Redner(in): Johannes Rau
Datum: 3. April 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/04/20010403_Rede.html
Banken tragen eine besondere Verantwortung, für die Wirtschaft und für die Gesellschaft. Von den Entscheidungen einer Bank hängen mehr als die eigenen Arbeitsplätze ab und der Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit ist nach wie vor die wichtigste gesellschaftspolitische Aufgabe.
Noch vor wenigen Jahren wurde den deutschen Kreditinstituten vorgeworfen, sie agierten zu konservativ und behinderten das Entstehen neuer, dynamischer Unternehmen. Heute spricht kaum noch jemand von mangelndem Risikokapital als Hürde für eine Unternehmensgründung. Das ist ein Fortschritt.
Als Teil der gesamten Wirtschaft sind die Banken aber auch immer abhängig von den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen. Das gilt nicht nur national, das gilt immer stärker auch global. Die Finanzwirtschaft ist von jeher die Branche mit dem höchsten Grad der Internationalisierung. Kapital ist der mobilste Produktionsfaktor. Die jüngste Globalisierungswelle stellt aber auch die Kreditwirtschaft vor ganz neue Herausforderungen. Die Globalisierung der Finanzmärkte und der rasche Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnik haben einen tiefgreifenden Strukturwandel im Bankgewerbe ausgelöst.
Nahezu allgegenwärtig sind die Diskussionen um Fusionen und Mega-Fusionen. Der Shareholder-Value ist in aller Munde und manche der unzähligen Finanzmagazine legen den Eindruck nah, wir Deutschen seien nicht nur ein Volk von Aktionären, sondern auch ein Volk von Spekulanten geworden. Allzu leicht gerät dabei die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Blick. Es stimmt, dass es mehr Aktionäre gibt als früher und das ist gut so. Ich bin dafür, die Aktienkultur in Deutschland zu fördern. Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, dass viele Menschen gar nicht die Möglichkeit haben, Aktionäre zu werden, weil sie ihr Geld für den laufenden Lebensunterhalt brauchen.
Das gilt übrigens auch für die organisierte Alterssicherung. Die Bundesbank hat in ihrem jüngsten Monatsbericht zu Recht darauf hingewiesen, dass es in Zukunft immer mehr darauf ankommen wird, ich zitiere,"gerade den unteren Einkommensgruppen zusätzliche Möglichkeiten einer privaten Altersvorsorge zu bieten, da deren eigene Sparfähigkeit begrenzt ist und das wirtschaftliche Eigeninteresse der Arbeitgeber am Angebot einer betrieblichen Altersversorgung in diesem Gehaltssegment eher gering sein dürfte."
II. Wir dürfen bei allen Diskussionen über die Globalisierung und die weltumspannenden Informations- und Transaktionsnetze diese Menschen nicht vergessen. Auch sie haben einen Anspruch darauf, dass die Banken ihnen Dienstleistungen anbieten und dass sie nicht erst dreißig Kilometer fahren müssen, um sich mit Bargeld zu versorgen.
Manches funktioniert ja inzwischen Online und viele Formulare kann man schon zu Hause aus dem Drucker "laufen" lassen. Beim Bargeld sollte man auf einen solchen Versuch aber lieber verzichten. Electronic Cash ist doch etwas anderes.
Über allen Megafusionen sollten wir auch nicht vergessen, dass das Rückgrat unserer Wirtschaft immer noch die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen und das Handwerk sind.
Hier sollte das Engagement aller Kreditinstitute nicht geringer sein als im Investment-Banking. Darum bin ich auch dafür, dass wir in Deutschland festhalten an den bewährten drei Säulen, die unsere Kreditwirtschaft tragen. Die kleinen und mittleren Unternehmen vor Ort brauchen Beratung und Unterstützung für eine erfolgreiche Zukunft. Ich bin fest davon überzeugt: Der Internet-Auftritt ist noch nicht erfunden, der das persönliche, vertrauensvolle Beratungsgespräch ersetzt. Nun habe ich in einer Veröffentlichung [BdB,"Banken 2000. Fakten, Meinungen, Perspektiven"] gelesen, Deutschland sei "nach wie vor ' overbanked '". Ins Deutsche übersetzt soll das wohl heißen: Mehr Zweigstellen und Niederlassungen schließen. Ich habe Zweifel, ob das auf längere Sicht der richtige Weg ist.
III. In der gleichen Veröffentlichung habe ich auch gelesen, der neue Markt werde mittlerweile auch im Ausland als Vorbild für den Börsenhandel mit Aktien junger Unternehmen gesehen. Diese Veröffentlichung ist mittlerweile zwei Jahre alt. Das war damals auf der Höhe der Zeit.
Nach zwei Jahren ist auch auf dem neuen Markt einige Ernüchterung eingetreten. Viele Probleme alter Unternehmen sind auch zu den Problemen junger Unternehmen geworden. Die Ökonomie muss doch nicht neu erfunden werden. Die Reaktion der jungen Unternehmen unterscheidet sich nicht von der Reaktion alter Unternehmen: Entlassungen und Unternehmensschließungen. Das führt dazu, dass sich Beschäftigte in diesen neuen Wirtschaftszweigen auf einmal auch für Gewerkschaften und Betriebsräte interessieren. Das hat damit zu tun, dass nur ganz wenige Menschen glauben, sie seien so flexibel, dass sie auf jede Sicherheit verzichten können.
Ich habe ihrem Programm entnommen, dass sie sich morgen intensiv mit dem Thema "Electronic Commerce" beschäftigen werden. Das ist ein spannendes Thema, ein Thema mit Zukunft. Dabei geht es mir auch hier nicht nur um die Beziehungen zwischen den Unternehmen, sondern auch um die Beziehungen zwischen Unternehmen und privaten Kunden. Aber der elektronische Handel wirft wichtige Fragen auf, die bislang nur unzureichend beantwortet worden sind. Da geht es
Die großen ökonomischen Chancen, die das Internet und der elektronische Handel bieten, dürfen nicht dazu führen, dass rechtsfreie Räume entstehen, die zum Missbrauch einladen. Das wäre falsch verstandene wirtschaftliche Freiheit; eine Freiheit, die die Basis unserer Wirtschaft auf lange Sicht zerstören würde. Freiheit und Wohlstand sind keine virtuellen Güter und sie sind uns nicht einfach in den Schoß gefallen!
IV. Alle die Verantwortung tragen in der Politik, in der Old Economy, in der New Economy und in den Gewerkschaften sind sich einig: Unser Bildungs- und Ausbildungssystem ist reformbedürftig. Wer im Zeitalter der Globalisierung bestehen will, der muss mehr und intelligenter in Köpfe investieren, als wir das bislang getan haben.
Bei der Verleihung des Körber-Preises in Hamburg vor zwei Jahren ( am 7. September 1999 ) hat Sir Ralf Dahrendorf einen bemerkenswerten Satz gesagt: "In der Wissensgesellschaft gibt es auf einmal mehr Analphabeten als seit Jahrzehnten." Ich fürchte, dass er Recht hat, auch wenn ich gegenüber dem Begriff der "Wissensgesellschaft" eher skeptisch bin. Wir können uns ein solches modernes Analphabetentum nicht leisten.
Nicht erst seit Einführung der Green-Card wissen wir: Die weiterhin viel zu hohe Arbeitslosigkeit ändert nichts daran, dass in einigen Wirtschaftsbereichen Fachleute, besonders qualifiziert ausgebildete Arbeitnehmer fehlen. Ich glaube, dass Bildung eine - ja die - Schlüsselrolle für unsere Zukunft spielen wird. Die Lebenschancen jedes Einzelnen und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes hängen entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, heute das Wissen zu erschließen und zu vermitteln, das morgen gebraucht wird.
Unsere Antwort auf dieses Problem muss zunächst und vor allem anderen lauten:
Wir brauchen mehr Spitzenleistungen, aber eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn sie sich nur um diejenigen kümmert, die Spitzenleistungen bringen können. Darum müssen wir all jene besonders fördern, die sich mit dem Lernen und Begreifen schwerer tun als andere. Ein Blick in die Statistik zeigt eindrucksvoll den individuellen und den gesellschaftlichen Nutzen einer guten Bildung und Ausbildung:
Jede dieser Zahlen muss uns aufrütteln. Jede macht uns deutlich: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher: Aus Verantwortung für unsere Jugend und aus Verantwortung für unsere Gesellschaft. Wer heute zu wenig in die Bildung investiert, der wird morgen mehr für Sozialleistungen ausgeben müssen. Das würde Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen belasten.
Es sind aber nicht nur Fachleute in der Informations- und Kommunikationstechnik und in vielen Betrieben des produzierenden und verarbeitenden Gewerbes, die uns fehlen. Nach meinem Eindruck droht auch der volkswirtschaftliche Sachverstand zu einem knappen Gut zu werden. An den Universitäten werden die volkswirtschaftliche Lehrstühle zugunsten der Betriebswirtschaftslehre zurückgedrängt. Von ihrer Sorge darüber haben mir vor Kurzem hochkarätige Volkswirte berichtet, die in wirtschaftspolitischen Fragen ganz unterschiedlicher Meinung sind. Auch Kaufleute und Betriebswirte brauchen solide volkswirtschaftliche Kenntnisse, damit der Blick auf die Welt nicht zu eng wird. Die einzelbetriebliche Sicht kann niemals die Sicht auf das Ganze ersetzen. Wenn man sich nur Gedanken über steuerliche Optimierung und über betriebsinternes Controlling macht, dann geht auch die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft verloren.
Der Zusammenhang von Wirtschafts- , Gesellschafts- und Sozialpolitik ist aber für ein funktionierendes Staatswesen von grundlegender Bedeutung. In unserem Grundgesetz heißt es ja ganz bewusst, dass das private Eigentum auch dem Gemeinwohl dienen soll. Unternehmerische Freiheit und soziale Verantwortung gehören in der sozialen Marktwirtschaft untrennbar zusammen.
Schon heute übernehmen viele Unternehmen jenseits ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Verantwortung für das Gemeinwesen. Dafür möchte ich diesen Unternehmen danken. Mein besonderer Dank gilt den privaten Banken, den Genossenschaftsbanken und den Sparkassen, die sich schon seit langer Zeit bundesweit, regional oder lokal für kulturelle und soziale Ziele engagieren. Sie erwerben sich große Verdienste um unsere Gesellschaft!
Das ist auch der Grund dafür, dass ich die Schirmherrschaft übernommen habe über die Initiative "Freiheit und Verantwortung", die von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft ( BDI, BDA, DIHT, ZDH ) und der Wirtschaftswoche getragen wird. Ich würde mich darüber freuen, wenn sich noch mehr Unternehmen auf diese Weise am gesellschaftlichen Leben beteiligten.
V. Über alle notwendigen Reformen und Veränderungen im eigenen Land dürfen wir aber Europa nicht vergessen. Das geschieht leider noch immer viel zu oft.
Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland im Jahr 2000 hat Anlass zu großen Hoffnungen gegeben. Wir konnten Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verzeichnen. Die Meldungen der letzten Wochen über die Entwicklungen in den USA haben diese Hoffnungen deutlich gedämpft. Viele Wirtschaftsexperten haben ihre Wachstumsprognosen für Europa nach unten korrigiert. Auch Sie, der Bundesverband deutscher Banken, haben das getan. Wer mit seiner Prognose am besten liegt, das werden wir erst am Ende des Jahres wissen.
Eines macht der dämpfende Einfluss der amerikanischen Konjunktur in jedem Fall deutlich: Steuer- und sozialpolitische Reformen in einem Land noch nicht ausreichen, um in der globalisierten Weltwirtschaft einen eigenen Weg zu gehen. Es besteht gewiss kein Zweifel daran, dass wir den Reformprozess in Deutschland fortsetzen müssen, um international auf Dauer bestehen zu können. Das allein reicht aber nicht aus. Ich bin der festen Überzeugung, dass die potenzielle wirtschaftspolitische Kraft Europas weiter gestärkt werden muss, damit Europa in der wirtschaftlichen Welt mehr Gewicht erhält.
In den zurückliegenden Jahren haben die USA trotz der nahezu stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung in Europa über ein Jahrzehnt hohe Wachstumsraten erzielt. Europa kann das offensichtlich aus eigener Kraft noch nicht. Wir halten unseren Blick noch immer fest auf die amerikanische Notenbank und die Wall Street gerichtet und nicht auf die Europäische Zentralbank und die großen europäischen Börsen.
Die Emanzipation Europas auf den Weltmärkten war bisher nicht so erfolgreich, wie wir uns das gewünscht und erhofft haben. Die Vereinigten Staaten sind eine außerordentlich große Wirtschaftsmacht, aber Europa ist das, bei allen Unterschieden, von seinen Möglichkeiten her auch. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir Europäer nicht einmal selbst unserer wirtschaftlichen Kraft vertrauen. Nur: Wenn wir es nicht tun, wer soll es dann tun?
Die Europäische Union umfasst heute rund 375 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, europäische Produkte genießen weltweit einen guten Ruf, die europäischen Forschungslaboratorien liegen in vielen Bereichen weltweit in einer Spitzenposition, die Bildungs- und Ausbildungssysteme in Europa brauchen sich - trotz aller Kritik - hinter denen anderer Regionen nicht zu verstecken.
Ein gut Teil unserer Probleme liegt ganz offensichtlich in der nach wie vor bestehenden Uneinigkeit Europas in vielen Fragen, die einer Harmonisierung und Abstimmung in wirtschaftspolitisch wichtigen Fragen entgegenstehen. Die Europäische Union ist heute in vielem noch nicht einmal die Summe seiner Mitglieder. Europa ist noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Nach meinem Eindruck hat Europa bislang seine Rolle weder in der Weltwirtschaft noch in der Weltpolitik wirklich angenommen. Darum müssen wir dringend die europäische Zusammenarbeit vertiefen. Dazu gehört es auch, in vielen Bereichen europaweite Standards zu schaffen. Dazu gehören zum Beispiel die Umweltpolitik und die Sozialpolitik.
Wenn wir das schaffen, dann kann Europa auch selbstbewusst und erfolgreich seinen eigenen Weg gehen.
Für den 17. Deutschen Bankentag wünsche ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern interessante und spannende Diskussionen.