Redner(in): Johannes Rau
Datum: 19. Januar 2001

Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/01/20010119_Rede.html


lassen Sie sich bitte herzlich hier im Schloss Bellevue begrüßen. Ich freue mich darüber, dass wir das traditionelle Zusammentreffen des Wissenschaftsrates auch in diesem Jahr haben können und dass so viele von Ihnen haben kommen können.

Ein solches Treffen hat mehr Bedeutung als irgendeine Pflichtübung. Wir führen ein Gespräch zwischen Wissenschaft und Staat, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft über aktuelle Fragen unseres Wissenschaftssystems, und ich denke, das ist ein wichtiges Signal für den Bildungs- und für den Forschungsstandort Deutschland. Die Stimme des Wissenschaftsrates hat großes Gewicht; und auch, wenn Sie keine Entscheidungsmacht haben und Ihre Empfehlungen nicht binden, kommt Ihnen doch große Autorität zu. Ich selber weiß aus den Jahren, in denen ich in der Verwaltungskommission mitwirken konnte, dass Sie den politisch Verantwortlichen mit vielen Empfehlungen und Stellungnahmen zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung immer wieder Anstöße gegeben haben, die zum Glück oft auch Weg weisend gewesen sind. Wir werden darauf auch in Zukunft angewiesen sein.

Die Fragen von Bildung und Wissenschaft, von Lehre und Forschung scheinen wieder Konjunktur zu haben. Ich finde das gut. Wir sind mittendrin in einer gesellschaftlichen Reformdiskussion. Der Wille, unser Bildungs- und Wissenschaftssystem zu erneuern, ist überall gewachsen, weil auch die Einsicht gestiegen ist, dass Bildung, Wissenschaft und Forschung unser wichtigster Rohstoff sind. Die Politik muss dem Priorität geben. Die rasanten Entwicklungen in einer hochtechnisierten und vernetzten Welt verlangen zusätzliche Anstrengungen. Das muss sich auch noch in den öffentlichen Haushalten deutlicher als bisher niederschlagen.

Wenn die Bundesregierung die Zukunftsinvestitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung in den nächsten Jahren weiter verstärken will, dann scheint mir das ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Ich habe im vergangenen Jahr beim Ersten Kongress des Forum Bildung versucht, darauf hinzuweisen, dass die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Forschung heute geringer sind, als wir uns das in Deutschland leisten können. Denn Bildung, Wissenschaft und Forschung sind nicht nur der Motor für gesellschaftliche, für ökonomische und ökologische Erneuerung, auch die Lebenschancen der Einzelnen hängen davon ab, ob es uns gelingt, heute Wissen zu erschließen und zu vermitteln, das morgen gebraucht wird.

Das ist keine leichte Aufgabe. Wir hören viel über das ständig zunehmende Wissen, über die Flut von Informationen. Immer schneller scheint die Entwicklung vor allem in Wissenschaft und Forschung vorwärts zu stürmen. Fast täglich erweitert sich der Handlungsspielraum der Menschen. Oft lesen wir, dass wir in einer Zeit lebten, in der das Wissen so schnell wachse, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Manche sprechen auch von der Wissensgesellschaft. Da bin ich etwas skeptisch. Erstens, weil es viel Grundwissen gibt, das nicht alle fünf Jahre überholt ist, und zweitens, weil ich mir nicht nur eine Wissensgesellschaft wünsche, sondern auch eine Denkgemeinschaft. Das Wissen allein führt noch nicht zum Denken, zum Entscheiden und zum Handeln.

Ich habe manchmal die Sorge, dass die Flut der Informationen uns häufig den Blick auf die wesentlichen Sachverhalte verstellt und dass Informationsflut zur Desorientierung, zur Verweigerung oder zur Resignation führen kann. Darum müssen wir wohl dringender denn je Orientierungswissen lehren und lernen. Zu wissen, welches Wissen man braucht, das ist wahres Wissen.

Die Spezialisierung des Wissens macht uns zunehmend Schwierigkeiten. Auf nicht wenigen Gebieten von Wissenschaft und Forschung ist außer den unmittelbar damit befassten Experten kaum noch jemand in der Lage zu beurteilen, was da wirklich geschieht und welche Konsequenzen das für uns alle haben kann. Es wird aber immer wichtiger und immer schwieriger, wissenschaftlich-technische Entwicklungen vorausschauend beurteilen zu können. Das Problem stellt sich ganz dringend, weil in immer mehr Bereichen der Wissenschaft immer tiefergehende, gezielte Eingriffe in die Natur stattfinden. Die Entwicklung in der Biotechnologie ist uns allen vor Augen. Sie alle kennen die Stichworte: Die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die Entscheidung des britischen Parlaments vom Dezember über die Zulassung des Klonens von embryonalen Stammzellen für therapeutische Zwecke.

Ich will jetzt die Diskussion heute Abend darüber nicht vertiefen, weil das den Abend sprengen würde. Aber ich will doch darauf hinweisen, dass die Menschen in der Lage sein müssen, an der verantwortlichen und an der demokratischen Gestaltung unserer Gesellschaft auf Dauer mitzuwirken. Das heißt auch, dass die Wissenschaft sich ganz bewusst als Teil und nicht als Vormund der Gesellschaft verstehen muss. Francois Jacob, einer der Begründer der modernen Gentechnik, hat einmal über die Aufgaben des Wissenschaftlers gesagt: "Als erstes muss er sprechen und sich der Öffentlichkeit verständlich machen. Er muss seinen Zeitgenossen erklären, was er tut, was der Stand seiner Wissenschaft ist, was daran neu ist, was davon zu erwarten ist." Jacob wird dann viel schärfer bei Fragen des Eingriffes in die Keimbahn.

Ich glaube, wir sind darauf angewiesen, dass es Personen und Institutionen gibt, die vorhandenes Wissen und entstehendes Wissen fachkundig sichten, einordnen und bewerten. Wir brauchen völlige Transparenz, wir brauchen glaubwürdige Vermittler des Wissens, und wir müssen uns auf die verlassen können, die die Folgen wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen zuverlässig einschätzen. Und da möchte ich den ganzen Wissenschaftsrat und jedes einzelne Mitglied bitten, an dieser wichtigen Aufgabe wie bisher mitzuwirken.

Sie haben heute einen neuen Vorsitzenden gewählt. Das heißt gleichzeitig, dass Sie einen Vorsitzenden verabschiedet haben. Drei Jahre, Herr Professor Schulze, sind Sie Vorsitzender des Wissenschaftsrates gewesen. Das kann man historisch kaum einordnen. Jacob hat sieben Jahre gedient. Beim Wissenschaftsrat ist das alles viel komplizierter und viel schwieriger, denn die Aufgaben, die Sie haben im Wissenschaftsrat, um die Sie sich bemühen, um die innere Organisation der Hochschulen, die Leitungsstrukturen, die Qualität in Lehre und Forschung, die Evaluierung, die Sie betrieben haben, Leistungsanreize zu steigern, Zielvereinbarungen zu treffen, kürzere berufsqualifizierende Studiengänge, differenziertere Abschlüsse einzuführen, Wettbewerb und Kooperation zwischen den Hochschulen voran zu bringen: Ich finde, das ist eine ganz gewaltige Arbeit, hoffentlich keine Sisyphusarbeit, damit ich Camus nicht zitieren muss, sondern ich sage Ihnen ganz herzlichen Dank, Herr Professor Schulze, für die Art und Weise, wie Sie Wissenschaft auch immer öffentlich dargestellt und Wissenschaftspolitik mitbestimmt und mitgestaltet haben.

Ich wünsche uns einen Abend guter und sinnvoller Gespräche. Ich wünsche mir, dass wir mehr über die Inhalte von Bildung als über die Organisationsformen von Bildung sprechen. Auch wenn man das nicht gegeneinander stellen kann, glaube ich, Akzentverschiebungen wären doch gut und nützlich.

Ich danke Ihnen, dass Sie heute Abend hierher gekommen sind, und ich wünsche Herrn Einhäupl als dem neuen Vorsitzenden alles Gute. Ich gratuliere Ihnen von Herzen. Sie haben eine schwierige Aufgabe übernommen, für die ich Ihnen eine glückliche Hand wünsche.

Herzlich willkommen hier im Bellevue.