Redner(in): Johannes Rau
Datum: 25. Januar 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/01/20010125_Rede.html


Ich habe mich sehr gefreut über die Einladung zu Ihrer Betriebsversammlung im Werk Görlitz von Bombardier Transportation. Als ich die Einladung Ihres Betriebsrates hier nach Görlitz bekommen habe, habe ich keine Sekunde gezögert. Dafür gibt es mindestens fünf gute Gründe:

Ich bin gekommen, weil mir Termine in den neuen Ländern immer besonders wichtig sind, weil es hier um einen Industriebetrieb geht, der modern ist und leistungsfähig, weil hier ein ausländischer Investor bedeutendes Engagement zeigt, weil dieses Unternehmen ein Beispiel dafür gibt, wie Betriebsrat, Unternehmensleitung, Gewerkschaft und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam erfolgreich die Zukunft eines Unternehmens gestalten können und ich bin gekommen, weil es um ein Unternehmen geht, das in einem zukunftsträchtigen Bereich arbeitet. Der Schienenverkehr ist ökologisch die erste Wahl und deshalb muß er auch ökonomisch attraktiv sein oder gemacht werden.

II. Ich weiß, dass Görlitz nach 10 Jahren harter und schmerzhafter wirtschaftlicher Veränderungen heute noch immer in einer sehr schwierigen Lage ist. Das gilt auch für viele andere Regionen in den neuen Ländern.

Der Bundestagspräsident hat vor kurzem sehr deutlich auf die Probleme hingewiesen.

Das ist richtig. Der Bundestagspräsident hat in der anschließenden Diskussion aber auch die unbestreitbaren Erfolge beim Aufbau Ost anerkannt.

Wir sollten tatsächlich nicht vergessen, was wir in zehn Jahren Deutscher Einheit gemeinsam geschafft haben, in gemeinsamer Anstrengung aller: Das Pro-Kopf-Einkommen und die Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft haben sich in dieser Zeit verdoppelt. Die verfügbaren Nettoeinkommen in den neuen Ländern liegen heute bei 90 Prozent des Westniveaus. Eine halbe Millionen neue Unternehmen wurde gegründet. Die Umweltqualität ist erheblich besser als früher: die Luft ist reiner und das Wasser ist sauberer. Die Wohnqualität hat erheblich zugenommen und die Ausstattung der privaten Haushalte mit hochwertigen und langlebigen Konsumgütern ist im Osten und Westen unseres Landes praktisch gleich gut.

Innerhalb von zehn Jahren haben wir in den neuen Ländern aus einer maroden wirtschaftlichen Struktur, die vor dem Konkurs stand, die Grundlagen für eine moderne, international wettbewerbsfähige Wirtschaft geschaffen.

Es ist aber auch eine Tatsache, dass viele geglaubt oder glauben gemacht haben, wir würden das schneller schaffen. Gewiss haben Staat und Treuhandgesellschaft beim Aufbau in den neuen Ländern Fehler gemacht. Das lässt sich gar nicht bestreiten. Es stimmt auch, dass Hilfen für die neuen Länder öfter in westdeutschen Taschen gelandet sind, als das wirtschaftlich nötig und im Interesse der Zusammengehörigkeit in Deutschland richtig war.

Auch bei der Überführung von 10 000 Staatsbetrieben in private Hand sind Fehler gemacht und Arbeitsplätze unnötig vernichtet worden. Mancher Fehler hätte sich gewiss vermeiden lassen und hätte besser vermieden werden sollen. Jedem von Ihnen fällt da vermutlich mehr als ein Beispiel ein. Aber es nutzt nichts, verpassten Chancen in der Vergangenheit nachzutrauern. Wir müssen die heutigen Chancen nutzen und die Zukunft gestalten.

Das entscheidende Problem war und ist die viel zu hohe Arbeitslosigkeit. Eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 17,2 Prozent in den neuen Ländern ist nicht hinnehmbar.

Wir dürfen uns von statistischen Durchschnittswerten aber auch nicht täuschen lassen. Die Wirklichkeit auch in den neuen Ländern - genau wie in den alten Ländern - ist viel differenzierter.

Sie reicht im Osten von Arbeitslosenquoten von 13 Prozent in Suhl bis 21,9 Prozent in Neubrandenburg, und sie reicht im Westen von 2,6 in Freising bis 13,7 in Gelsenkirchen.

Damit will ich sagen:

Die neuen Länder sind keine Einheit, weder was die Lebensverhältnisse angeht, noch was die Wirtschaftsstrukturen angeht.

Die künstliche Gleichmacherei der statistischen Zahlen gibt die differenzierte Lebenswirklichkeit nicht wieder.

Das bedeutet aber auch: Wir brauchen künftig gleiche Förderinstrumente in vergleichbaren strukturschwachen Regionen im Westen und im Osten. Wir brauchen gezielte Förderung, die auf den bestehenden Strukturen aufbaut. Wir müssen den Aufbau Ost fortsetzen, aber zielgerichteter und differenzierter als bisher.

Um meinen Teil dazu beizutragen, dass Verständnis, Vertrauen und Zuversicht wachsen können, komme ich oft und gerne in die neuen Länder.

III. In den letzten Jahren haben wir alle viel von der sogenannten New Economy gehört, von Bits und Bytes, die uns die einzig mögliche Zukunft verheißen. Manchmal hatte man den Eindruck, dass eine ganz neue Wirtschaftswelt entstanden sei.

Wer wie Sie in der industriellen Produktion arbeitet, der konnte manchmal das Gefühl haben, er sei zweitklassig, seine Arbeit und seine Leistung seien von gestern und seien nichts mehr wert. Das ist ein großer Irrtum. Die Entwicklungen der letzten Monate zeigen das mehr als deutlich.

Natürlich ist das Geschäft mit dem Internet und das Geschäft im Internet ein Wirtschaftszweig mit wachsender Bedeutung. Wir müssen uns bemühen, hier mit an der Weltspitze zu stehen.

Das Internet verändert das Wirtschaften in vieler Hinsicht und nicht nur an der Oberfläche. Aber das Internet ersetzt doch nicht die Produktion von Gütern. Diese Produktion findet auch in Zukunft nicht im virtuellen Raum statt, sondern zum Beispiel hier bei Ihnen in Görlitz.

Die Stärke unserer Wirtschaft lag immer in den industriellen Kernbereichen - im Maschinenbau, in der chemischen Industrie und im Fahrzeugbau. Diese Stärke müssen wir unter veränderten Bedingungen bewahren. Diese Industriezweige haben eine große Vergangenheit und noch eine bedeutende Zukunft. Davon bin ich fest überzeugt.

Die industrielle Produktion ist nicht altmodisch oder veraltet. Wer das glaubt, der sollte einmal hierher kommen. Er wird sich sehr schnell vom Gegenteil überzeugen können, von einem modernen und leistungsfähigen Betrieb mit motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Viele Produktionsverfahren und die Organisation des industriellen Produktionsprozesses haben sich ja gerade durch den Einsatz moderner Technik verändert. Was Sie alle hier in diesem Werk tun, das hat Zukunft: Sie bauen mit modernen Produktionsmethoden Fahrzeuge, die notwendig und wichtig sind für das Industrieland Bundesrepublik Deutschland und für Kunden in anderen Ländern.

Ich habe gehört, dass Sie unter anderem nach Israel liefern. Ich hoffe, dass Sie noch viele weitere Kunden aus dem In- und Ausland dazugewinnen werden. Das ist gut für Sie, die Beschäftigten, das ist gut für die Gewinne des Unternehmens. Das ist aber auch wichtig für Sachsen und alle neuen Länder, weil es deutlich macht: Qualifizierte Arbeitsplätze und unternehmerische Erfolge sind in den neuen Ländern möglich.

IV. Exporterfolge sind nur die eine Seite. Die andere Seite ist die Frage nach der künftigen Verkehrspolitik in unserem eigenen Land. Die Fakten liegen doch klar auf dem Tisch: Mit der Osterweiterung wird Deutschland noch mehr als bisher zu einem Transitland werden. Die Gütermengen und der Personenverkehr werden stark zunehmen. Teile unseres Straßennetzes sind schon heute überlastet. Umweltpolitisch sind die notwendigen und vereinbarten CO2 -Minderungen ohne den Verkehrsträger Schiene nicht zu erreichen.

Dazu kommt, dass mehr als 500.000 Arbeitsplätze in Deutschland vom Verkehrsträger Schiene abhängen. Daraus müssen wir die notwendige Konsequenz ziehen: Die Benachteiligung der Schiene gegenüber der Straße muß abgebaut werden. Darum brauchen wir in erster Linie eine faire Kostenberechnung für die Verkehrsträger Schiene und Straße.

Ein Blick in andere Länder zeigt, dass es große Potentiale für die Bahn gibt. So finden bei uns nur sieben Prozent des Personenverkehrs über die Bahn statt, in der Schweiz sind es 17 Prozent, in Japan sogar 32 Prozent. Bei uns läuft 20 Prozent des Güterverkehrs über die Schiene, in der Schweiz sind es 28 Prozent.

Ich will damit weder Autos noch Lastwagen verteufeln. Die brauchen wir. Aber wir brauchen vor allem die sinnvolle Vernetzung aller Verkehrsträger und eine integrierte Verkehrspolitik. Dann ist mir um die Zukunft des Schienenfahrzeugbaus in unserem Land nicht bange. Die Osterweiterung der Europäischen Union sollte dazu einen zusätzlichen Impuls geben.

Ich weiß, die Osterweiterung auch auf Vorbehalte trifft. Ich weiß, dass es Sorgen und Ängste gibt. Da ist die Rede von Lohn- und Sozialdumping, von Billig-Importen und der Verlagerung von Produktionszweigen und ganzen Unternehmen nach Osten.

Das darf niemand mit leichter Hand beiseite schieben. Aber ich erinnere daran, dass es solche Diskussionen auch schon bei der Süderweiterung der Europäischen Union vor 15 Jahren gab. Heute spricht darüber niemand mehr. Aus gutem Grund, denn alle Staaten haben von der Erweiterung profitiert.

Für das Gelingen der anstehenden Osterweiterung gibt es aber eine wichtige Voraussetzung: Die Sozialstandards, die Umweltstandards und die steuerlichen Standards in der Europäischen Union müssen stärker angeglichen werden. Der gemeinsame Markt braucht einen gemeinsamen Rahmen.

Wenn uns das gelingt und wenn wir mit der integrierten Verkehrspolitik in unserem Land Ernst machen, dann sehe ich auch für den Waggonbau in Deutschland eine gute Zukunft.

V. Weltweit gibt es drei große Anbieter von Schienenfahrzeugen. Das sind Bombardier ( Kanada ) , Alsthom ( Frankreich ) und Siemens.

Ich freue mich darüber, dass die Firma Bombardier Transportation hier in den neuen Ländern investiert hat und den Waggonbau Görlitz und seine Beschäftigten in eine erfolgreiche Zukunft bringen will.

Dem Management von Bombardier möchte ich sagen: Mit Ihrem Engagement haben Sie eine gute Wahl getroffen - aber das wissen Sie natürlich.

An der Leistungsfähigkeit und an der Leistungsbereitschaft der Menschen, die hier leben und arbeiten, wird kein Projekt scheitern. Sie müssen nur eine faire Chance bekommen.

Eine Bitte habe ich aber an das Management: Sprechen Sie nicht nur leise und im kleinen Kreis über ihre guten Erfahrungen. Tun Sie das auch laut und bei vielen Gelegenheiten, auch in Kanada.

Dann können wir für die neuen Länder noch mehr Investoren aus dem Ausland gewinnen. Diese Investitionen brauchen wir dringend für den Aufbau hier in Görlitz und in vielen anderen Städten und Gemeinden.

VI. Die Art und Weise, wie die notwendigen Umstrukturierungen hier im Werk Görlitz gemeinsam von der Unternehmensleitung, vom Betriebsrat, von der IG Metall und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geplant und vollzogen worden sind, ist beispielhaft. Dafür möchte ich ausdrücklich allen danken, die dazu beigetragen haben.

Es war ein hartes Stück Arbeit, aber das Ergebnis ist diese Arbeit wert. Es kann sich wahrlich sehen lassen. Das kann wohl niemand besser ermessen als Sie alle, die heute zur Betriebsversammlung gekommen sind.

Weil der Erfolg nur gemeinsam möglich war, möchte ich an dieser Stelle auch eine Lanze brechen für die Arbeit der Betriebsräte in den Unternehmen und für die Arbeit der Gewerkschaften.

Das alte Vorurteil, Betriebsräte hemmten nur und Gewerkschaften bremsten, ist einfach falsch. Sie sind im Interesse der Arbeitsnehmer genauso am Bestand und am Erfolg eines Unternehmens interessiert wie die Eigentümer. Sie sorgen dafür, dass neben den berechtigten Interessen der Eigentümer auch den berechtigten Interessen der Arbeitnehmer Geltung verschafft wird. Und sie bringen unschätzbare Erfahrungen und unverzichtbares Wissen mit.

Das ist übrigens ein Beispiel aus der Industrie, von dem viele neue IT-Unternehmen lernen können und lernen sollten.

VII. Diese jungen IT-Unternehmen können noch etwas von der Industrie lernen: Nämlich über die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung.

Die Green Card ist sicher ein Mittel, um kurzfristig wichtige Arbeitsplätze zu besetzen. Aber sie kann und darf nicht die einzige Lösung sein. Solange es noch mehr als drei Millionen Arbeitslose gibt, muss das drittgrößte Industrieland der Welt in der Lage sein, die Arbeitskräfte für den eigenen Bedarf in erster Linie selber auszubilden.

Da wurden in der Vergangenheit im Bildungssystem und in der Aus- und Weiterbildung ganz offensichtlich erhebliche Fehler begangen. Daraus müssen Staat und Wirtschaft die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Ich habe mich sehr gefreut, als ich gehört habe, dass hier im Werk Görlitz 49 junge Frauen und Männer eine Ausbildung bekommen und damit auch eine Perspektive über das Berufliche hinaus.

Ich wünschte mir von allen Unternehmen hier in den neuen Ländern - und auch in den alten Ländern - , dass sie noch einmal genau prüfen, ob sie nicht den einen oder anderen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen können. Sie erwiesen unserer Gesellschaft einen großen Dienst. Sie tun das aber auch im wohlverstandenen eigenen Interesse.

Es ist ja kein Ausweis vorausschauenden unternehmerischen Handelns, wenn gestern zu wenig ausgebildet wurde und heute der Mangel an Fachkräften beklagt wird. Bezahlte Arbeit macht in unserer Gesellschaft einen wesentlichen Teil des Selbstwertgefühls aus. Es stimmt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber ohne Brot kann er nicht leben. Und für den Broterwerb schafft eine gute Ausbildung die Grundlage.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass eine Generation heranwächst, für die Arbeitslosigkeit zur Normalität und Hoffnungslosigkeit zur Perspektive wird.

Dann entstünde ein Klima, in dem nur politische Rattenfänger Zulauf finden. Dagegen können und müssen wir gemeinsam etwas tun.

VII. Ich weiß, dass auch in der Region Görlitz die große Mehrheit der Menschen über den Rechtsextremismus besorgt ist. Auch bei Ihnen hier im Werk wird darüber gewiss viel gesprochen. Das ist gut und richtig.

Viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern sind über die Jahrzehnte nach Deutschland gekommen. Sie suchen bei uns Zuflucht oder eine neue Heimat - freiwillig oder notgedrungen, manche für eine Zeit des Übergangs, viele aber auf Dauer.

Das ist eine Tatsache, mit der wir umgehen müssen. Wir müssen noch stärker als bisher lernen, dass Integration nicht nur ein Wort ist, sondern ein Auftrag, wenn wir das Zusammenleben erfolgreich und friedlich gestalten wollen - und das müssen wir.

Das friedliche Zusammenleben ist in unser aller Interesse. Dazu gehört auch, dass wir die Sorgen und Ängste der Einheimischen Ernst nehmen. Aber Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass setzen eine Spirale der Gewalt in Gang, die wir nie und nimmer akzeptieren dürfen.

Da sind alle gefordert: In den Familien, in der Politik, in den Schulen, bei der Polizei, bei der Justiz und am Arbeitsplatz müssen wir uns menschenfeindlichen Tendenzen entgegen stellen.

Jeder kann und jeder sollte seinen Teil für ein friedliches Miteinander beitragen.

Ich wünsche Ihnen allen ein Gutes und ein erfolgreiches Jahr, für Sie und für ihre Familien.