Redner(in): Johannes Rau
Datum: 26. Januar 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/01/20010126_Rede.html
I. Wer bei der letzten freien Reichstagswahl 1932 gewählt hat, der ist heute 90 Jahre und älter. Der letzte Abgeordnete, der 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, Josef Felder, ist vor wenigen Wochen im Alter von 100 Jahren gestorben, und wir haben seiner hier gedacht. Wer heute vierzehn oder auch dreißig Jahre alt ist, für den kann die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ähnlich weit weg sein wie der Beginn des 20. Jahrhunderts, als es in Deutschland noch einen Kaiser gab.
Betrachten wir indes die Vergangenheit nicht allein mit einem Kalender, sondern mit dem Familienalbum in der Hand, dann verändert sich unsere Wahrnehmung. Die meisten Dreißigjährigen haben Eltern, die selber während des Dritten Reiches Kinder waren, und die Fünfzehnjährigen haben Großeltern, die im Dritten Reich jung oder junge Erwachsene waren. In vielen Ländern der Welt leben Menschen, zu deren Familiengeschichte die Bedrohung und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten gehören, die Erinnerung an Deportation, an Konzentrationslager und an die Ermordung von Eltern und Großeltern, von Geschwistern, von Verwandten und Freunden.
Wir sind heute hier im Bundestag zusammengekommen, um ihrer zu gedenken, aller Opfer des Nationalsozialismus. Dazu gehören auch die Zwangs- und Sklavenarbeiter. Daraus haben wir erst spät, für viele Opfer zu spät, die nötigen Konsequenzen gezogen. Ich hoffe sehr, dass die ersten Zahlungen bald möglich werden.
Wenn wir in der eigenen Familie oder mit Freunden und Bekannten über ihre Erlebnisse und Erinnerungen sprechen können, dann rückt ihre Zeit der unseren näher. Wir wissen, dass das Bild von der Zeit des Nationalsozialismus bis heute entscheidend geprägt wird von Geschichten, die in den Familien erzählt werden. Das gilt für die Familien von Verfolgten genauso wie für die Familien von Tätern, von Mitläufern und Zuschauern. Diese "Familiengeschichten", aber auch das Interesse an Filmen über die Zeit des Nationalsozialismus, an Biographien und an Zeitzeugenberichten zeigen, dass dieser Teil unserer Geschichte immer noch in unserem Bewusstsein ist und uns beschäftigt. Davon zeugen auch die vielen lokalen und regionalen Gedenkstätten, die Ausstellungen und historischen Initiativen, für die ich dankbar bin.
Neben dem Interesse daran, etwas über die große Politik, aber auch über den Alltag zu erfahren, gibt es jedoch auch ein - allerdings nur selten offen ausgesprochenes - Unbehagen, ja einen Unwillen gegenüber dem, was als staatlich verordnetes Erinnern empfunden wird. Dieser Unwille richtet sich zum Teil gegen die Lehrer und die Schulen, die heute für das Empfinden vieler Schüler das Dritte Reich und den Holocaust eher zuviel als zu wenig behandeln. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass früher das Gegenteil beklagt wurde. Nach meinem Eindruck dürfen wir auch in dieser Frage nicht mehr von den Schulen erwarten, als sie leisten können.
Unbehagen und Unwille richten sich zum Teil auch gegen Erinnerungsstätten wie das geplante Holocaust-Mahnmal und gegen offizielle Gedenkveranstaltungen wie die heutige. Aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags des Kriegsendes habe ich vor sechs Jahren im Bundestag schon darauf hingewiesen, dass die Politik dieses Unbehagen und diesen Unwillen nicht ignorieren darf. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Gefühle von denen ausgebeutet werden, die auf Klitterung und Fälschung der Geschichte aus sind und die damit den Boden bereiten wollen für neue Ausgrenzung, für neuen Hass und dafür, dass bestimmten Menschen und bestimmten Gruppen von Menschen die Menschenwürde abgesprochen wird.
Wir müssen uns mit den Gründen für diesen Unwillen und dies Unbehagen auseinandersetzen. Wir kennen sie doch alle, aber wir sprechen zu wenig darüber. Wer kennt nicht den Verdacht, das öffentliche Erinnern sei eine besondere Form des Wohlverhaltens gegenüber dem Ausland? Wer hat noch nicht die Klage gehört, dass in den Schulen zuviel des Guten getan werde, so dass Schüler sich überfüttert fühlen? Wer ist noch nicht danach gefragt worden, warum das, was man doch längst wisse, ständig wiederholt werden müsse? Wer von uns ist nicht schon dem Missverständnis begegnet, dass Gedenkstätten und Gedenktage jeder neuen Generation ein Schuldgefühl vermitteln sollen? Nicht jeder, der so fragt, tut das in böser Absicht. Darum wäre es falsch, alle, die so fragen, pauschal in die rechtsextreme Ecke zu stellen und ihre Fragen vom Tisch zu wischen. Wir müssen Antworten geben. Das wird uns nur dann gelingen, wenn wir uns immer wieder des Sinns vergewissern, den Gedenkstätten und Gedenktage haben.
II. Wir erinnern uns ja nie ein- für allemal. Jeder von uns hat schon die Erfahrung gemacht, wie sich im Laufe eines Lebens die Deutung des Zurückliegenden weiterentwickelt und verändert. Das gilt auch für Völker und Nationen. Unsere Sicht der Vergangenheit ändert sich. Jede Generation muss sich mit der Geschichte des eigenen Landes neu auseinandersetzen. Dabei geht es nicht so sehr um neue Fakten oder neue Spuren. Die Bedeutung aber, die wir Fakten und historischen Ereignissen beimessen, kann sich mit der Zeit ändern, manchmal sogar entscheidend. Das ist, wie wir alle wissen, keine akademische Frage. Das Bild, das wir uns von der Vergangenheit machen, bestimmt unsere politische Gegenwart. Geschichtsbilder haben Wirkungsmacht für die Interpretation der Gegenwart und für die Gestaltung der Zukunft. Bei uns in Deutschland gilt das ganz besonders für die Geschichte des Dritten Reichs.
Wir erinnern uns an diese Zeit vor allem anderen der Opfer wegen. Darum haben wir seit einigen Jahren einen eigenen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, zu dem wir heute zusammen gekommen sind. Wir gedenken nicht um der Wirkung nach außen willen, sondern um unserer selbst willen. Wir erinnern uns an die Vergangenheit auch mit Blick auf die Zukunft. Wir vergewissern uns damit unserer Grundwerte und bekräftigen, dass wir an ihnen festhalten wollen.
III. Man braucht nie etwas über das Dritte Reich und seine Gewalttaten gehört zu haben, um zu wissen, dass man Menschen nicht verfolgt, misshandelt und totschlägt. Wir müssen sogar die Erfahrung machen, dass alles Wissen über den Nationalsozialismus rechtsextreme Gewalt und menschenfeindliche Gesinnung nicht verhindert. Es gibt Rechtsextremisten, die viel über das Dritte Reich wissen, mehr als manche andere. Aus Wissen allein entstehen weder persönliche Moral noch ethische Überzeugungen.
Die Erinnerung kann uns helfen zu verstehen. Sie kann uns zeigen, was geschieht, wenn die Würde des Menschen von Staats wegen außer Kraft gesetzt wird, wenn die Vernichtung der Würde des Menschen Ziel und Inhalt der Politik ist. Indem die Nationalsozialisten das Leben bestimmter Menschen oder Gruppen für lebensunwert erklärten, richteten sie sich gegen die Menschlichkeit selber.
Darum haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen an den Anfang der Verfassung gestellt. Das ist die Konsequenz, die sie aus der nationalsozialistischen Herrschaft gezogen haben. Das ist der Grundkonsens der Republik. Ethische Überzeugungen sind nie ein für allemal gesichert. Sie müssen gelernt, und vor allem müssen sie vorgelebt werden. Die Menschenwürde ist ja nicht erst dann in Gefahr, wenn Häuser angezündet und Menschen durch Straßen gehetzt werden.
IV. Am 27. Januar 1945 hat die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Wenige Monate später war Deutschland mit der bedingungslosen Kapitulation vom Nationalsozialismus befreit. Bis zum Schluss waren viele, vielleicht sogar die meisten Deutschen dem Regime treu geblieben - wegen der staatlichen Propaganda oder auch durch die gemeinsame Erfahrung des schrecklichen Bombenkriegs.
So hat es lange gedauert, bis wir erkannt haben, dass die militärische Niederlage wirklich auch die Befreiung und die Möglichkeit für einen neuen Anfang war. Erst allmählich haben wir zu würdigen verstanden, dass auch in der dunkelsten Zeit viele Deutsche nicht nur anders gedacht, sondern auch anders gehandelt haben. Wir haben gerade heute allen Anlass, dankbar an jene Deutsche zu erinnern, die sich in ihrer Achtung der Menschenwürde nicht haben beirren lassen.
Gewiss: es hat damals sehr viel weniger Widerstand und Hilfe für Verfolgte gegeben, als wir uns das im nachhinein wünschen. Es hat aber mehr gegeben, als wir lange gewusst haben. Es hat von Anfang an organisierten und individuellen Widerstand in Deutschland und unter den Deutschen im Exil gegeben. Dazu gehörten Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Es gab den christlichen Widerstand, es gab den Widerstand aus einer konservativen Haltung heraus; es gab, wenn auch spät, Widerstand aus der Wehrmacht; es gab den Widerstand von jungen Menschen wie den der "Weißen Rose". Es gab auch einen Mann wie Georg Elser, der für sich allein entschieden hat, Adolf Hitler zu bekämpfen.
Nicht weit von hier, in der Rosenthaler Straße, hatte Otto Weidt seine Blindenwerkstatt, in der er jüdische Mitbürger vor der Deportation bewahrt hat. Vor zwei Wochen ist im französischen Banyuls-sur-Mer, an der Grenze nach Spanien, ein Denkmal für die Emigranten Hans und Lisa Fittko eingeweiht worden, die vielen Menschen zur Flucht über die Pyrenäen verholfen haben. Sie gehören zu den Männern und Frauen, die zu Recht "stille Helden" genannt werden.
Die Erinnerung daran kann die Verbrechen nicht zudecken und nicht relativieren, die von Deutschen begangen worden sind - ich sage ausdrücklich: vonDeutschen, nicht vondenDeutschen, aber auch nicht "im deutschen Namen", wie oft gesagt wird. Die Erinnerung an Widerstand und gelebte Mitmenschlichkeit zeigt uns vielmehr, dass es selbst in der Diktatur die Möglichkeit gab, sich für Menschlichkeit und gegen Unmenschlichkeit zu entscheiden.
V. Wenn wir uns an diese Zeit erinnern, an deutsche Schuld damals und an unsere bleibende Verantwortung, dann nicht deshalb, weil wir Deutschen besonders anfällig wären für Rassismus und Antisemitismus. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns aber besonders, auf die geringsten Anzeichen von Antisemitismus, von Rassismus und von Angriffen auf die Würde des Menschen zu achten.
Jede Gewalttat ist schrecklich, von wem immer und warum immer sie begangen wird. Wenn hinter Gewalttaten gegen Behinderte, Obdachlose oder Fremde aber ausdrücklich nazistisches oder antisemitisches Denken steht, wenn nazistische Symbole oder Ausdrücke benutzt werden, dann alarmiert uns das zu Recht mehr als andere kriminelle Handlungen. Gewalttätiger Rechtsextremismus muss politisch und juristisch bekämpft werden. Jeder und jede muss sich auf unseren Straßen und Plätzen, in U-Bahn und Bus sicher fühlen können. Das ist eine Aufgabe, die uns alle angeht, in Ost und in West. Weil diese Aufgabe so wichtig ist, können wir weder Verharmlosung noch Hysterie gebrauchen. Gewalttätiger Extremismus existiert nicht nur am Rande unserer Gesellschaft, aber er ist Sache einer kleinen Minderheit. Er bedroht unsere Gesellschaft und unsere staatliche Ordnung nicht in ihrem Kern. Wir müssen uns aber intensiv mit ihm auseinandersetzen. Das gilt auch für seine geistigen Wegbereiter, seine Sympathisanten und seine Unterstützer.
VI. Wenn wir diese Auseinandersetzung erfolgreich führen wollen, dann dürfen wir keine falsche Vorstellung von dem haben, was der Nationalsozialismus war. Wer ihn verstehen will, der muss ihn auch begreifen als einen Teil der Geschichte der Moderne, der Geschichte der totalitären Utopien. Der Nationalsozialismus - auch ein Irrweg der Moderne: Das relativiert nichts, das nimmt nichts zurück von deutscher Schuld, das rührt nicht an den Zivilisationsbruch, für den Auschwitz steht.
Lange Zeit erschien uns das Dritte Reich als eine rückwärts gerichtete Epoche. Im Vordergrund unseres Bildes vom Nationalsozialismus standen die Parolen der Blut- und Bodenpropaganda oder der Germanenkult. Das war ein Fehler. Wenn wir den Nationalsozialismus nicht als Teil der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, ja, als Teil der Moderne begreifen, dann wirkt er wie ein kosmisches Ereignis, das über uns gekommen ist, an das wir uns mit Entsetzen erinnern, das aber mit unserer Welt nichts zu tun hat.
VII. Wir wissen aus der zeitgeschichtlichen Forschung über das Dritte Reich, dass viele gesellschaftliche Gruppen im damaligen Deutschland sehr bereitwillig den Nationalsozialismus unterstützt haben, weil er ihre besonderen Interessen aufgriff und zu bedienen verstand. Nicht zuletzt Akademiker und Wissenschaftler waren davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus auf der Höhe der Zeit sei. Das war kein Zufall. Von vielen politischen Bewegungen der Zeit unterschied er sich weniger in den Themen als in der Radikalität seiner Antworten und in seiner Bereitschaft, sie rücksichtslos in die Tat umzusetzen. Dabei spielten Wissenschaft und Forschung eine besondere Rolle. Lassen Sie mich dazu einige Bemerkungen machen.
Es waren Wissenschaftler, die mit ihren Theorien über Rasse, Eugenik und Selektion die NS-Ideologie vorbereitet und weiterentwickelt haben. Es waren Juristen, die die Rassenideologie in Paragraphenform gebracht und exekutiert haben. Es waren Historiker und Bevölkerungswissenschaftler, die die Ideologie vom sogenannten Lebensraum im Osten und die Pläne für die sogenannte Umvolkung entwickelt oder unterstützt haben. Es waren Ärzte, die Behinderte klassifiziert, an Zwillingen experimentiert und Kranke und Alte getötet haben. Ärzte und Wissenschaftler waren es auch, die Menschenexperimente in Konzentrationslagern durchgeführt haben, um der eigenen Karriere willen. All das geschah mit der Unterstützung traditionsreicher Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Ich bin froh darüber, dass auch die großen Wissenschaftsorganisationen sich nun mit ihrer Geschichte im Dritten Reich auseinandersetzen.
Die Wissenschaftler, von denen ich spreche, waren nicht in allen Fällen überzeugte Nazis. Sie waren Wissenschaftler ohne jede Selbstbeschränkung. Für sie war der Zivilisationsbruch das Tor zu neuen Möglichkeiten. Ein Historiker hat das einmal so zusammengefasst: "Den Bruch mit religiösen und ethischen Traditionen empfanden die Forscher... als Befreiung aus überkommenen moralischen Fesseln, als Chance zur Verwirklichung ihrer spezifischen Forschungsziele." * )Die biologistische Utopie des Nationalsozialismus konnte sich in vielem auf wissenschaftliche Forschung in vielen Ländern berufen. Sie war der Versuch, mit Hilfe modernster Wissenschaft und Technik ein rassistisches Menschenbild durchzusetzen und eine Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, die dem entsprach.
Die ersten Opfer der systematischen Selektions- und Vernichtungspolitik waren Behinderte. Sie werden oft vergessen. Inzwischen wissen wir, dass das Euthanasieprojekt personell, institutionell und methodisch ganz eng mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden verknüpft war. Viel zu lange haben wir nicht wahrgenommen und nicht anerkannt, dass auch Sinti und Roma Opfer rassistischer Verfolgung waren, weil sie nicht dem nationalsozialistischen Menschenbild entsprachen. Hier konnten sich die Nationalsozialisten auf weit verbreitete Vorurteile und Ressentiments stützen, die, wie der Antisemitismus, lange vor 1933 existierten. Wenn wir über die Opfer sprechen, dürfen wir auch die Homosexuellen nicht vergessen.
Vor wenigen Tagen habe ich bei Sebastian Haffner in seinen Erinnerungen den hellsichtigen Satz gelesen: "Ist erst einmal die grundsätzliche und immerwährende Mordbereitschaft gegen Mitmenschen geweckt, und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln." Und genau so kam es.
VIII. Der Nationalsozialismus bestand wahrlich nicht nur aus Wahnvorstellungen. Er konnte sich in vielen Punkten auf das stützen, was damals wissenschaftlich möglich schien - in der Medizin, in der Geschichtswissenschaft, in der Entwicklungsbiologie, in der Rechtswissenschaft und in vielen anderen Disziplinen mehr. Diesen wissenschaftlichen Positionen und der Ideologie des Nationalsozialismus war die Auffassung gemeinsam, dass die Menschen nicht nur unterschiedlich sind, sondern auch unterschiedlich viel wert, dass man sie in "lebenswerte" und "lebensunwerte" einteilen könne; dass es erlaubt sei, Menschen auszugrenzen und zu beseitigen; dass es erlaubt sei, Menschen zu züchten. Wissenschaft und Ideologie war die Überzeugung gemeinsam, dass man alles machen dürfe, was möglich ist - wenn es nur nützt: der eigenen Gruppe, dem eigenen Volk, der eigenen Rasse. Der Zweck heiligte jedes Mittel.
Die Erinnerung daran ist ein immerwährender Appell an alle Nachgeborenen, dass nichts über die Freiheit und die Würde des einzelnen Menschen gestellt werden darf. Sein Recht auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Achtung seiner Würde darf niemals zu Gunsten angeblich höherer Werte geopfert werden. Eine Ethik, die auf diesen Grundsätzen beruht, gibt es nicht umsonst. Wir müssen uns darüber klar sein, dass ethische Grundsätze einen Preis haben, wenn wir sie ernstnehmen.
IX."Die Würde des Menschen ist unantastbar". Wenn es uns damit ernst wird und ernst ist, dann werden wir manches nicht machen dürfen, was wir machen könnten. Fortschritt ist kein Selbstzweck und nicht automatisch ein Wert an sich. Angesichts der technischen Möglichkeiten ist es wichtiger denn je, dass wir uns darauf verständigen, was wir unter Fortschritt verstehen und welche Richtung wir dem Fortschritt geben wollen. Wir brauchen einen Fortschritt nach menschlichem Maß.
Was das bedeutet, muss von der Gesellschaft diskutiert und demokratisch verbindlich festgelegt werden. Wer das als Behinderung der Wissenschaft kritisiert oder solche Entscheidungen allein der Wissenschaft selber überlassen will, der verwechselt die Aufgaben von Wissenschaft und Politik. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung ist gebunden an die grundlegenden Werte unserer Verfassung. Das ist Auftrag für Politik und Wissenschaft.
Die Erinnerung an unsere Geschichte hilft uns zu begreifen, was geschieht, wenn Maßstäbe verrückt werden; wenn der Respekt vor der Würde jedes einzelnen verloren geht; wenn Menschen vom Subjekt zum Objekt gemacht werden.
Wir können soviel wie noch nie. Damit wächst auch die Gefahr, den Respekt zu verlieren: vor dem Leben, vor der Würde eines jeden Menschen, so wie er ist. Die neuen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten stellen uns auf vielen Feldern vor schwierige Entscheidungen. Richtig entscheiden können wir nur dann, wenn ein Satz, wenn ein Grundsatz über allem steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." ) Götz Aly: Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 91