Redner(in): Johannes Rau
Datum: 4. April 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/04/20010404_Rede.html


Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordneten,

ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, ganz herzlich für die Einladung, heute vor diesem hohen Haus meine Gedanken über die künftige Gestalt Europas vorzutragen.

Europa wird für seine Bürger immer konkreter, immer greifbarer, weil es sie immer unmittelbarer betrifft. In 271 Tagen werden die Bürgerinnen und Bürger in zwölf europäischen Ländern eine einheitliche Währung in ihren Portemonnaies haben. Wir reisen frei in Europa, vom Nordkap bis Gibraltar. Aber fühlen wir uns auch als Europäer?

Ich empfinde es so, wie das ein großer europäischer Journalist, der Italiener Luigi Barzini, einmal formuliert hat,"... dass wir trotz der unbestreitbaren großen Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Grunde alle Menschen eines Schlages sind...".

Wir haben einen reichen Vorrat gemeinsamer Traditionen: Darauf hat auch Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede vom September 1946 hingewiesen. Für ihn bestand das gemeinsame europäische Erbe aus dem christlichen Glauben und der christlichen Ethik, aus der Kultur, den Künsten, der Philosophie und der Wissenschaft vom Altertum bis zur Neuzeit.

Wir alle kennen auch ganz aktuelle Beispiele dafür, dass es gemeinsame Interessen Europas gibt. Zwingt nicht spätestens die Globalisierung uns Europäer dazu, uns bewusst zu werden,

Wir erleben heute, wie groß die Anziehungskraft der Europäischen Union auf viele Länder ist. Das hat gewiss ganz praktische Gründe, und es stimmt ja: Die Europäische Union mehrt den Nutzen aller ihrer Mitglieder. Aber sie ist eben mehr als eine bloße Zweckgemeinschaft. Europa - das ist eine bestimmte Vorstellung von menschlicher Existenz, vom Zusammenleben der Menschen. Darum bemühen wir uns immer wieder, die Freiheit des Einzelnen und seine Verantwortung für Gesellschaft und Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu bringen.

Auch die größten Visionäre der fünfziger Jahre hätten sich nicht träumen lassen, welche konkrete Gestalt die europäische Einigung annehmen, auf wie viele Bereiche sie sich erstrecken würde. Die Erfolge gemeinsamen Handelns sollten uns bestärken, uns zu neuen Zielen aufzumachen.

Selbstkritisch müssen wir aber feststellen, dass es neben breiter Zustimmung bei vielen Bürgerinnen und Bürgern auch Skepsis, ja Misstrauen bis hin zur Ablehnung des europäischen Einigungsprojektes gibt. Wichtig scheint mir, dass sich Zweifel und Kritik nicht so sehr gegen einzelne Schritte und ihre Auswirkungen richten. Den Allermeisten ist bewusst,

oder

Die Sorgen der Menschen in Europa haben doch mit der Antwort auf die Frage zu tun, wie der schwer durchschaubare Einigungsprozess organisiert wirdund welch geringen Einfluss sie darauf zu haben scheinen. Viele Bürgerinnen und Bürger fragen zu Recht:

Das sind keine akademischen Fragen. Das sind Fragen, die in allen Ländern Europas der Souverän, das Volk, stellt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass über all diese Fragen niemand anderes entscheiden darf als der Souverän in jeder unserer europäischen Demokratien, das Volk.

Nun höre ich manchmal, ein demokratischer Prozess im traditionellen Sinne sei in Europa schon deshalb nicht möglich, weil es kein einheitliches europäisches Staatsvolk gebe. Gewiss gibt es heute kein europäisches Staatsvolk und keine europäische Öffentlichkeit in der Qualität, wie es sie in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt. Aber das sollte uns nicht hindern, die Grundsätze der Demokratie auf europäischer Ebene zu stärken.

Demokratie, recht verstanden, heißt ja auch nichts anderes, als dass Menschen, die zu einem bestimmten Zweck gemeinsam handeln wollen, sich dafür gemeinsame Regeln und Verfahren schaffen. Dem widerspricht durchaus nicht, dass diese Menschen im Übrigen ganz unterschiedliche Interessen haben und diese Unterschiede auch gewahrt wissen wollen.

Genau darum geht es in Europa: Bestimmte Ziele und Interessen wollen wir gemeinsam verfolgen und zugleich die Vielfalt der europäischen Länder und Nationen erhalten, die Grundlage und bereichernde Besonderheit der Europäischen Union sind. Daran wird und daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern.

Wir müssen also die Fragen beantworten:

Wie können wir die Europäische Union so organisieren, dass die Bürgerinnen und Bürger sich besser in ihr zurechtfinden?

Was müssen wir tun, damit die Entscheidungen der Europäischen Union auch auf europäischer Ebene breiter legitimiert sind?

Wie soll schließlich der organisatorische Rahmen aussehen?

Die Antwort darauf kann nach meiner festen Überzeugung nur lauten: Wir brauchen eine europäische Verfassung.

Die europäische Verfassung ist nicht der Schlussstein des europäischen Bauwerkes, sie muss zu seinem Fundament werden. Die europäische Verfassung sollte festlegen, dass Europa kein zentralistischer Superstaat wird, sondern dass wir eine "Föderation der Nationalstaaten" aufbauen.

Ich bin mir dessen bewusst, dass die Begriffe "Verfassung" und "Föderation" manchem in Europa suspekt erscheinen. Ist das aber nicht oft nur ein Streit um Begriffe? Ich bin zuversichtlich, dass wir uns über die Substanz dessen, was gemeint ist, leichter werden verständigen können als über diese Begriffe. Dann müssen wir aber über Inhalte diskutieren, statt über Begriffe zu streiten. Die europäische Verfassung muss das Ergebnis einer breiten Diskussion in allen Ländern sein.

In der Debatte gibt es skeptische und kritische Stimmen; es gibt viele gewichtige Einwände, die ich auch da ernst nehme, wo ich selber anderer Auffassung bin. Mit einigen möchte ich mich heute auseinander setzen, und ich möchte Ihnen erläutern, wie ich mir eine europäische Verfassung und den Weg dorthin vorstelle.

Jeder weitere Schritt im Einigungsprozess, so lautet ein häufig gegen eine Verfassung vorgetragenes Argument, sei ein weiterer Schritt hin zu einem europäischen "Superstaat" und zur Abschaffung der Nationalstaaten.

Wer aber, wie ich, für eine Föderation von Nationalstaaten eintritt, der will das ganze Gegenteil!

Wenn wir die EU als eine Föderation von Nationalstaaten wollen, dann verbessern wir die demokratische Legitimation für gemeinschaftliches Handeln und sichern zugleich den Nationalstaaten die Kompetenzen, die sie behalten wollen und sollen. Neue Zuständigkeiten können Europa nur dann übertragen werden, wenn alle Mitglieder der Förderation dem in einem transparenten und in einem demokratisch kontrollierten Verfahren zustimmen.

Erhaltenes zu bewahren, Unerwünschtes zu verhindern und offen zu bleiben für Neues - das ist die Grundidee einer Verfassung für eine Föderation der Nationalstaaten.

Darüber möchte ich gerne sprechen.

Niemand will die Nationalstaaten und ihre Souveränität beseitigen - im Gegenteil: Wir werden sie in all ihren Unterschieden noch lange brauchen, als Garanten der Vielfalt in Europa.

Föderation der Nationalstaaten, so lautet ein manchmal verdeckt, manchmal offen vorgetragenes Argument: Wird da Europa nicht in Wirklichkeit "à la Bundesrepublik Deutschland" buchstabiert?!

Wer genau hinschaut, der wird jedoch feststellen, dass die Idee einer Föderation aus ganz anderen Gründen Zustimmung findet: Die staatlichen Ordnungen unserer europäischen Länder sind historisch gewachsen, oder, anders formuliert: Sie sind unterschiedliche, aber gleichwertige demokratische Antworten auf bestimmte historische Entwicklungen. Und gerade weil die europäische Entwicklung nicht hin zu einem Einheitsstaat läuft und nicht laufen soll, müssen wir ein Ordnungsprinzip finden, das diesem Willen entspricht, unsere unterschiedlichen Traditionen wahrt und zugleich auf der Höhe der Zeit ist. Dieses Ordnungsprinzip ist die Föderation.

Eine Föderation ist dadurch charakterisiert, dass jeder Mitgliedsstaat über sein Verfassungsmodell und über seinen Staatsaufbau souverän entscheidet. So wenig ich möchte, dass über diese innere Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in Europa entschieden wird, so wenig will ich anderen vorschreiben, wie sie ihr eigenes Land organisieren. Was läge mir ferner, als etwa für das Königreich Dänemark, für die Hellenische Republik, für das Königreich Spanien oder eines Tages für die Republik Ungarn eine föderale Lösung zu propagieren, die sie nicht wollen! Eine Verfassung brauchen wir also gerade deshalb, weil wir keinen Einheitsstaat wollen.

Welche Funktion hat eine Verfassung für ein politisches Gemeinwesen? Eine "Grammatik der Freiheit", und - gerade bei uns in Europa - auch eine "Grammatik der Solidarität". Mit ihr legt der Souverän - das Volk - fest, an welche Werte er sich bindet, in welchen Bereichen und an wen er Macht delegiert und wie er diese Macht organisieren und begrenzen will. Und schließlich regelt eine Verfassung die Frage, wer wofür zuständig ist. Damit ergeben sich die Elemente einer Verfassung für eine europäische Föderation der Nationalstaaten.

Sie sollte aus drei Abschnitten bestehen:

Den ersten Teil sollte die auf dem europäischen Gipfel von Nizza proklamierte Grundrechtscharta bilden. Sie soll das Handeln der europäischen Institutionen binden und die Mitgliedsstaaten, da, wo sie europäisches Recht umsetzen. Die Grundrechtskataloge der Mitgliedsstaaten und die Europäische Menschenrechtskonvention sind davon nicht berührt.

Der zweite Teil einer europäischen Verfassung muss die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten einerseits und der Europäischen Union andererseits mit der gebotenen Klarheit abgrenzen. Er bestimmt damit wesentlich das Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten und der Föderation.

Unser Bestreben sollte es dabei sein, das Prinzip der Subsidiarität breiter zu verankern: Auf europäischer Ebene sollte nur das entschieden werden, was in den Mitgliedsstaaten nicht besser erledigt werden kann. Das muss die Richtschnur sein!

Alles, was in der Verfassung nicht ausdrücklich als europäische Zuständigkeit aufgeführt ist, bleibt also nationale Zuständigkeit. Um der Furcht vor einer schleichenden Zentralisierung in Europa zu begegnen, halte ich auch einen weiteren Schritt für erwägenswert: die ausdrückliche Festlegung von Zuständigkeiten, die den Mitgliedsstaaten vorbehalten sind.

Ich möchte dafür nur zwei Beispiele nennen: Es muss den Mitgliedsstaaten möglich sein, auch im Rahmen einer europäischen Sozialpolitik eigene Wege bei der Alterssicherung zu gehen oder im Rahmen der Umweltpolitik bei der Förderung erneuerbarer Energien. Dabei weiß ich natürlich, dass selbst die perfekteste Kompetenzabgrenzung uns auch in Zukunft Konflikte nicht ersparen wird.

Mit Ministerpräsident Jean-Claude Juncker und vielen anderen Europäern bin ich mir darin einig, dass wir nicht festlegen sollten, was die EU nie wird machen dürfen. Die Verfassung muss die Möglichkeit vorsehen, dass Zuständigkeiten mit einstimmigem Beschluss der Föderationsmitglieder anders geregelt werden können.

Neben der Grundrechtscharta und der Regelung der Zuständigkeiten sollte die Verfassung in einem dritten Abschnitt das künftige institutionelle Gefüge Europas festlegen.

Ich hatte vom Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger gesprochen, die die Erfahrung machen oder das Gefühl haben, dass sie zu wenig Einfluss darauf haben, wie schnell, in welche Richtung und zu welchem Ziel der europäische Einigungszug fährt. Sie sehen demokratische Rechte verletzt. Darum müssen wir die Frage nach der demokratischen Legimitation Europas in den Mittelpunkt dieser Diskussion stellen.

Parlament und Ministerrat, so denke ich, sollten zu einem echten Zweikammer-Parlament ausgebaut werden.

Der Ministerrat sollte eine Staatenkammer werden, in der jeder Staat, vertreten durch seine Regierung, abstimmt. Diese Kammer wahrt die Souveränität der Nationalstaaten.

Das Europaparlament, Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, sollte zur Bürgerkammer werden. Beide Kammern sollten in allen Bereichen, in denen Recht gesetzt wird, gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden.

Viel Kritik an Europa macht sich an der Kommission fest: Manchmal zu Recht, häufig wird die Kommission aber auch nur zum Sündenbock gemacht. Und die Jagd auf Sündenböcke ist bekanntlich die beliebteste Jagdart überhaupt! Ich kenne die Neigung fast aller nationaler Regierungen, Entscheidungen, die sie auf europäischer Ebene selber getroffen haben, dannals Ausgeburt europäischer Regelungswut zu brandmarken, wenn es im eigenen Land Gegenwind gibt. Das ist Ihnen gewiss nicht unbekannt.

Das ändert aber nichts an der berechtigten Kritik, der Kommission mangele es angesichts ihrer Bedeutung an demokratischer Legitimation für ihre Arbeit. Das müssen wir ändern. Sie wissen, dass es dafür zwei Modelle gibt: die Wahl des Kommissionspräsidenten unmittelbar durch das Volk oder die Wahl des Kommissionspräsidenten durch die beiden Kammern des Parlaments.

Ich bevorzuge das parlamentarische Modell, bei dem die Kommission sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt. Aber ganz gleich, welcher Weg in einer Verfassung eingeschlagen wird: Ein so gestärktes Parlament mit zwei Kammern und eine Kommission, die demokratisch besser legitimiert ist, kann der europäischen Idee neue, entscheidende Impulse geben:

Die Bürgerinnen und Bürger Europas werden sich stärker für das interessieren, was in Brüssel, in Straßburg und in Luxemburg passiert, und sie werden sich auch dann stärker damit identifizieren, wenn sie mit einzelnen Entscheidungen nicht einverstanden sind.

Ein gestärktes Parlament würde, davon bin ich überzeugt, auch dazu beitragen, dass die Parteien nicht nur dem Namen nach europäisch sind, sondern sich auch so verhalten.

Die Reform der europäischen Institutionen würde auch dazu beitragen, dass eine breitere europäische Öffentlichkeit wächst. Die brauchen wir. Es gibt doch bereits jetzt Themen, die überall in Europa die Menschen bewegen: Denken wir an den Euro, seine innere Stabilität und seinen Außenwert, denken wir an den Frieden in unserer Nachbarschaft, an den Wunsch nach gesunden Lebensmitteln oder an die Regeln, nach denen Fußballspieler innerhalb Europas wechseln dürfen.

In der Verfassungsdiskussion müssen wir auch darauf achten, dass die Kommission weiter Anwalt des Gemeinschaftsinteresses bleibt. Dieser Anker des europäischen Einigungsprozesses, das Initiativrecht der Kommission, muss bleiben. Die Debatten der zurückliegenden Monate haben doch gezeigt, dass die intergouvernementale Methode an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gekommen ist. Und noch befinden wir uns im Europa der 15!

Wir alle wissen: In der Politik kommt es nicht nur auf die richtigen Ziele an, sondern auch darauf, wie man sie am besten erreicht. Wie soll also der Weg zu einer europäischen Verfassung aussehen, der "Prozess für die Zukunft Europas", wie er so zutreffend genannt wird?

Die Debatte über die Zukunft Europas sollte breiter als in einer Regierungskonferenz klassischen Typs geführt werden.

Als 1999 der Konvent zur Vorbereitung der europäischen Grundrechtscharta eingesetzt wurde, gab es viele Skeptiker. Sie werden mir gewiss zustimmen: Selten hat in den zurückliegenden Jahren ein europäisches Gremium so gut gearbeitet wie dieser Konvent. Ich halte das für vorbildlich.

Wir sollten daher über die Zukunft Europas in einem breit zusammengesetzten Gremium beraten, in dem neben Regierungsvertretern Abgeordnete der nationalen Parlamente und natürlich des Europäischen Parlaments eine wichtige Rolle spielen müssen. Dort sollten die nötigen Entscheidungen möglichst weitgehend vorbereitet werden.

Wir sollten alle Sorgfalt und alle Mühe darauf verwenden, dass die Debatte über die Zukunft Europas nicht nur in Expertenkreisen geführt wird. Wir müssen alle interessierte Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Mit meinem italienischen Kollegen, Präsident Azeglio Ciampi, und vielen anderen bin ich darin einig: Wir müssen in diese Debatte auch die Bürgerinnen und Bürger in den Beitrittsländern einbeziehen. Die künftige europäische Verfassung wird auch ihre Zukunftsordnung sein.

Meine Damen und Herren, nutzen Sie Ihre Rechte als frei gewählte Abgeordnete. Nutzen Sie Ihre Möglichkeiten, Europa voranzubringen. Sie haben mehr Einfluss, als Viele glauben. Tragen Sie dazu bei, dass Europa erlebbar wird für die Bürgerinnen und Bürger in unseren Ländern. Sie haben schon viel erreicht. Gehen Sie weiter auf diesem Weg. Mich haben Sie dabei an Ihrer Seite.