Redner(in): Roman Herzog
Datum: 6. Dezember 1994

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1994/12/19941206_Rede.html


Vielen Dank, Herr Präsident, für die freundlichen Worte, die Sie über mein Land und mich sowie über die deutsch-israelischen Beziehungen gefunden haben.

Israel ist das erste Land außerhalb Europas, das ich als deutscher Bundespräsident besuche. Ich tue dies im Bewußtsein der besonderen Bedeutung des deutsch-israelischen Verhältnisses und des hohen Stellenwertes, den dieses Verhältnis für mich persönlich hat. Meine Frau und ich freuen uns, hier zu sein und die Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Präsident, und mit einer so großen Zahl führender Persönlichkeiten Ihres Landes zusammenzutreffen.

Mit kaum einem anderen außeneuropäischen Land unterhält Deutschland in allen Bereichen so enge und vertrauensvolle Beziehungen wie mit Israel, und dies nicht erst seit kurzem, sondern seit Jahrzehnten. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, gestützt auf die einhellige Zustimmung der Bürger, hat Israel und die Israelis seit der Staatsgründung materiell wie ideell so unterstützt, wie es dem besonderen Charakter der Beziehungen entsprach. Deutschland hat sich in all diesen Jahren redlich bemüht, ein stetiger und verläßlicher Partner und Freund Israels zu sein. Daran wollen wir auch in Zukunft festhalten.

Der Blick in die Gegenwart und auf die guten Perspektiven für die weitere Vertiefung des bilateralen Verhältnisses in der Zukunft ist jedoch nicht möglich ohne Bewußtsein für das, was war und was ebenfalls ein bestimmendes Merkmal unserer bilateralen Beziehungen bleiben wird.

Nach langen Epochen fruchtbarer deutsch-jüdischer Symbiose haben Deutsche den Juden unermeßliches Leid zugefügt. Auch das vereinigte Deutschland, das vereinte deutsche Volk, wird aus dieser Erfahrung die Lehren für die Zukunft ziehen. Das ist ein wesentlicher Teil unseres inneren Einigungsprozesses.

Wir Deutsche sind uns darüber im klaren, daß kein Mantel des Vergessens über den Holocaust gebreitet werden kann und daß jegliche Forderung nach einem "Schlußstrich" unter das Geschehene sich angesichts der historischen Dimension dieses Verbrechens verbietet. Im Gegenteil: Uns Deutschen obliegt die Aufgabe, die Erinnerung an das düsterste Kapitel unserer Geschichte wachzuhalten und den nachwachsenden Generationen vor Augen zu führen, wozu Deutsche fähig waren, und wozu Menschen imstande sein können.

Ich sage das nicht, um der Kollektivschuld-These das Wort zu reden. Daran glaube ich nicht. Die große Mehrheit meiner Landsleute ist nach dem Untergang des Dritten Reiches geboren oder steckte in den letzten Jahren der Hitlerdiktatur noch in den Kinderschuhen. Diese Generation ist frei von individueller Schuld, aber sie ist nicht frei von der Verpflichtung, die Lehren aus dem Geschehenen zu ziehen.

Der Film "Schindlers Liste" hat den Holocaust der jungen Generation in meinem Land zum ersten Mal nicht als abstrakte Katastrophe, sondern als etwas dargestellt, was Menschen betrifft und was ihnen daher nicht gleichgültig sein kann, gestern nicht, heute nicht und auch nicht morgen. Es ist eine sozialpädagogische Aufgabe ersten Ranges, unser aller Geschichtsbewußtsein und gerade das der nachwachsenden Generation zu stärken, und ebenso auch die Überzeugung daß aus den Schrecken der Vergangenheit eine besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk und eine besondere Solidarität mit dem Staate Israel erwächst.

Deutschland gehört heute zum Kreis der gefestigten, erfolgreichen Demokratien. Nach Jahrzehnten willkürlicher, schmerzhafter Trennung haben die Menschen im Osten und Westen meines Vaterlandes wieder zueinander gefunden. Wir haben allen Grund, für die mannigfache Unterstützung beim Wiedervereinigungsprozeß dankbar zu sein.

Wir haben aber auch Verständnis für jene, die auf die unerwartete Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit Argwohn reagierten und den Teufel neuer Alleingänge des vereinten Deutschlands an die Wand malten. Fünf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind diese Stimmen weitgehend verstummt. Die Welt hat zur Kenntnis genommen, daß der Zuwachs an Wirtschaftskraft und Verantwortung nicht wieder einmal gleichbedeutend mit Größenwahn oder Machtgier geworden ist.

Auch das größere Deutschland ist fest im Westen verankert und denselben außenpolitischen Prinzipien verpflichtet, die schon vor der Vereinigung galten: vor allem Stärkung der Europäischen Union und der anderen europäischen Institutionen, Weiterentwicklung des Atlantischen Bündnisses, Unterstützung der Vereinten Nationen und des Bestrebens nach regionaler Integration, Sicherung des freien Welthandels, Förderung einer tragfähigen Entwicklung in den Ländern der südlichen Hemisphäre.

In der Außenpolitik finden auch der politische Wandel und die daraus für Deutschland erwachsenden Verpflichtungen ihren Niederschlag: So gehören die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union und deren Verantwortung für die Einbeziehung der Völker Ost- und Mitteleuropas, die stärkere Involvierung in friedenssichernde Maßnahmen der Vereinten Nationen und des Atlantischen Bündnisses und die Bekämpfung des grenzüberschreitenden Nuklearmaterialschmuggels heute ebenfalls zu den Prioritäten deutscher Außenpolitik.

Vieles ist noch im Fluß, und auch der Einigungsprozeß in Deutschland ist noch nicht abgeschlossen. Der Standort dieses neuen Deutschlands jedoch ist unumstritten: Es ist der Standort des Friedens und der Freiheit, der Verantwortung und der Solidarität in einer offenen Gesellschaft mündiger Bürger. Er manifestiert sich überdies in der historischen Verpflichtung, die Feinde unserer Demokratie mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen.

Wir sind uns bewußt, daß gerade in Israel rechtsextremistische Ausschreitungen in Deutschland mit großer Besorgnis verfolgt werden. Wir verstehen diese Besorgnis sehr gut und nehmen sie ernst. Es ist auch unsere Besorgnis.

Doch dürfen die schrecklichen Vorfälle den Blick auf folgendes nicht verstellen: Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr das Deutschland der 20er, 30er oder 40er Jahre. Sie ist eine stabile Demokratie, eingebettet in die westliche Staatenwelt und den westlichen Werten verpflichtet, und dies seit jetzt mehr als 40 Jahren. Unsere Jugend unterscheidet sich in ihrer überwältigenden Mehrheit kaum von der Jugend in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Frankreich oder auch in Israel. Ich wünschte, daß dies im Auge behalten wird - bei aller berechtigten Kritik an den Taten einer letztlich verschwindend kleinen Gruppe unverbesserlicher und unbelehrbarer Radikaler, die aber besteht.

Die Bekämpfung des Radikalismus und Rassismus überall dort, wo er sein Haupt erhebt, ist eine nationale und eine globale Aufgabe. Wir Deutsche werden unseren Teil dazu beitragen und extremistische Taten offensiv und mit allen zulässigen Mitteln bekämpfen.

Mit besonderer Freude und Sympathie verfolgen wir in Deutschland den politischen Fortschritt im Nahen Osten, der erstmals seit der Gründung des Staates Israel für alle Völker der Region die konkrete Perspektive auf einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden und auf eine gedeihliche Entwicklung eröffnet. Unsere Hochachtung gilt dem Mut und der Weitsicht der Politiker, die diese Entwicklung ermöglichen und die sich auch durch Rückschläge und Gegenkräfte nicht von dem einmal eingeschlagenen Verständigungskurs abbringen lassen.

Es kommt nicht von ungefähr, daß es israelische Politiker sind, die Visionen haben, die heute völlig neue Ideen und Konzeptionen entwickeln. Heute erscheinen länderübergreifende Kooperationsprojekte wie gemeinsame Stromverbundsysteme oder Wasserwege noch utopisch. Und doch sind sie beim Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen - wie Frieden und Interessenausgleich - vorstellbar und machbar. Gleiches gilt für die Schlußfolgerungen des ebenfalls auf israelische Anregungen zurückgehenden Wirtschaftsgipfels von Casablanca, der die Perspektive auf Handel und Wandel ohne Diskriminierungen und Beschränkungen und auf einen großen gemeinsamen Wirtschaftsraum eröffnete.

Nie zuvor war gerechter und dauerhafter Frieden in diesem Teil der Welt so greifbar. Nie zuvor konnten aber auch weltweit Problemkonstellationen binnen kurzer Zeit beseitigt werden, die vorher als unerschütterlich und festgefügt galten: der Ost-West-Gegensatz und die menschenverachtende Apartheid in Südafrika, um nur diese beiden Beispiele zu nennen.

Die Welt ist in einem Wandel begriffen, dessen Tragweite sich nur in Umrissen abzeichnet: Suche nach neuen Formen internationaler Zusammenarbeit zur Friedenssicherung, Entstehung neuer regionenübergreifender Wirtschaftsstrukturen in Asien und Amerika, Neugestaltung Europas und nun auch Hoffnung auf Versöhnung und Frieden im Nahen Osten.

Deutschland hat im Rahmen seiner Möglichkeiten immer versucht, diesen Friedensprozeß, aber auch die Entwicklung des Staates Israel, durch ein wachsendes Maß an Zusammenarbeit zu begleiten. Zwischen zahlreichen Institutionen unserer beiden Länder besteht heute eine enge Partnerschaft. Die Kontakte zwischen achtzig deutschen Städten und Landkreisen und sechzig Partnern auf israelischer Seite, ein reger Jugendaustausch mit über zwei Millionen Begegnungen seit 1965, vielfältige Kontakte zwischen Kulturschaffenden, Gewerkschaftern und Wissenschaftlern haben ein dichtes Netz der Zusammenarbeit geschaffen. Eine Vielzahl gemeinsamer Forschungsprojekte knüpft an die Tradition der engen Symbiose deutsch-jüdischen Forschergeistes an. Der wirtschaftliche Austausch zwischen beiden Ländern ist im stetigen Wachstum begriffen.

Dieses dichte Geflecht von Bindungen und Verbindungen ist nicht verordnet worden, sondern es ist aus freien Stücken entstanden. Es wäre nicht möglich gewesen ohne den unermüdlichen Einsatz von Menschen guten Willens, die über die Kluft der schrecklichen Vergangenheit hinweg und allen Vorbehalten zum Trotz den Weg des Miteinanders gewählt haben. Ihnen schulden wir besonders großen Dank. In diesen Dank beziehe ich ganz besonders die israelisch-deutschen und deutsch-israelischen Gesellschaften mit ein.

Das beispielhafte Engagement und Aufeinanderzugehen von Menschen in beiden Ländern läßt mich auf eine gute und verheißungsvolle Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen hoffen.

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in diesem Sinne das Glas zu erheben und auf das Wohl des Präsidenten des Staates Israel, Herrn Ezer Weizman, und Frau Weizman und auf die enge, vertrauensvolle und freundschaftliche Verbundenheit des Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland sowie auf eine glückliche Zukunft des israelischen Volkes anzustoßen.