.

Der Medien- und Literaturtheoretiker Jochen Hörisch spricht in diesem Zusammenhang von der "medialen Erlösung der Spaßgesellschaft". Er sieht es als Gipfel der Emanzipationsgeschichte an, dass wir nun auch die "Emanzipation von der Kategorie Sinn" erreicht haben."Ein Bier zu trinken und eine belanglose Talkshow zu gucken", so Hörisch, sei "vielleicht der weitestgehende Punkt von Erlösung, den der Mensch erreichen kann".

Wenn die Wissensüberproduktion in der Wissensgesellschaft auf diese Weise die Frage nach dem Sinn verabschiedet und das gar als "Erlösung" erfahren wird, dann ist das für unser Thema "Glauben in der Wissensgesellschaft" natürlich von größter Bedeutung.

Glaube ist nicht denkbar ohne Sinn, Glaube ist nicht denkbar ohne Ernsthaftigkeit, ohne entschiedenes Engagement. GlaubeundVernunft sind das Gegenteil von "anything goes".

Lassen Sie mich eine dritte Form dessen beschreiben, wie viele mit dem überreichen Wissensangebot der Wissensgesellschaft umgehen.

VII. Ich sehe sie verknüpft mit einer neuen Bedeutung von Autorität, von Vertrauen - und auch von Glauben in der Gesellschaft.

Wer die Sehnsucht nach dem Banalen und Sinnfreien nicht teilt, wer noch sinnvoll unterscheiden möchte zwischen Wissenswertem und nicht Wissenswertem - worauf kann sich der verlassen?

Wir sind alle auf Vermittler des Wissens angewiesen, die für uns filtern und auswerten, was wir eventuell wissen sollten.

Unsere Aufgabe ist es zu entscheiden, wem wir glauben, dass er der richtige oder wichtigste Wissensvermittler für uns ist.

Hier spielen nach wie vor das Fernsehen und die Zeitungen die Hauptrollen. Was in diesen Medien an erster Stelle gemeldet wird oder die Schlagzeilen bestimmt, das halten die meisten für am wichtigsten und damit für besonders wissenswert.

Die schiere Unmöglichkeit, selber nachprüfen zu können, ob das stimmt, was gesagt und gezeigt wird, verlangt von uns Medienkonsumenten vor allem die Haltung des Glaubens. Wir müssen für wahr halten, was uns als Wahrheit angeboten wird.

Das heißt nicht, dass wir überwiegend Falschinformationen ausgeliefert wären. Was in den Medien berichtet wird, trifft in den meisten Fällen zu. Die deutschen Medien gehören - im internationalen Vergleich - zu den besten und verlässlichsten der Welt. Dennoch sind wir der Auswahl und den Gewichtungen, die dort vorgenommen werden, ausgeliefert. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Erst sieht es wochenlang so aus, als seien die steigenden Benzinpreise das einzig interessante Thema auf der Welt. Sogar regelrechte "Wut-Kampagnen" werden ausgelöst. Dann fallen die Preise und steigen wieder und das merkt der geneigte Kunde erst beim Tanken - in dicken Schlagzeilen kommt das nicht vor.

Wir müssen begreifen, dass hier ein strukturelles Problem vorliegt. Die Medien müssen auswählen und gewichten - dafür brauchen wir sie ja gerade. Sie müssen das, was unser Wissen werden soll, auswählen, vorstrukturieren, formulieren.

Bei allem Bewusstsein dafür, dass jede durch Medien vermittelte Realität letztlich konstruiert ist, müssen wir aber darauf vertrauen können, dass sorgfältig, gewissenhaft und kritisch berichtet wird. Wir müssen glauben, dass uns Wesentliches nicht vorenthalten wird. Wirklich nachprüfen und wissen können wir das nicht.

So gewinnen bestimmte Medien, bestimmte Sendungen oder bestimmte Medienpersönlichkeiten Autorität, weil wir sie für besonders kompetent und glaubwürdig halten. Die allermeisten Menschen haben am 9. November 1989 die Maueröffnung erst wirklich geglaubt, als der unvergessene Hanns-Joachim Friedrichs sie in den "Tagesthemen" mit der ganzen Autorität, die er in WestundOst genoss, bekannt gegeben hat.

Die Wissensgesellschaft fördert nicht unbedingt das Ziel der Aufklärung: Wissen allein macht uns nicht per se fähig,"uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen". Wir sind auf Autorität, auf Glaubwürdigkeit, auf Glauben und auf Vertrauen angewiesen.

Wenn wir nicht ganz zu säkularen Gläubigen in der universalen Medienkirche werden wollen, müssen wir noch einen anderen Orientierungsmaßstab haben. Ein aufgeklärter, eigenständiger Umgang mit den Informations- und Wissensangeboten, mit den Sinnerklärungen oder den Sinnvernichtungen braucht Orientierungswissen. Der Begriff ist nicht ganz glücklich, weil er die Vermutung nähren könnte, auch Orientierung entstehe ausschließlich durch Wissen.

Zur Orientierung gehört aber mehr - und anderes. Zur Orientierung gehören Bindungen an Menschen und Ideen, dazu gehören Erfahrungen und Reflexion, Überzeugung und Nachdenken, Werthaltungen und Wertentscheidungen.

VIII. Wie wichtig solches Orientierungswissen für kritisches Bewusstsein und aufgeklärtes Selberdenken ist, zeigt uns ganz besonders der Umgang mit der Wissenschaft - und der Umgang der Wissenschaft mit uns.

Das explosionsartige Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Welt ist wohl der wichtigste Grund dafür, heutzutage von einer Wissensgesellschaft zu sprechen. Die wissenschaftliche Erkenntnis wiederum setzt technologische Eingriffe unerhörten Ausmaßes in Gang.

Eine deutscher Online-Dienst wirbt für sich gerade mit dem Slogan: "Wissen ist machen". Das ist nicht nur ein schönes Wortspiel mit dem alten Wort von Bacon: "Wissen ist Macht", sondern auch eine präzise Zusammenfassung des heutigen Verständnisses von "Wissen" oder "Wissenschaft".

Was uns heute so selbstverständlich vorkommt, nämlich dass Wissen in erster Linie Grundlage für die technologische Veränderung der Welt ist, war es von Aristoteles bis Descartes nicht. Wissenschaft sollte in erster Linie der Erkenntnis des Seins und der Wahrheit dienen. Heute dient wissenschaftliche Forschung vor allem dem immer neuen praktischen Einsatz des Wissens. Naturerkenntnis bedeutet nicht nur Beherrschung, sondern Eingriff in die Natur. Weite Teile der sogenannten "scientific community" bilden wie noch nie zuvor eine Verheißungsgemeinschaft, die uns eine immer bessere Welt und eine optimierte Natur verspricht.

Und es gibt ja wirklich atemberaubende Fortschritte. Die zur Zeit beeindruckendsten Ergebnisse erzielt die Forschung in der Mikrobiologie und der Biotechnologie. Symbolisch steht dafür das Humangenomprojekt mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes.

Gerade hier zeigt sich aber eine weitere Ambivalenz der "Wissensgesellschaft". Wo das Internet noch den Eindruck erweckt, das gesamte Wissen der Welt stehe jedermann jederzeit zur Verfügung, da zeigen die Diskussionen um Patente zum Beispiel, dass das wirklich entscheidende Wissen, eben das Wissen, mit dem sich das meiste Geld machen lässt, nicht jedermann zur Verfügung steht. Es wird patentiert und privatisiert, damit es kapitalisiert werden kann. In sehr entscheidenden Punkten leben wir also in einer Wissensgesellschaft mit beschränktem Zugang.

Erst recht ambivalent wird die Wissensgesellschaft da, wo es schwer oder unmöglich wird, positive und gefährliche Folgen zu trennen. Wir wissen nicht, welche Folgen diese und jene Erkenntnis oder Entwicklung hat. Wo auf der einen Seite das Wissen immer größer und detailgenauer, immer mächtiger und grenzenloser wird, wird relativ dazu unser Unwissen immer größer.

Gerade in den biotechnologischen Wissenschaften werden Dinge behandelt, die uns alle angehen, die wir aber kaum verstehen oder von denen wir meist gar nichts wissen.

Von Zeit zu Zeit gibt es dann Meldungen von wissenschaftlichen Durchbrüchen zu Gunsten von mehr Gesundheit, eines längeren Lebens, der endgültigen Heilung von Krankheiten, die wir einfach glauben müssen.

Ich bezweifle nicht, dass tatsächlich immer wieder solche bedeutenden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte gemacht werden. In vielen Fällen stellen sie einen Segen dar. Mir macht es aber Sorge, dass außer den unmittelbar damit beschäftigten Experten kaum noch jemand in der Lage ist, zu beurteilen, was dort wirklich geschieht und welche Konsequenzen das für uns alle haben kann.

Wenn aber die Wissensgesellschaft in dieser Weise zu einer Unwissensgesellschaft führt, dann hat das Konsequenzen für unsere Vorstellung von Gesellschaft. Das Grundgesetz will eine demokratische Gesellschaft, eine Gesellschaft, deren Bürgerinnen und Bürger an dem entscheidenden Wissen teilhaben können und teilhaben. Nur dann kann man urteilen, entscheiden und abstimmen. Bevor überhaupt die Frage diskutiert werden kann, nach welchen Kriterien wir forschen und weiter wissenschaftlich arbeiten wollen, müssten wir überhaupt in der Lage sein, zu wissen, was vorgeht.

Darum brauchen wir mehr Transparenz, Platz für guten Wissenschaftsjournalismus, mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit, Enquete-Kommissionen in den Parlamenten, wir brauchen Technikfolgenabschätzung und vieles mehr. Wo immer das geht, muss Transparenz herrschen.

Inzwischen gibt es aber Stimmen, die bezweifeln, dass so etwas wie "public understanding", wie man das nennt, überhaupt erreichbar sei. Der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon, hat kürzlich erklärt, das fehlende Verstehen liege daran,"dass nicht verstanden werden kann, was nicht zu verstehen ist". Echtes "Verstehen" im Sinne kritischen Nachvollzugs eines Vorgedachten sei im Zeitalter extrem spezialisierter Wissenschaft nur in sehr eingeschränktem Sinne möglich.

Wenn das wirklich so ist, dann müssen wir uns dringend überlegen, was zu tun ist. Ich bin mir sicher: Eine sogenannte Wissensgesellschaft, die aus einem kleinen, aber mächtigen Teil wirklich Wissender und einem großen Teil Unwissender, aber Betroffener besteht, kann nicht die Gesellschaft sein, die wir wollen. Eine solche Art "Wissensgesellschaft", die den größten Teil von wirklicher Teilhabe ausschließt und sich damit letztlich demokratischer Kontrolle entzieht, entspräche nicht dem Menschenbild unseres Grundgesetzes.

Darum müssen wir prüfen, wie wissenschaftliche Kontrolle und Selbstkontrolle auch unter veränderten Bedingungen funktionieren können. Wie immer das organisiert werden wird: entscheidend wird es darauf ankommen, begründetes Vertrauen darin haben zu können, dass Wissenschaft und Forschung nicht nur leistungsfähig sind, sondern mit ihren Möglichkeiten verantwortlich umgeht.

IX. Paradox genug, aber selbst und gerade in der Wissensgesellschaft ist das Vertrauen also ein zentraler Wert. Seine Bedeutung scheint sogar noch zu wachsen. Deswegen ist eine Theorie des Vertrauens zum Beispiel inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil der Wirtschaftswissenschaften geworden. Unser Vertrauen verdient aber nur, wer glaubwürdig ist. Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind entscheidende Faktoren für die Wissens- und Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft von heute.

Der verständliche alte Kampf der Aufklärung: Wissen gegen Glauben, selbsterworbene Gewissheit gegenüber Überlieferung, Meinung, und Tradition stößt an Grenzen, die hinausgeschoben, aber nicht aufgehoben werden können.

Das Ziel, das Kant der Aufklärung gegeben hatte, nämlich "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", scheint durch Wissen allein nicht zu erreichen zu sein.

Mitten in der Wissensgesellschaft wird uns eine Menge Glauben abgefordert, wird uns zugemutet, Vertrauen zu entwickeln gegenüber Instanzen und Institutionen, gegenüber Wissen und Wissenschaftlern, gegenüber für sicher erklärten Erkenntnissen, gegenüber Medien und Politikern.

Es gibt den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, aber je mehr wir wissen, umso klarer sehen wir, dass dieser Gegensatz nicht absolut ist. Wir werden Glauben nie vollständig durch Wissen ersetzen können. Wir werden von der Zumutung, vertrauen zu müssen, glauben zu müssen, nie durch sicheres Wissen völlig entlastet werden können.

Die Frage lautet also: Wem können wir glauben? Wem - und was - sollen wir glauben?

Wenn wir mit dieser Frage beim engeren, beim religiösen Begriff des Glaubens angekommen sind, dann fragen wir nach dem möglichen Ort des Glaubens in der Wissensgesellschaft.

Der Glaube macht dem Wissen keine Konkurrenz. Er hat mit der ersten Kantischen Frage: "Was kann ich wissen?" nicht so viel zu tun, sehr viel aber mit der zweiten Frage: "Was soll ich tun?" und besonders viel mit der dritten: "Was darf ich hoffen?"

Zur Antwort auf die Frage: Was soll ich tun? kann das Wissen nur wenig beitragen. Wir haben gesehen, dass mit der Fülle des Wissens der Bedarf an Orientierung steigt. Aus dem Wissen allein können wir die Maßstäbe dafür nicht gewinnen, wie wir mit dem Wissen umgehen sollen, wie wir es einsetzen, wofür wir es nutzen sollen. Ethos kann nicht allein aus Wissen gewonnen werden.

Der Glaube, und ich spreche jetzt vom christlichen Glauben, kann und will von seiner Struktur her nicht nur eine "Weltanschauung" sein oder eine folgenlose Erzählung über Gott und die Welt. Der Glaube zielt immer auch auf die Frage, wie der Mensch leben soll. Der Glaube bewertet die menschlichen Handlungen, er unterscheidet zwischen Gut und Böse. Er entlarvt menschliche Hybris und Anmaßung. Der Glaube ist von seinem Wesen her Unterscheidung, auf griechisch: Kritik. Die "Unterscheidung der Geister", zu dem die Christen vom Apostel Paulus aufgerufen werden, ist tägliche Aufgabe.

Die wichtigste Unterscheidung, die der Glaube macht, ist die zwischen Mensch und Gott. Indem der Glaube von Gott spricht, weist er dem Menschen einen spezifischen Ort zu: eben auf der Erde und nicht im Himmel, als Geschöpf und nicht als Schöpfer. Der Glaube setzt den Menschen in einVerhältnis, er lässt ihn nicht das Maß aller Dinge sein.

Martin Luther formuliert im Kleinen Katechismus ganz knapp: "Wir sollen Menschen sein und nicht Gott. Das ist die Summe" - gemeint ist: die Summe der christlichen Lehre.

Diese unterscheidende Kraft, diese Kritik ist die Weise, in der sich der Glaube in der Wissensgesellschaft bemerkbar machen kann. Es gibt eine Menge zu unterscheiden: Mythos und Wahrheit, Illusion und Wirklichkeit, Segen und Fluch.

Das Orientierungswissen des Glaubens stammt aus alter Zeit. Wesentliche Fragestellungen der Gegenwart waren zu Zeiten des Evangeliums unbekannt, deswegen können wir dort auch nicht einfach Antworten nachschlagen.

Aber die Maßstäbe bleiben gültig. Davon bin ich überzeugt. Und sie können manchmal unbequem sein. Wir hatten uns angewöhnt, vom christlichen Abendland zu sprechen und vom christlichen Glauben als Grundlage unserer Kultur. Aus vielen Gründen ist das heute nicht mehr so leicht möglich. Bestimmte Entwicklungen der Moderne sind nicht einfach kompatibel mit Glaube und Religion. Glaube wird auf manchen Feldern eher entschiedene Kritik sein als metaphysische Überhöhung der Wirklichkeit.

Bestimmte Glaubensüberzeugungen wirken störend, wie ein Hindernis für Fortschritt und Wissen.

Dafür habe ich gerade erst ein bemerkenswert deutliches Beispiel gefunden. In einem langen Artikel in der FAZ hat der amerikanische Molekularbiologe James Watson, der als Mitentdecker der Doppelhelixstruktur des Erbgutes mit dem Nobelpreis geehrt wurde, christliche Glaubensüberzeugungen dezidiert angegriffen.

Hoffentlich auf mehr als eine Flasche Bier und eine Talkshow als säkulare Endform von Erlösung.

Glaube ist für unzählige Menschen natürlich viel mehr als Ethik. Er ist Trost und Hoffnung, Anleitung zu einer Kunst des Lebens, Hoffnung auf Erlösung. All das war heute nicht unser Thema. Aber es ist wahr, von den drei Fragen Kants ist die letzte wahrscheinlich für jeden von uns die wichtigste: Was darf ich hoffen?

Die ethischen Fragen, die Entscheidungen, vor die uns das Wissen stellt, werden wir nicht durch Wissen entscheiden können. Die Wissensgesellschaft kennt viele Antworten auf die Fragen "Was?" und "Woher?" und "Wie?". Auf die Frage "Warum?" und auf die Frage "Wozu?" kann sie allein keine Antwort geben.

Das wird auch nur dann gelingen, wenn der Glaube sich argumentativ verständlich machen kann und wenn Christen und andere Gläubige das Gespräch mit Menschen suchen, die sich um Wertorientierung jenseits technischer Möglichkeiten und wirtschaftlicher Nützlichkeit bemühen, obwohl oder weil sie keinem religiösen Glauben anhängen.

Es wird nicht leicht sein, die Wirklichkeit und den Anspruch des Glaubens in die Wissensgesellschaft einzubringen. Das wird nur gelingen, wenn auch denen, die nicht auf der Basis des Glaubens argumentieren, deutlich gemacht werden kann, dass alle Grundentscheidungen Wertentscheidungen sind, dass aber Wert und Sinn sich nicht auf Wissen allein gründen.

Ich habe den Text so ausführlich zitiert, weil man daran einen exemplarischen Grundkonflikt erkennt, der im Zuge kommender technischer Möglichkeiten immer wieder aufbrechen wird. Glauben in der Wissensgesellschaft wird keine konfliktfreie Affäre sein. Glaube wird immer kritisch fragen müssen, was mit welchem Wissen geschehen soll. Und er wird angegriffen werden, wenn er unterscheidet zwischen dem, was wir tun können und dem was wir tun sollen, wenn er auf der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch beharrt und wenn er Allwissens- und Allmachtsphantasien eine Absage erteilt.

Das sind deutliche Worte. Sie lassen die Rede von der "Wertfreiheit" der Wissenschaft ganz doppeldeutig erscheinen.

Der Autor äußert die Erwartung, die für ihn Hoffnung ist, dass angesichts der medizinischen Möglichkeiten des Wissens und der dadurch möglichen Vermeidung von Leid die anderen Stimmen, auch die des Glaubens,"sich mit ihren immer hohler klingenden moralischen Verkündigungen isolieren, bis man sie schließlich ignorieren wird." Soweit James Watson.

Watson weiß, dass nicht nur gläubige Christen einer solchen Bewertung des Lebens widersprechen müssen: Über die sagt er: "Diese Menschen glauben, dass erbkranke Föten die gleichen existentiellen Rechte haben wie jene, denen ein gesundes und produktives Leben gegeben ist. Solche Argumente sind allerdings nicht überzeugend für jene von uns, [...] die glauben, dass menschliches und anderes Leben nicht von Gott geschaffen wurde, sondern durch einen evolutionären Prozess entsteht, der den Darwinschen Prinzipien der natürlichen Auslese folgt."

Für Watson begründet sich das Recht auf Leben durch, wie er sagt,"soziale Verträge", die "Regeln sichern können, die Stabilität und Vorhersagbarkeit garantieren". Zwar gehöre auch das Tötungsverbot zu diesen Regeln, aber im Falle der Verhinderung eines genetisch behinderten Kindes müsse, so der Nobelpreisträger, die "Erleichterung darüber im Vordergrund stehen, dass niemand gezwungen wurde, ein Kind zu lieben und zu unterstützen, dessen Leben niemals Anlass zur Hoffnung auf Erfolge gegeben hätte."

Watson versucht Gründe dafür zu formulieren, dass vorgeburtlich erkannte genetische Defekte das Recht geben, eine Geburt zu verhindern. Im ganzen Artikel ist übrigens kein einziges Wort über die Heilungsschancen durch Gentechnik zu finden. Er beschäftigt sich nur mit der Frage, welches Wissen um welche Defekte zur Abtreibung berechtigt.